Hans-Joachim Schoeps hat „die ganze Theologie“ des Paulus auf die Auferstehung Jesu zurückgeführt; sie sei „zunächst nichts anderes als ein Umdenken aller überkommenen Vorstellungen und Begriffe auf dieses Ereignis hin“ (Paulus, S. 177). Nicht zufällig erinnert das an Metz‘ Bemerkung über die Theologie nach Auschwitz (ein bis heute nicht eingelöster Hinweis). Durch seinen Tod und seine Auferstehung ist „Christus des Gesetzes Ende“ (Röm 104): Denn „das Gesetz ist Herr über den Menschen, solange er lebt“ (Röm 71). Durch die sakramentale Teilnahme an Tod und Auferstehung Jesu, durch Taufe und Eucharistie, sind die Christen dem alten Äon abgestorben und frei vom Gesetz. Die ungeheure Zweideutigkeit der paulinischen Theologie gründet darin, daß das Gesetz mit der Thora identifiziert wird; übersehen wird dabei, daß das Gesetz ein Form- und Strukturelement des Weltbegriffs ist, und die Identifikation der Thora mit dem „Gesetz“ selber schon Folge seiner Verweltlichung (und Instrumentalisierung) ist, daß diese Identifikation mit dem Weltbegriff gemeinsam entspringt und mit ihm fortbesteht, und daß u.a. die rabbinische Theologie ein Versuch war, die Thora aus dieser Verstrickung (des Hellenismus) zu lösen. Als Teil des Rechts ist das Gesetz ein Strukturelement der staatlich organisierten Gesellschaft von Privateigentümern; es ist das gleiche Recht, das im Römischen Reich nur für Römische Bürger gilt, zu denen auch Paulus gehört (der auch Gebrauch davon macht). An die Stelle der Welt, zu deren Konstituentien das Gesetz gehört, hat Paulus die Thora gesetzt (und in diese Falle ist dann die Gnosis hineingetappt). Die Zweideutigkeit der paulinischen Theologie rührt nicht zuletzt daher, daß die Identifikation von Thora und Gesetz wie der Ursprung der Philosophie (des Begriffs) projektive Züge trägt und der Umwandlung des Christentums in eine „Welt-“ (und damit in eine römische Staats-) Religion vorgearbeitet hat. Eher als an der Thora ließe sich heute der Zusammenhang von Tod, Entfremdung (Objektivation und Instrumentalisierung) und Gesetz an den Naturwissenschaften demonstrieren, zu deren historisch-genetischen Voraussetzungen die paulinisch instrumentierte Theologie, insbesondere die Opfertheologie, gehört. Paulus und seine Theologie leben von der damals schon fatalen „Gnade der späten Geburt“: für beide sind das Leben und die Lehre Jesu (die konsequenterweise seitdem im Dogma und im Bekenntnis nicht mehr vorkommen) vergangen, seine Auferstehung hat im Kontext dieser Theologie mit der Bergpredigt, mit Feindesliebe und der Arglosigkeit der Tauben, nichts mehr zu tun. Paulus hat
– die „Übernahme der Sünden der Welt“ durch die Lehre vom Sühneopfer in eine Hinwegnahme („Entsühnung“ der Welt) und
– den (objektiven) parakletischen Begriff der Barmherzigkeit durch die (subjektivistische) Gnadenlehre
verfälscht, damit die Unterscheidung von Rechts und Links (Jon 411) aufgehoben und der Gottesfurcht, der Umkehr und der Nachfolge den Grund entzogen.
Aber gab es eine Alternative hierzu? Hat Paulus nicht die Möglichkeit des Überwinterns der zum Dogma verdinglichten Lehre in einer sich verfinsternden Welt geschaffen?
Paulus, der Verzicht auf Herrschaftskritik, die Spiritualisierung des Christentums und das Inertialsystem (was hat es eigentlich mit den Präfixen in den Begriffen Ge-setz, Be-griff, Er-scheinung auf sich?).
Ist die Opfertheologie als Instrumentalisierung des Kreuzestodes bei Paulus nicht ein Produkt der projektiven Verarbeitung seiner eigenen Vergangenheit (seiner Beteiligung an der Steinigung des Stephanus)? Und hat Paulus nicht sein eigenes Erlösungs- und Rechtfertigungsbedürfnis in das Christentum hineinprojiziert? War nicht sein Christentum in der Tat eines für Heiden, die es dann auch bleiben konnten?
Weder die Gottesfurcht, noch die Umkehr, noch die Nachfolge kommt bei Paulus vor; zugleich hat er die Weichen so gestellt, daß mit der Verdrängung der Herrschaftskritik zwangsläufig die Sexualmoral ins Zentrum der christlichen Ethik gerückt wurde.
Ist nicht die Glossolalie, zu der das Pfingstwunder bei Paulus wird (verkommt), eher eine Widerlegung der paulinischen Theologie? Die Glossolalie verhält sich zum Pfingstwunder wie der Begriff der Barbaren zum Namen der Hebräer.
Ist nicht die Abtreibungsdiskussion eine Folge des ungelösten Paulus-Problems (bezeichnet er sich selbst nicht einmal als eine Fehl-/Mißgeburt und mit welchem griechischen Wort)?
14.06.93
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