Denn sie essen das Brot der Gottlosigkeit und trinken den Wein von Gewalttaten. (Spr 417)
Er wird den Gewalttätigen schlagen mit dem Stab seines Mundes und mit dem Hauch seiner Lippen den Gottlosen töten. (Jes 114)
Staat und Sinnlichkeit, oder Ableitung der Sexualmoral: Die Abtreibungsdebatte fördert es zutage, daß es in allen Rechtsverhältnissen um die Anerkennung von Besitzansprüchen geht. In der Abtreibungsfrage geht es darum, wer Besitzansprüche gegen den Fötus geltend machen kann: der Staat oder die Frau. So erweitert der Staat sein Gewaltmonopol bis in den Schoß der Frau. Und die sexuelle Lust steht gleichsam in Konkurrenz zur Gewaltlust des Staates (zur Verletzbarkeit seiner Eigentumsansprüche); deshalb war sie als Träger der (vorweltlichen) Erbschuld zu kriminalisieren. Und die Gewaltlust des Staates wurde zum Ursprung und Modell jeglicher Vergewaltigung.
Begriffe sind Verkörperungen des Gewaltmonopols des Staates, unkenntlich gemachte Vergewaltigungen der Sprache.
Vernunft und Sexualität verhalten sich zueinander wie Welt und Natur; als getrennte gründen beide in Gewalt.
Die Vorstellung von einer schöpferischen Kraft der Natur ist phallokratisch.
Die Heiligengestalt der virgo entstammt einer Zeit, in der den Menschen das Bewußtsein der Erbschuld noch präsent war. Und der Vollständigkeit halber wird man sagen müssen, daß auch die Kirche die Lehre von der natürlichen Unschuld nie akzeptiert hat; Beweis: die Kindertaufe.
Wollte man heute die virginitas dem Verständnis näherbringen, so müßte man anstatt von Unschuld von Keuschheit reden. Keuschheit aber ist keine Naturqualität, sondern eine ausgesprochen soziale und moralische. Und Keuschheit steht nicht einer direkten, gleichsam intentionalen Beziehung zur Sexualität, sondern in einer reflektierten; sie ist vor allem eine Qualität der politischen Praxis, aber eine fast nicht mehr auffindbare, nicht mehr erkennbare. Ich glaube, man kommt der Sache näher, wenn man Keuschheit im Kontext von Gewalt und Gewaltfreiheit begreift und zu bestimmen versucht. Keuschheit hängt eher mit Arglosigkeit (und ihrer Beziehung zur Unschuld) zusammen als mit jener Unschuld, die sich ausschließlich durch ihre Beziehung zur Sexualität definiert. Dafür ist die Kirche nun wirklich der schlagende Beweis, daß es eine sehr unkeusche Art der sexuellen Enthaltsamkeit gibt.
Keuschheit ist einer der drei evangelischen Räte (die alle sich auf das Leben im Angesicht Gottes beziehen). Die beiden anderen sind Gehorsam und Armut: die Fähigkeit zu hören (das Eingedenken, die Erinnerung) und das reflektierte Verhältnis zum Geld und zu den durchs Geld bestimmten Verhältnissen (Übernahme der Sünde der Welt). Das Verständnis der Keuschheit wird erschwert durch die das Bewußtsein beherrschende Funktion der Naturwissenschaft (Inbegriff der Unkeuschheit?). „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren, und sie schämten sich“: das ist der Ausgangspunkt. Die Keuschheit ist eine Weise des Umgangs mit dieser Nackheit, ein Reflex der Scham, der Fähigkeit, sich in den Augen der Anderen zu sehen. Die Scham, die Furcht, nackt und bloß da zu stehen, bezeichnet einen sozialen Sachverhalt: Kinder schämen sich für ihre Eltern; Eheleute schämen sich für einander; wir schämen uns, Deutsche zu sein. Scham ist ein Reflex der Erkenntnis, von anderen gesehen zu werden: ein Reflex der Erfahrung, als Objekt (gleichsam hinter dem eigenen Rücken oder im Stande der realen Schuld) gesehen zu werden. Grundlage fürs Verständnis der Keuschheit ist das Begreifen, wie sich die Nacktheit von der sexuellen Sphäre in alle Lebensverhältnisse verlagert und ausbreitet, und zwar ausbreitet im Prozeß der Objektivation, der das Maß abgibt für den weltgeschichtlichen Stand von Scham und Keuschheit.
Ist nicht das Bild des Objekts, das der Begriff der Natur uns vor Augen stellt, das Bild absoluter Schamlosigkeit (wie sich leicht anhand der Stellung des Objekts in der transzendentalen Logik nachweisen läßt)?
Obszön ist die Abtreibungsdebatte, die ein Problem der Sexualität (letztmals?) zur Rechtfertigung der Gewalt mißbraucht.
Die Vorstellung, Kinder seien unschuldig, ist insoweit zynisch, als sie die Kinder mit ihrer realen Schulderfahrung allein läßt. Ebenso ist allerdings die kirchliche Lehre von der Erbschuld zynisch, weil sie den Kindern die ganze Last der Sünde der Welt aufbürdet, anstatt endlich dem Nachfolgegebot zu gehorchen und sie selber zu übernehmen.
Adornos Hinweis auf den Einschulungsschock und seine Funktion im Hinblick auf die Genese des Antisemitismus greift – wie mir scheint – noch zu kurz: Der Zustand, in den unser Schulwesen gegenwärtig hineintreibt (vom Zustand des zu vermittelnden Wissensstandes bis hin zu den objektiven Bedingungen wie numerus clauses, Leistungsprinzip, Elterndruck), prolongiert den Einschulungsschock; das scheint überhaupt den gegenwärtigen Weltzustand zu definieren: Schock als andauernder Weltzustand (wichtig für die Rezeption Benjamins).
Beachte das Verhältnis von Schule, Kinder und Musik, das das eines Opfergangs geworden ist. Die BILD-Zeitung und der Zustand der Konsum-Musik heute sind die schärfste Anklage gegen den Zustand unseres Schulwesens.
Der Begriff des Anstands hilft nur, den Schein zu wahren, während der des Takts die Sensibilität für den Umgang mit fremder Scham bezeichnet. Leute, die auf Anstand pochen, sind in der Regel taktlos.
Sind Petrus und Paulus (?) Namen, die sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen unmittelbar verständlich sind?
Zu den Insignien der Herrschaft gehören neben dem Thron die Krone, das Zepter und der Reichsapfel:
– Der Reichsapfel war das Bild der Welt, deren Einheit durch Herrschaft definiert wurde, war er auch Modell für das Bild des Apfels, den der Tradition nach Eva Adam reichte? Ist die Frucht des Baumes der Erkenntnis der Ursprung des Weltbegriffs?
– War das Zepter ein Phallussymbol (vgl. das Buch Esther)?
– Und welche Bedeutung hatte die Krone?
Die Astronomie seit Kopernikus (seit dem altorientalischen Sternendienst?) gleicht dem Versuch, Anthropologie anhand von Zinnsoldaten zu studieren.
06.08.92
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