4.9.1995

Empfindlichkeit verharrt im Leidensdruck, während Sensibilität die Reflexion auf das Leiden anderer, auf den Imperativ, der von diesem Leiden ausgeht, in sich mit aufnimmt. Diese Sensibilität ist Resultat einer Befreiung, die in der Reflexion von Herrschaft anhebt. Das Bekenntnis gewinnt im Angesicht Gottes (durch Selbstbefreiung von der Bekenntnislogik) eine andere Qualität: Es wird zur Verkörperung des Geistes. Hatte nicht die griechische Kirche recht, als sie darauf beharrte, daß der Geist vom Vater ausgeht? Und war das filioque der lateinischen Kirche, in der Konsequenz der homousia, der zweite Sündenfall der Orthodoxie? Es sei denn, die imago des Sohnes wird als Verkörperung der Wahrnehmung des Leidens anderer: als Inbegriff der Sensibilität, begriffen. Das aber setzt die Auflösung der verdinglichten Gestalt der Wahrnehmung des Leidens anderer im Kruzifix, das die Sensibilität blockiert, von den „geringsten meiner Brüder“ ablenkt und die Leidenswahrnehmung ausblendet, voraus. Das Kruzifix instrumentalisiert diese Blockade, diese Ablenkung, dieses Ausblenden: es ist ein Instrument des Herrendenkens. Gewinnt vor dem Hintergrund dieser Konstellation und im Kontext der Einbindung des Christentums in die Herrschaftsgeschichte nicht 1 Kor 1527f (Denn alles hat er seinen Füßen unterworfen … Wenn ihm aber alles unterworfen sein wird, dann wird auch der Sohn selbst sich dem unterwerfen, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei) in Verbindung mit Ps 87 (… alles hast du ihm unter die Füße gelegt<: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels, die Fische des Meeres, was da die Pfade der Fluten durchzieht>) einen nachvollziehbaren Sinn: dann wird auch die hypostasierte „Trinität“ in eine Welt im Angesicht Gottes sich auflösen. Ist das Planetensystem das Instrument der Stabilisierung des Gewölbes, der Feste des Himmels? In einer Theorie des Feuers wäre zu klären, wie die Feuer im Namen des Himmels mit der Konstruktion der Verdrängungsmechanismen und ihrer Funktion im Kontext der Erkenntnis zusammenhängen. Himmel und Erde: Im Schöpfungsbericht „bringt“ die Erde die Pflanzen und Tiere „hervor“, der Mensch ist aus dem Lehm der Erde gemacht, während die Feste (die dann Himmel genannt wird) die oberen von den unteren Wassern trennt. Dafür gibt es die Sterne des Himmels, die Vögel des Himmels und die Himmelsheere. Gotteserkenntnis ist in seinem Kern politisch: sie schließt die Reflexion von Herrschaft (die der Gotteserkenntnis den Weg versperrt) mit ein. Gotteserkenntnis, wenn sie ihren imperativen Kern begreift, ist der Grund der Autonomie. „Mein Gott“: Die Bekenntnislogik hängt mit dem Geschwätz, und beide hängen mit dem Gottesgejohle zusammen. Das Bekenntnis rückt Gott in eine Possessivbeziehung zum Gläubigen (es ist das Gegenteil, der Widerpart, der Heiligung des Gottesnamens), das Geschwätz („mein Gott, was hast du denn da schon wieder angestellt?“) ist die Einübung dieser Possessivbeziehung und das Gottesgejohle die Drohung gegen jeden, der sich dem nicht anpaßt. Das „mein Gott“ ist das blasphemische Instrument der Vergesellschaftung des Herrendenkens durch Religion. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen (Mt 2746, Ps 222): Ist diese Verlassenheit nicht eine sprachlogische Folge des Possessivpronomens? Das Bekenntnis ist (bis hin zu den Skinheads) ein Ausdruck der Gottverlassenheit. Ist nicht das Bekenntnis der Greuel am heiligen Ort? Das deutsche Wort Besessenheit (griechisch: daimonizomenos, echontos pneumata akatharta) erinnert nicht zufällig an den Besitz. Besitz ist eine Reflexionskategorie: Man ist besessen von dem, was man besitzt. Drückt in der Besessenheit (im Namen der Dämonen, der unreinen Geister) nicht ein objektiver, in die Geschichte des Tauschprinzips fallender Sachverhalt sich aus: der Ursprung und die individuelle Verkörperung der Herrschaft der Reflexionsbegriffe, der Ursprung des Weltbegriffs? Dann aber wäre das Bekenntnis, das den Glauben zu einem Possessivum macht, die genaueste