Nach Walter Burkert treten die Initiationsriten mit dem Aufkommen der Schriftlichkeit und mit der Stadtkultur zurück, „um schließlich zu verschwinden – vollständig erst in unserer Zeit der atomisierten Gesellschaft“ (S. 47). Aber was sind Erstkommunion und Firmung anders als Initiationsriten?
Zu Christine Kuby: Woran anders wird die „Schwere der Schuld“ gemessen als an der Stärke der Racheimpulse? Der Umgang mit den Gefangenen der raf ist längst ein Indiz für die Verkommenheit unserer Justiz.
Die Vorstellung, daß das „Herrschaftsgebot“ der Genesis eine der Ursachen der Geschichte der gesellschaftlichen Naturbeherrschung sei, ist, abgesehen davon, daß sie sich durch eine genaue Lektüre des Textes widerlegen läßt (das vegetarische Nahrungsgebot, mit dem es zusammensteht, schließt das Töten aus), ist nicht nur falsch, sie bestätigt im genauesten Sinne eines double bind genau das, wogegen sie protestiert: das Schuldverschubsystem, das als logischer Kern dem Ursprung und der Geschichte der Naturbeherrschung zugrunde liegt. Sie ist ein Teil jenes Syndroms, demzufolge Religion jeder für sich nur noch als Seelenbalsam und für andere als ein System von Moralvorschriften und Handlungsanweisungen begreift: als Religion für andere, Religion als Herrschaftsmittel. Aber wird diese Religion fatalerweise nicht gerade dann bestätigt, wenn man aus ihr glaubt austreten zu können? Und ist nicht Petrus/Kephas der Typos einer Religion, die nur noch Religion für andere ist: Fundament einer Kirche, die zum steinernen Herzen der Welt geworden ist? Es ist ein System des Sich-wechselseitig-in Schach-Haltens, in dem dann, nach einem Adorno-Wort, heute jeder Katholik so schlau ist, wie früher nur ein Kardinal. Das Modell und die reale Verkörperung dieses Systems ist der Staat, seine innere Struktur das Recht.
Läuft nicht unser Autoritätssystem, wenn es auf Texte angewandt wird, nach dem Modell Heilige oder Hure (mit der merkwürdigen Analogie der patriarchalischen Beziehungen zu Texten und zu Frauen)? Wäre es nicht sinnvoller, gerade in alten Texten die Erfahrung, daß da etwas drinsteckt, was nur durch Reflexion wiederzugewinnen ist, mit der Erfahrung der Unzulänglichkeit dieser Texte zusammenzudenken? Das hatte Walter Benjamin im Sinn, als im Hinblick auf Franz Rosenzweig sagte, er habe es vermocht, die Tradition auf dem eigenen Rücken zu befördern anstatt sie seßhaft zu verwalten. Merkwürdig, daß alle Offenbarungsreligionen ihren Absolutheitspunkt in der Vergangenheit (in den Heiligen Schriften und den damit verbundenen Ereignissen) haben.
Bezeichnet nicht das „leer, gereinigt und geschmückt“ in der Parabel von den sieben unreinen Geistern auch das Bild von der Vergangenheit, das wir im Kopf haben? Grund unserer Erinnerungsunfähigkeit?
Weltanschauungskriege sind Vernichtungskriege (nach den christlichen Vorläufern in den Kreuzzügen, Pogromen, Ketzer- und Hexenverfolgungen in säkularisierter Gestalt zuerst im Krieg der Nazis „gegen den Bolschewismus“), weil sie die Nutzung des Schuldverschubsystems, dessen Resultat eine „Weltanschauung“ ist, auch durch Strafen (die dann Vernichtungsstrafen sind) in der Realität verankern wollen. Es handelt sich offensichtlich um eine Zwangsfolge nicht mehr reflektierter (weil nicht mehr reflexionsfähiger) Herrschaftssysteme. Nicht zufällig werden sie als Reinigungsaktionen (Endlösung der Judenfrage als Reinigung der Welt von den Juden, ethnische Säuberungen in Bosnien) begriffen; sie weisen zurück auf den lateinischen Weltbegriff: mundus.
Ist eigentlich die Frage, ob es Menschen ohne Schrift, vorschriftliche Gesellschaftsformationen, gibt, so sinnlos? Die Vorstellung, daß „die Wilden“ Produkt einer Regression, eines Rückfalls sind, hilft vielleicht im Verständnis des Ursprungs der Schrift weiter als äußerliche, banale Erfindungstheorien.
Sind die ersten Opfer in der Bibel nach den Opfern Kains und Abels die des Abraham und des Melchisedech?
Wäre die Lessingsche Parabel von den drei Ringen heute nicht durch eine andere zu ersetzen: Jeder sitzt im Gefängnis seiner Geschichte, aber die Schlüssel dazu haben jeweils die anderen? Die Hauptaufgabe liegt bei den Christen; nur ihnen ist gesagt worden: was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein.
Die Kritik der Naturwissenschaften hätte damit zu beginnen, daß man nachweist, daß in den Naturwissenschaften das Licht nicht mehr vorkommt, Licht und Finsternis bedeutungslose Begriffe sind: es ist unmöglich, in naturwissenschaftlichem Kontext das Licht zu rekonstruieren. Nur noch gleichsam deiktisch läßt sich der Berührungspunkt bezeichnen: das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Die Rekonstruktion des Lichts über diesen „Berührungspunkt“ läßt die Naturwissenschaften nicht unberührt.
Sind in den drei Versuchungen Jesu (vgl. z.B. Mt 41ff) die drei Totalitätsbegriffe mit angesprochen: Wissen, Natur und Welt:
– Im Vertrauen auf die Behütung durch die Engel, „damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt“, das Wissen,
– in der Verwandlung von Steinen in Brot der Naturbegriff und
– im Herrschaftsversprechen und in der Anbetung des Teufels der Weltbegriff?
Wäre das Neue Testament nicht erst dann richtig zu verstehen, wenn man, anstatt es unmittelbar ins Deutsche zu übersetzen, es zunächst ins Hebräische übersetzen würde?
Ist die Rede von einer Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in der kommenden Welt vergeben wird, nicht eine Erläuterung der Geschichte vom Binden und Lösen? Dann wäre das Binden die Sünde wider den Heiligen Geist, und das Binden, das vorgibt, das Lösen zu sein, die Selbstverfluchung.
Ist es nicht in der Tat, die Tat, die die Tatsachen schafft, auf die sich dann das Wissen bezieht, das als Absolutes die Vollendung des Andersseins des Selbst repräsentiert? Und ist das Absolute des deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) nicht die Bindung der rechten Hand Gottes?
War nicht das Christentum bis heute die Anbetung und die Ausnützung des Scheiterns der messianischen Kraft Jesu (und in der Mystik das Verliebtsein in dieses Scheitern)?
Gibt nicht die Situation in einem Fahrstuhl, in dem keiner den andern anschaut, einen aufschließenden Hinweis auf das Problem des Angesichts?
Zur Theorie des Rechtsradikalismus: Nur weil wir uns das Beste versagen müssen: gut zu sein, schlagen wir andere tot.
Politischer Aschermittwoch: Auch das war eine Erfindung von Franz Josef Strauß: Politik als Unterhaltung, und das als neue Qualität der Politik (nicht mehr zu trennen von der „Politikverdrossenheit“). Kern der seitdem irreversibel sich ausbreitenden parteipolitischen Ghettobildungen: nichts ändern, aber die Anhänger bei Laune halten (und süchtig machen).
25.02.93
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