7.6.1995

„Was dir auch begegnet, es war dir von Ewigkeit her vorbestimmt …“ (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, X, 5). Dieser Satz konvergiert mit dem berüchtigten Hegelschen Satz „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (Vorrede zur Rechtsphilosophie), von dem er (inhaltlich) nur durch zwei Momente unterscheidet: durch die persönliche Ansprache des Lesers, durch das Du („Was dir auch begegnet“), und durch die Bezugnahme auf die Ewigkeit, deren Begriff hier freilich von dem des „Überzeitlichen“ sich nicht abzuheben scheint, was den Satz in die gleiche Schicksalslogik bannt, die auch den Hegelschen Satz durchherrscht. Erst der Sprachsinn der Ewigkeit, der von dem des Überzeitlichen dadurch sich unterscheidet, daß er jede Vergangenheit von sich ausschließt, der dann allerdings auch die Ersetzung des Präteritums (war) durch das Präsens (ist) erforderlich macht, vermag dem Satz einen nachvollziehbaren Sinn zu geben, dessen genaue Formulierung so lauten könnte: „was dir auch begegnet, seiner Wahrheit wirst du nur im Lichte des Ewigen (im Lichte des göttlichen Angesichts) inne“. – Hat nicht das kontrafaktische Urteil (ein Instrument des Schuldverschubsystems) genau die Funktion, die Gegenwart von der Last der Ethik zu befreien?
Wer die Last der Schuld auf sich nimmt, befreit sich von ihr; wer sie verdrängt, befreit sich von der Last der Ethik.
Zivilisationsbruch: Auschwitz hat den Planeten aus seiner Bahn geworfen; er ist zu einem Kometen geworden, der nur ihm Augenblick noch einer stabilen Planetenbahn ähnlich sieht.
Auschwitz hat die Theodizee widerlegt (sie als ein Scheinproblem erwiesen, mehr noch: als das Harakiri der Theologie). Die Theologie (oder die Existenz Gottes) wird durch Auschwitz weder bewiesen noch widerlegt. Die Vorstellung, daß das Gute an seinem weltlichen Erfolg erkannt werden kann und das Böse am Mißerfolg als Ausdruck der Strafe, die es unweigerlich nach sich zieht, ist blasphemisch, sie instrumentalisiert die Religion, macht sie zur Religion für andere, sie entzieht der Religion ihren einzigen Grund, den ethischen. Insbesondere für die, die in der Tradition der Täter stehen, für Christen und für Deutsche, müßte der Gedanken, daß Gott sich für Auschwitz rechtfertigen müsse, schon im Ansatz sich von selbst verbieten.
Marc Aurel spricht von der „Mutter Natur“ und von der „Welt, die dich zeugt“ (X, 7 und XII, 1).
Gott hat die Welt aus Nichts erschaffen, warum nicht die Natur?
Allwissend: Beispiel dafür, daß schon ein einzelner Begriff sich selbst widersprechend sein kann.
Wenn es Leben auf andern Sternen gibt, dann braucht man es auf dieser Erde nicht zu achten.
Inversion: Das Feindbild gehört zur Bekenntnislogik, weil es das Schuldverschubsystem begründet. Das „Glaubensbekenntnis“ ist die Umkehrung des Schuldbekenntnisses; es löst sich auf, wenn ich die Sünde der Welt auf mich nehme (wenn ich des Schuldverschubsystems, der Projektion, nicht mehr bedarf.
Nekrophilie: Nach der Apokalypse gibt es am Ende eine Zeit, in der die Menschen den Tod suchen, ihn aber nicht finden werden.


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