01.03.91

Reflexionsbegriffe und der Begriff der Lüge: Das erzieherische Verbot der Lüge („wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, wenn er auch die Wahrheit spricht“) blockiert letztlich das noch verbliebene Organ der Wahrheit: die Phantasie. Jürgen Ebachs Hinweis, daß es kein striktes Gebot, nicht zu lügen, gibt, sondern nur das Verbot, falsches Zeugnis zu geben wider seinen Nächsten, greift weiter, als es zunächst scheint: Gemeint ist offensichtlich das Verbot, über seinen Nächsten hinter dessen Rücken anders zu reden, als man in seiner Gegenwart reden würde, insbesondere sollte jede Kritik nur im Angesicht des Betroffenen geübt werden. Lüge dagegen ist das Reden hinter dem Rücken der Dinge, das „Über die Dinge Reden“, ist die Theologie hinter dem Rücken Gottes und die Physik und das Geschäft hinter dem Rücken der Dinge (Rechtfertigung und Reklame): die Vorstellung, der Raum erstrecke sich ins Unendliche oder das Tauschprinzip beherrsche die Welt. Daß der Teufel der Vater der Lüge ist, hat demnach auch diese konkrete Bedeutung, daß die Welt unterm Gesetz der Lüge steht (so viele Prämissen zur Abstützung des Augenscheins braucht und die Hegelsche List möglich macht), zum reinsten Ausdruck der babylonischen Sprachverwirrung geworden ist. Die Lüge ist demnach nicht an die subjektive Unehrlichkeit, sondern an das objektive Anderssein der Dinge gebunden, der verandernden Kraft des Seins unterworfen: die Ontologie ist die Lüge, sie ist das falsche Zeugnis über Gott, die Welt und über den Nächsten. Unter dieser Prämisse kommt es nur noch darauf an, nicht erwischt zu werden (und die gegenwärtige Gestalt der Objektivität ist soweit gediehen, daß sie das fast schon endgültig garantiert); die Bahn ist frei für die ungestrafte Gemeinheit.
Es kommt nicht mehr darauf an, welche Handlungen sich heute (nach endgültigem Zerfall der Kraft des Arguments, nach Auflösung des Zusammenhangs von Theorie und Praxis) noch rechtfertigen lassen, sondern allein darauf, welche Handlungen überhaupt noch zur Änderung der Dinge beitragen.
Die sieben Gaben des Heiligen Geistes (Jes. 112ff; Utopie vom Tierfrieden 119):
– sapientia, intellectus, consilium, fortitudo, scientia, pietas, timor Dei.
Die fünf Charismen der Gemeinde (1 Kor. 1426):
– psalmus, doctrina, apocalypsis, lingua, interpretatio.
Ninive: „die große Stadt“ – vgl.
– Karl Thieme: Biblische Religion heute,
– Jona (Rettung) und Tobit (die Prophetie des Jona erfüllt sich doch – der Hund des Tobias?),
– „das Zeichen des Jona“ (Math. 164, vor allem Luk. 1129ff: „wie Jona den Niniviten ein Zeichen war, …“, Verknüpfung mit der drei-Tage-Prophetie),
– Nahum: „Weh der Stadt voll Blutschuld; sie ist nichts als Lüge“ (31; Ninive = Babylon; Rom/Troja; Rom/Rom, Byzanz, Moskau; Rom/Rom, USA).
Die „imperiale Aufspreizung der Gegenwart, als sei sie Herr der Vergangenheit“ (KuJ, S. 148) ist die Umkehrung der Wahrheit (= Definition der Lüge), Folge der Entlastungsgier, die die Last der Vergangenheit, die sie selber produziert, indem sie die Vergangenheit instrumentalisiert, nicht erträgt, sie abwerfen will. Gleiches Schema wie beim Herrendenken insgesamt. Das „no pity for the poor“ schiebt denen die Last zu, die ohnehin die Opfer sind: Umkehrung des Nachfolgegebots. Die Nachfolge schließt das Eingedenken mit ein: die Erinnerungsarbeit.
Das Inertialsystem gehört ins gleiche Schema (Objektbegriff, Begriff der Lüge; Sprachverwirrung):
– Produkt der Vergegenständlichung und Verdrängung der Erinnerung: Verräumlichung der Zeit;
– Verdrängung der Bedingungen, unter denen die Prämissen allein gelten: Unendlichkeit des Raumes;
– Verfügung über das entfremdete, enteignete Produkt der Vergegenständlichung vergangener Arbeit: Materie als das gleichnamig gemachte Ungleichnamige.


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