Ist nicht die Vorstellung, daß die ganze Pflanze „vorwärts und rückwärts“ nur Blatt sei (Bühler, S. 41), Teil einer Naturanschauung, die an der Idee der Unschuld sich orientiert: die Frucht und die „Befruchtung“ gleichsam „verunschuldigen“ möchte? Hat dieses „Blatt“ nicht sehr viel mit dem Feigenblatt des Sündenfalls (und seiner Interpratation durch Johannes Eriugena) zu tun? Liegt hier nicht der mythische Zentralpunkt der Goetheschen Naturanschauung? Und ist nicht die Goethesche Naturanschauung wirklich ans Schauen gebunden, d.h. an eine Erkenntnisform, die (wie die naturwissenschaftliche, an deren Modell sie sich orientiert) von jeder Schuldreflexion abstrahiert und jede Identifikation a limine ausgrenzt?
Alles Denken ist Schuldverarbeitung (daher die Neigung, es zu diskriminieren), ohne Sprache gäbe es keinen Ausweg.
Zwei Einwände gegen die Anthroposophie:
– Sie bleibt gefesselt ans Selbsterhaltungsprinzip, das sie zugleich als Egoismus an andern verurteilt. Sie bringt sich selbst durch einen sublimierten Egoismus, durch den sie zur „Weltanschauung“ wird, um ihr bestes Ergebnis.
– Die Vorstellung, der Mensch sei ein Mikrokosmos, müßte spätestens, wenn man die Reflexion der Naturwissenschaften mit hereinnimmt, historisiert und dynamisiert werden. Kosmos und Mikrokosmos sind in den historischen Prozeß verflochten, und lassen sich nur mit Gewalt (mit der Enthistorisierung und Moralisierung des Ego) daraus lösen. Mit zu reflektieren wären die Logik und die Geschichte des Weltbegriffs: der historische Säkularisationsprozeß, in dem wir Akteure, Zuschauer und Opfer zugleich sind. Erinnerung müßte auch kollektive Erinnerung mit einschließen: die ganze Geschichte steckt mit drin.
Hat nicht der anthroposophische Astralleib mehr mit den apokalyptischen Tieren als mit dem individuellen Fortleben nach dem Tode zu tun?
Hängt nicht das kosmische Element der Anthroposophie mit der Unfähigkeit, das Inertialsystem und die Geldwirtschaft zu reflektieren, zusammen? Durch diese Unfähigkeit verbleibt die Anthroposophie im Banne dieser Aprioris. Der Äther- und der Astralleib bezeichnen ein Problem, das die Anthroposophie durch Verdinglichung verdrängt (sind nicht die Tiere in der Natur, was die Stadt und der Staat in der Geschichte sind? Beide sind durch die Objektivierung des Sternenhimmels vermittelt).
Verweisen die Geschichten von den angeblichen Todeserlebnissen, nach denen im Moment des Todes das Leben wie ein Film abläuft nicht eher auf den Zustand der Gesellschaft im Zeitalter des Films und des Fernsehens (vorbereitet durch den Roman und den Historismus)?
Sind nicht die Warums bei Bühler (S. 114f) allesamt paranoid? Vgl. auch S. 117f: auch durch Streit oder Haß geschaffene seelische Bande erweisen sich als unzerreißbar.
S. 124f: Problem des Karma?! Bemerkungen zu den Gefallenen der Kriege: Anwendung auf Auschwitz?
S. 126: Ableitung der Überbevölkerung aus der materialistischen Gesinnung der Menschen, die (auch nach dem Tode noch) zu stark an die Erde gebunden sind und deshalb rascher zu einer neuen Verkörperung drängen?
S. 130: Zum Bösen fällt Walther Bühler nur der Satz ein: Wer ist nicht schon einmal bestohlen, belogen oder betrogen worden?
Zum Lachen und Weinen: Wie verhalten sich der Ursprung und die Geschichte zum Ursprung und zur Geschichte der Sprache? Bildet sich die Schrift an einer ähnlichen Grenze wie die Sprache; gibt es eine objektive Korrespondenz zur Unterscheidung von Hören und Sehen und zur Beziehung von Lachen und Weinen zu dieser Unterscheidung?
Hat das Osterlachen nicht etwas mit jener Szene in Büchners „Lenz“ zu tun, in dem Lenz nach dem mißlungenen Versuch ein totes Kind wieder zum Leben zu erwecken, begreift, daß der Mond nur eine leere und tote Steinwüste ist: In diesem Augenblick griff mit einem entsetzlichen Lachen der Atheismus in ihm Platz.
Die Naturwissenschaft ist das Lachen, das der Theologie im Halse stecken geblieben ist.
Ist nicht der Faschismus, auch sein gegenwärtiges Wiederaufleben, ein Beweis dafür, welche ungeheuren Unterdrückungskräfte mobilisiert werden müssen, um der Verführung gut zu sein zu widerstehen?
Hat der prophetische Begriff der Unzucht etwas mit der Venus-Katastrophe (mit den Ascheren) zu tun?
Wenn in der Antike die Rhetorik dem entspricht, was in der modernen Welt die Technik ist, bedeutet das nicht auch, daß das Christentum, insbesondere die christliche Theologie (die Entwicklung der Orthodoxie), die technologisch durchgearbeitete und instrumentalisierte Mythologie (den historischen Stand des Herrschaftsdenkens) repräsentiert? Und ist das nicht die zwangsläufige Folge der theologischen Rezeption des Naturbegriffs (die dem Stand der politischen Geschichte angemessene historische Stufe der Naturerkenntnis)?
Das Christentum und die Provinz: Galiläa, Nordafrika und Irland?
17.11.93
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