logische Form der Besessenheit. Steckt darin nicht die Lösung des Problems des Dämonenglaubens in den Evangelien (der kein Dämonenglauben war, den hat erst der Islam hervorgebracht) und der Gechichte von den sieben unreinen Geistern? NB: Mt 424 bringt die Besessenen mit Mondsüchtigen (und mit Gelähmten) zusammen. Mt 1715 definiert einen Mondsüchtigen als einen, der „oft ins Feuer und oft ins Wasser“ fällt (nach Mk 917 handelte es sich um einen „stummen Geist“); die Jünger konnten ihn „wegen ihres Kleinglaubens“ nicht heilen (vgl. den „Kleinglauben“ an den anderen Stellen des Matthäus-Evangeliums: 630, 826, 1431, 168, 1720, sowie Lk 1228 – entspr. Mt 630). Besessenheit und Lachen (Jesus hat nicht gelacht, aber die Dämonen ausgetrieben): Das Lachen ist die reinste Form des Hinter dem Rücken, das Auslachen löscht den Geist (das Dogma lacht die Wahrheit aus). Wer in der Gegenwart eines andern über ihn redet, ohne ihn in das Gespräch mit einzubeziehen (so wie die Theologie über Gott „redet“), lacht ihn aus (macht ihn tendentiell autistisch). Orthogonalität und Trägheit (Maria Magdalena wurde von den sieben unreinen Geistern befreit): In der Form des Raumes lacht jede Richtung die Gegenrichtung und jede Dimension die andere aus, in der Vorstellung des Zeitkontinuums lacht die Vergangenheit die Zukunft aus, und im Inertialsystem lacht das System die Dinge aus. Die Ontologie lacht sich selbst aus: Dieses Auslachen begründet das Bewußtsein der Eigentlichkeit (den Schein der Unschuld im Kern der faschistischen Selbstzerstörung der Moral, der im realitätsverleugnenden Bewußtsein der „heilen Welt“ überlebt; war die Eigentlichkeit Produkt einer Entscheidung, ein dezisionistischer Akt, so bedarf das Bild der heilen Welt der ständigen Erneuerung und Reproduktion: hier liegt der seins- und sprachlogische Grund des Fernsehens – gegenständliches Korrelat der heideggerschen Entschlossenheit). Was etwas „eigentlich“ ist, ist das, was es dem Begriffe nach ist, aber der Begriff ist ambivalent: Deshalb gibt es keine Eigentlichkeit ohne die Diffamierung des Uneigentlichen, das eigentlich identisch ist mit dem Eigentlichen, als Schein. Das Eigentliche ist das Wahre und Echte (das Wahre ist nach Hegel „der bacchantische Taumel, in dem kein Glied nicht trunken ist“). Das Eigentliche und Echte ist das Ungeheuchelte, das Nicht-Pharisäische. So hängt der Begriff der Eigentlichkeit mit dem Antijudaismus, der Tradition der Diskriminierung der Pharisäer, zusammen. Eigentlichkeit ist die Narbe an der Stelle der verdrängten Reflexionsfähigkeit, der zerstörten Sensibilität. Eigentlichkeit ist der blinde Fleck der Philosophie. Die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit ist der Grund des Mythos, der Ästhetik und der Herrschaftslogik. Hierauf (auf die Umkehr-Beziehung von Sehen und Hören) bezieht sich das biblische Bilderverbot. Die Metastasen der Eigentlichkeit leben fort in der Moral der Polizei und des Militärs (Zusammenhang von Uniform und Folter). Nur die Symbole des Staates lassen sich verunglimpfen: Gegenstand der Verunglimpfung ist das Eigentliche. Im Stern der Erlösung kommt das Purim-Fest nicht vor. Ihr seid das Licht der Welt: Die Prophetie ist das Licht im blinden Fleck der Philosophie (des Weltbegriffs). „Kultur für alle“: Wer die Religionen als kulturelles Erbe begreift und sie konservieren möchte, möchte sie ins religionshistorische Museum (dem historischen Pendant des naturwissenschaftlichen Labors) einsperren. Er blendet genau das aus, was die Religionen ihrer Substanz beraubt und zu einem Teil des Kulturerbes gemacht hat: die Gewalt des alles durchdringenden Wertgesetzes. Religionen sind Formen der Besessenheit und zugleich Denkmäler der Geschichte der politischen Kosmologie; die Kritik der politischen Ökonomie ist ein Teil der Kritik dieser Geschichte. Konservierte Religionen sind (wie die konservierte Kultur insgesamt) fürs Bestehende ungefährlich; die Mauern der Museen sind ein sicherer Schutz.


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