5.1.1997

„Weltbilder erfüllen eine identitätsbildende und -sichernde Funktion, indem sie die Individuen mit einem Kernbestand von Grundbegriffen und Grundannahmen versorgen, die nicht revidiert werden können, ohne die Identität der Einzelnen wie der sozialen Gruppen zu affizieren.“ (Habermas I, S. 100) In diesem Satz kann man den Begriff „Weltbilder“ durch den Begriff „Feindbilder“ ersetzen, ohne daß sich an der Einsicht, die in diesem Satz sich ausdrückt, etwas ändert. Im Gegenteil: Es wäre eine Präzisierung und Verdeutlichung. Es gibt kein Weltbild ohne Feindbild; und das verbindet das Weltbild mit der Bekenntnislogik, zu der ebenfalls die kollektive Absicherung der „Grundbegriffe und Grundannahmen“ durch einen gemeinsamen Feind gehört.
Der Ursprung der Philosophie wurde abgesichert durch den Gegenbegriff der Barbaren, der der Naturwissenschaften, und damit der modernen Aufklärung überhaupt, durch den der Wilden. Auch die Klarheit der Aufklärung (die Reinheit der „reinen Vernunft“) steht unter dem Bann des Feindbildes, einem Bann, der nur durch die Kraft des reflektierenden Urteils zu brechen ist.
Antisemitismus und Bekenntnislogik: Beide sind Schuldverschubsysteme, beide wecken und instrumentalisieren die Kräfte der Projektion, um die Schuldreflexion zu vermeiden. Ist nicht der Antisemitismus das A und O der Bekenntnislogik, ihr Anfang und ihr Ende?
Steckt nicht in jedem Beifall etwas von dem frenetischen Gebrüll, das Hitler entgegenschlug, als er zu Beginn des zweiten Weltkriegs als dessen Ergebnis den „Untergang der jüdischen Rasse“ ankündigte?
Stephanus sah den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes sitzen; die Mutter der Zebedäus-Söhne hat Jesus gebeten, er möge doch ihre Söhne zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen lassen; zusammen mit Jesus wurden zwei Schächer gekreuzigt, einer zu seiner Rechten, einer zu seiner Linken (Mt 2738,44, Mk 1527,32, Lk 2333, Joh 1918); einem dieser beiden (es wird nicht gesagt, welchem) versicherte Jesus: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein (Lk 2343).
Gegen das „Berliner Prozeßbüro“ (Nachwort zum Hogefeld-Buch): Es kommt nicht aufs Rechtbehalten, sondern nur noch auf eine Politik der Befreiung an.


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