24.05.87

Die Katastrophen dieses Jahrhunderts haben – im Unterschied zu historischen Gesteinsverschiebungen in früheren Epochen – nicht zu neuen Gleichgewichtsverhältnissen geführt; weitere tektonische Beben mit unabsehbaren Folgen sind, wenn nicht zu erwarten, so jedenfalls nicht auszuschließen. Die Philosophie dieses Jahrhunderts hat diese Vorgänge mit der größtmöglichen Genauigkeit aufzuzeichnen versucht: Lukacs, Bloch, Benjamin, Horkheimer, Adorno beschreiben eigentlich alle den gleichen Vorgang; die Differenzen zwischen diesen Autoren bezeichnen weniger Meinungsunterschiede, als vielmehr objektive Brüche, in denen die katastrophischen Kräfte des Systems bewußtlos weiterarbeiten.

Erweiterung der Transzendentalphilosophie: Wenn es stimmt, daß unser Bewußtsein der Realität (die Realität für uns) sprachlich vermittelt ist, daß die Sprache zu den Fundamenten der Realität, wie wir sie kennen, gehört, ist es eigentlich sträfliche Fahrlässigkeit, wenn Sprachreflexionen auf den Gang der Erkenntnis so geringen Einfluß haben.

Unterschied zwischen Sprachphilosophie und Idealismus: Die Geistphilosophie des Idealismus kennt das Subjekt eigentlich nur als vergangenes, abgestorbenes, während Sprachphilosophie ohne lebende, sprechende Subjekte (Ich mit Vor- und Nachname) nicht denkbar ist. Sprachphilosophie setzt eine theistische Theologie voraus. Die Konsequenzen sind absehbar, Franz Rosenzweig hat sie ausgeführt. Es gibt einen sprachzerstörerischen Erkenntnisprozeß; ihn hat die Ontologie seit je sanktioniert: genau das meint der R.’sche Hinweis auf die „verandernde Kraft des ´íst´“. Erkenntnis das auf Wissen zielt, ist an einem objektbezogenen Wahrheitsbegriff orientiert, der, wie er auf prinzipiell Vergangenes (Totes) sich bezieht, mit Herrschaft verbunden ist. Wissen ist ebenso subjektiv (auch als intersubjektives Wissen) wie autoritär. Kritische Reflexion des Wissens, zu der die kantische Vernunftkritik den entscheidenden Anfang gemacht hat, kommt nur zu haltbaren Ergebnissen, wenn sie auf dessen Verhältnis zur Zeit, auf seine gesellschaftlichen Sinnesimplikate und – nicht zuletzt – auf seine ethischen Konnotationen reflektiert: Wissen ist emanzipatorisch und menschenverachtend zugleich.

Konkrete Erkenntniskritik darf vor den Naturwissenschaften nicht Halt machen, muß im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß die gesellschaftlichen Kräfte, seinen objektiven Zusammenhang mit dem Prozeß der fortschreitenden Naturbeherrschung und der Vergesellschaftung von Subjekt und Natur und in ihm zugleich das Moment der Selbstblendung des Subjekts begreifen. Die Naturwissenschaften sind ein aktives, bewußtlos tätiges Moment im gesellschaftlichen Schuld- und Verblendungszusammenhang.


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