10.04.93

Die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit ist identisch mit der Unterwerfung des Oberen unter das Untere. Hinsichtlich der Natur wird das begründet und stabilisiert durch die Vorstellung des unendlichen Raumes, Grundlage und Folge der kopernikanischen Theorie und seiner dynamischen Begründung durch Newtons Gravitationsgesetz. Gleichzeitig wurde das Gesamtproblem in das der Identität von träger und schwerer Masse verlagert.
Im Kern der jüdisch-christlichen Tradition steht mit der Idee der Umkehr ein Begriff mit durchaus räumlicher Metaphorik, mit räumlichen Konnotationen.
Ist Jesus in Jerusalem oder in Galiläa in den Himmel aufgefahren?
Sind die Blätter und ist das Gras hinter meinem Rücken auch grün?
Woher haben die Tierkreiszeichen ihre Namen?
Wenn man bei der Lorentz-Transformation die Bewegungsrichtung von der Gegenrichtugnng unterscheiden muß, so berührt das auch die Reversibilität der Richtungen im Raum, ihre Beziehung zu den anderen Richtungen und zur Zeit. Verdeckt die Vorstellung einer homogenen Zeit nicht die differenzierte Beziehung des Raumes zur Zeit, mit der auch die Dreidimensionalität des Raumes zusammenzuhängen scheint?
Die Vorstellung des unendlichen Raumes begründet auch das Prinzip der Lohnarbeit, den transzendentallogischen Grund des Kapitalismus.
Steckt nicht in den Wahnsinns-Experimenten der Atomphysik, der Elementarteilchen-Forschung und der Weltraumforschung auch ein Legitimationsbedürfnis des Staates, ein Beweiszwang, dessen Gewalt daher rührt, weil anders, ohne die ideologische Funktion der Naturwissenschaften, auch der Staat nicht mehr zu begründen ist. Dieses Legitimationsbedürfnis galt für den „real existierenden Sozialismus“ ebenso wie er weiterhin für den Marktwirtschafts-Staat gilt.
„Da gingen ihnen die Augen auf.“ – Dieser Satz erscheint zweimal, in der Geschichte vom Sündenfall und in der Geschichte von der ersten Begegnung des Auferstandenen mit zweien seiner Jünger (in der Emmaus-Geschichte). Ist das nicht die ungeheure Leistung der Augen, daß sie die Dinge restlos auf den Kopf stellen: Sind nicht die Spuren dieses Verfahrens die sinnlichen Qualitäten?
Daß mit der Reformation die häresienbildende Kraft verschwindet, scheint damit zusammenzuhängen, daß die Geschichte von Orthodoxie und Häresie in sich selber dialektisch ist: Mit der Verdrängung (und Verinnerlichung) der Probleme, auf die die Häresien objektiv verweisen, ist der Orthodoxie selber eine anwachsende häretische Masse zugewachsen, deren dogmatische Identität nicht mehr sicherzustellen ist außer durch Dekret, und die den Keim der Spaltung (in zwei selber häretische Gestalten der Orthodoxie) in sich trägt: ein perfektes System projektiver Selbstbestätigung, mit der Kraft des Weltbegriffs im Zentrum. Der Konfessionsstreit ist auf der Ebene, auf der er ausgetragen wird, nicht mehr lösbar; er ist nur noch ein Mittel der außer Kontrolle geratenen Selbstghettoisiserung (Folgen für die Geschichte des kirchlichen Antijudaismus?). – Aber vollzieht sich dieser Prozeß nicht in Phasen:
– von der Zeit der Kirchenväter und der Dogmenbildung bis zur Entstehung des Islam und der Trennung der orthodoxen von der katholischen Kirche,
– von der Scholastik (und der Reorganisation der westlichen Kirche) bis zur Reformation und
– von der Konfessionsbildung (Verinnerlichung des häretischen Prinzips in den Neo-Orthodoxien) bis zum Faschismus.
Ist das Moment der Trunkenheit in der Philosophie (und in den Grundlagen der Zivilisation) nicht in der Selbstreferenz begründet, die aus dem projektiven Moment im Natur- und Materie-Begriff stammt?
Wenn Christen die Juden Hebräer nennen, begeben sie sich dann nicht in eine Front mit den Ägyptern und Philistern?
Der dogmatische Umgang mit der Schrift wird seit je als Alibi mißbraucht, per Dekret in die Schrift hineinzuregieren. Dieser Gefahr ist, wie mir scheint, J.B.Metz nicht ganz entgangen. Hier käme es darauf an, wieder hören zu lernen. Das ist gemeint im evangelischen Rat des „Gehorsams“.


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