Nochmal zu den „Spitzen“ (Dornen und Disteln, Form des Raumes, sh. 28.02.93): Liegt hier nicht der Schlüssel zum Ursprung des Weltbegriffs (Projektion und Herrschaft: Barbaren, Natur, Materie; Gemeinheit, Recht und Grenzen der Beweisbarkeit), zum Verständnis der Zivilisationsschwelle?
Der Raum subsumiert die Zukunft unter die Vergangenheit und verdrängt die reale Vergangenheit: er zerstört die Erinnerung und desensibilisiert die Erfahrung. Grund und Ausdruck davon ist die Reversibilität aller Richtungen im Raum. Basis der Vorstellung der homogenen Zeit und Grund der Entsinnlichung der Natur. Er begründet das Trägheitsprinzip und vertreibt das Subjekt aus Natur und Welt, zerstört mit der Erfahrung des andern den Grund der Selbsterfahrung. Die philosophische Kritik des Anthropomorphismus, die von der Theologie übernommen wurde, und die die Erfahrungsunfähigkeit besiegelt, ist darin begründet. – Zusammenhang mit der dogmatischen Tradition im Christentum, insbesondere mit der Opfertheologie: Geopfert wird die Selbsterfahrung.
Gottesmörder, Hostienfrevel und Ritualmordlegende, jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung: An der Geschichte dieser projektiven Verkörperungen des antisemitischen Vorurteils läßt sich die Geschichte des Ursprungs und der Funktion der Theologie hinter dem Rücken Gottes und des Trägheitsprinzips ablesen (die Geschichte der drei Leugnungen). Sie lassen sich begreifen als Folgegestalten der Projektion im Kontext der Dogmenentwicklung (Opfertheologie), des scholastischen Objektrealismus (Universalienstreit) und der paranoiden Selbstverfluchung (Unfähigkeit zur Welt- und Herrschaftskritik: zur Aufklärung der Aufklärung). Ist der Faschismus die dritte Leugnung?
Ist die paranoide Form des Antisemitismus nicht der Schatten des im Bekenntnisprinzip und in der Rechtfertigungslehre sich verkörpernden Herrendenkens?
Steckt nicht in jeder Leugnung ein Stück präventiver Identifikation mit dem Aggressor, und ist die größte Gefahr heute nicht die der Paranoia (der Unfähigkeit zur Arglosigkeit)? Genau das, was die Kirche selbst als Erlösung verstanden hat, treibt die Leute heute aus der Kirche heraus. Das leisten heute die säkularen Instanzen besser, letztlich der Säkularisationsprozeß selber, der mit der kirchlichen Theologie begonnen hat. Der Exkulpationstrieb, den die Kirche erzeugt hat, wendet sich heute gegen die Kirche: weil niemand mehr die Schuld, die der Kirche zugewachsen ist, tragen kann.
Wenn das Bekenntnis die verdinglichte, instrumentalisierte und entfremdete Gestalt der Nachfolge ist, dann wäre die Kritik der Bekenntnislogik die erste Voraussetzung für die Freilegung des Nachfolgegebots. Wichtig die Beziehung zur Zeit: Zusammenhang mit einem Schöpfungsbegriff, der durch das Konzept der creatio mundi nur verstellt worden ist. Der Anfang ist nicht im Anfang, er wird am Ende sein.
Ist nicht die physikalische Idee einer Herstellung des Vakuums die der Herstellung der reinen Vergangenheit, deren Deckbild der Raum als die Form der Gleichzeitigkeit ist. Für die Naturwissenschaften sind die Dinge immer noch mit Zukünftigem „beschmutzt“.
Märchen beginnen mit dem „Es war einmal“, Sagen zitieren vergangene Zeiten. Sagen lehren den Stolz auf vergangene Herrlichkeit, Märchen die Trauer über vergangenes Glück. Das Märchen ist völlig frei von jeder heroischen Attitüde. Im Märchen wird der dumme Teufel von der ganz unheroischen List der Kleinen und Schwachen besiegt, und selbst des Teufels Großmutter hilft noch bei der Übertölpelung des Teufels.
Heute ist der Himmel leer: Inbegriff der (seit Kopernikus) vergangenen Zukunft.
Wird durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nicht das Moment des Gesehenwerdens in das Licht mit hereingenommen: Quellpunkt des Angesichts? Und ist es ganz illusionär, darin die beiden Augen des Rosenzweigschen Antlitzes zu erblicken?
Blut als verinnerlichte Scham: Es darf nicht nur kein Blut vergossen, nach der Tradition der Schrift darf auch kein Blut getrunken oder gegessen werden. Das Rot des Bluts ist das verinnerlichte Chlorophyll: darin steckt die gleiche Beziehung zum Licht, die in der Scham aufs Gesehenwerden, auf die Erkenntnis, nackt zu sein, sich bezieht. Pflanzen haben das Licht außer sich, Tiere haben es verinnerlicht. Stecken hier nicht die Verständnisgründe für das Symbol des Schwerts, für die Geschichte von der vom Blutfluß befallenen Frau, fürs Schwarzmondtabu?
Bezieht sich die Geschichte vom Binden und Lösen (auch in Hiob 3811) nicht auf die Macht der Vergangenheit? Und steckt nicht noch in den Anachronismen der Schrift ein Fingerzeig, ein Hinweis?
Wäre die Physik die Wahrheit über die Dinge, dann säßen die Menschen von Natur aus im Gefängnis. Aber ist nicht der Objektbegriff in der Tat der Schlüssel, der das Gefängnis der Subjektivität verschließt und die Subjektivität immer mehr zu einer Form der Isolationshaft macht?
01.03.93
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