Wertsetzung und Sinngebung setzen voraus, daß die Sache an sich wert- und sinnlos ist. Insoweit sind auch die positiven Werte Ausdruck von Verzweiflung.
Die Häresie wurde als Verrat empfunden, weil sie das Geheimnis der Orthodoxie ausplauderte. Durch die Mobilisierung der apologetischen Kräfte ist die Orthodoxie dann immer tiefer in die Verstrickung hineingeraten (Zusammenhang von Orthodoxie, Vergegenständlichung, Apologetik/Theodizee und Opfertheologie; Grund und Kontext der Häresienbildung).
Im Faschismus erfüllt sich die Geschichte der Häresien, aber so, daß gegen ihn Apologie nicht mehr greift, nicht mehr möglich ist, sondern nur noch das Bekenntnis, die Erfüllung des Nachfolgegebots: die Übernahme der Schuld der Welt, an deren Grund der Faschismus (durch den bedenkenlosen Gebrauch der Gemeinheitsautomatik) rührt.
Geschichte und Opfer: Die Nachgeborenen glauben, Herr der Vergangenheit zu sein, über die sie als Wissende und Urteilende (wenn sie das Erbe der Vergangenheit antreten, ohne die darin kapitalisierte Schuld zu reflektieren) sich erheben; sie können aber über die Vergangenheit nur deshalb sich erheben (und die Früchte der geopferten Vergangenheit ohne das Bewußtsein von Schuld genießen), weil sie mit der Vergegenständlichung des Vergangenen zugleich sich von der vergangenen Schuld glauben exkulpieren zu können, ihr damit aber gerade rettungslos verfallen. – Der Antisemitismus wollte mit den Juden die Vergangenheit, für die sie einstehen, loswerden. Und nicht zufällig ist jeder Historismus chauvinistisch: der Staat repräsentiert diese Herrschaft über die Vergangenheit; deshalb muß er seine Bürger, von denen er die Verdrängungsleistung fordert, generell unter Anklage setzen und braucht einen Staatsanwalt. Wehe denen, die sich erinnern.
Kontrafaktische Urteile in der Geschichte haben genau diese Exkulpationsfunktion. Als Urteilender distanziert man sich von der vergangenen Schuld, anstatt sie aufzuarbeiten. Kontrafaktische Urteile sind insoweit falsch, wie sie der gleichen Faktizitätslogik gehorchen wie die Tatsachenurteile. Auch der kontrafaktisch Urteilende steht als der moralisch Überlegene auf diesem Riesenleichenberg. Oder auf der Vergangenheitskolonie, der Vergangenheits-Dritte-Welt, dem Vergangenheits-Proletariat (das durch den Tod enteignet ist und dessen Arbeitsfrüchte wir genießen: dem ganzen Heer der toten Erniedrigten, Ausgebeuteten und Vergessenen).
Die Vergegenständlichung vollzieht am Objekt die Taufe der Vergangenheit. Genau das leistet die kantische Vorstellung der Zeit als subjektive Form der Anschauung.
Confessor und virgo: Der Mann nimmt die Schuld auf sich und kann sich davon nur befreien durchs Bekenntnis, er kann heilig werden nur als Bekenner; die Frau ist davon dispensiert, sie wird nur schuldig, wenn sie ihre Unschuld verliert: ist die Unschuld bei der Frau eine biologische, keine moralische Qualität?
Im Anfang war das Wort, aber was ist der Anfang anderes als der erste Ursprung der Vergangenheit? Genau in diesem Punkt entspringt die Sprache. So hat die Sprache eine ursprüngliche Beziehung zu den Toten – als Ausdruck der Trauer über das Vergehen. Darauf bezieht sich die Lehre von der Auferstehung von den Toten.
Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Aber woher kam die Urflut, die dann übrigens noch geschieden wird in die Wasser diesseits und jenseits des Firmaments?
Theologisch begründete Herrschaftskritik kann sich nicht einschränken auf den gesellschaftlichen Aspekt von Herrschaft, sie muß auch den naturalen Aspekt mit einbeziehen. Die gesellschaftliche Herrschaft enthält über ihr Verhältnis zur Naturbeherrschung auch ein naturales Moment, das im Rahmen einer theologischen Herrschaftskritik offengelegt werden muß (das ist der letzte Sinn einer Naturphilosophie). Es gibt einen Naturgrund von Herrschaft, den wir besetzt halten, der aber mit den Strukturen der gesellschaftlichen Herrschaft über die Natur nicht identisch ist, sondern zugleich davon getrennt untersucht und dargestellt werden muß.
10.06.91
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