Zur Befreiung der Theologie von ihrer Fixierung auf die Sexualmoral ist es vonnöten, daß insbesondere die Scham aus dieser Bindung an die verdinglichte Sexualmoral (oder die Sexualmoral aus dem Gravitationsfeld des moralischen Urteils) gelöst wird. Die Fähigkeit, die Scham frei, und d.h. herrschaftskritisch zu reflektieren, eröffnet jene Sensibilität, ohne die es Theologie nicht mehr gibt (hierauf bezog sich das Wort Walter Benjamins, daß die Theologie „heute bekenntlich klein und häßlich“ sei). Scham ist die Fähigkeit, sich im Blick der anderen, gleichsam von außen, wahrzunehmen; im Bann des Weltbegriffs bleibt dieser Blick auf die Sexualität fixiert; erst wenn er daraus sich löst, die „Sünde der Welt“ auf sich nimmt, wird auch die Sexualität aus dem Schuldzusammenhang, dem sie im Bann des Weltbegriffs verfallen bleibt, befreit.
Wenn Hegel in der Rechtsphilosophie (Anm. zu 164) von der natürlichen Scham spricht und diese an die Sexualität bindet, so ist damit aufs genaueste der Grund bezeichnet, aus dem die Idee des Absoluten sich erhebt (und dem Formgesetz des Staates sich angleicht). Die Sexualmoral steht unterm Bann des Absoluten; deshalb findet sie sich – in unterschiedlichen Ausprägungen – in allen drei „Weltreligionen“ (die alle auf ihre Befreiung vom Weltbegriff warten).
Hegel zufolge „konstituiert sich (die) Familie“ als ein „für sich Selbständiges gegen die Stämme oder Häuser“ (172); bedeutet das, daß auch die „Häuser“ noch vorstaatlich sind, der Pharao (das „große Haus“) demnach eher ein Häuptling als ein König gewesen ist?
Gehört nicht die Ham/Kanaan-Geschichte zur Ursprungsgeschichte des Staates? Gründet nicht der Staat in der hier entfalteten Konstellation von Trunkenheit und aufgedeckter Blöße, Anblick der Blöße und Verfluchung zur Knechtschaft (der Staat ist der Knecht des Knechts, und so der Inbegriff des Scheins der Freiheit)? Ist nicht die entfaltete Organisation des Staates an die organisierte Aufdeckung der Blöße gebunden, die in den säkularisierten Kontemplationsformen, von den Naturwissenschaften über die Ausstellung der Waren bis hin zu den Medien, sich vollendet?
Ist die Orthogonalität Grundlage und Produkt der aufgedeckten Blöße?
Ist der Bogen in den Wolken ein Hinweis auf die Venus-Katastrophe (auf ihr Ende), ein Hinweis auf jene Stabilisierung, die in der Trennung der oberen von der unteren Wassern (der Prophetie von der Philosophie) sich ausdrückt?
Die Philosophie hat sich vor der Gefahr des Untergangs, des Ertrinkens in den Wassern der Scham nur durch deren Instrumentalisierung retten können.
Wer sah alles den Himmel offen:
– Johannes (der Täufer) bei der Taufe Jesu (Mt 316, Mk 110, Lk 321), der den Heiligen Geist in Gestalt einer Taube herabkommen sah,
– „ihr werdet den Himmel offen und die Engel Gottes auf und nieder steigen sehen auf den Menschensohn“ (Joh 151),
– Stephanus, der „den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen“ sieht (Apg 755),
– Petrus, der „ein Behältnis wie ein großes leinenes Tuch herabkommen (sieht), das an seinen vier Ende auf die Erde herniedergelassen wurde; und darin waren alle vierfüßigen und kriechenden Tiere der Erde und Vögel des Himmels“ (1011f),
– Paulus, der „in den dritten Himmel entrückt“ war (2 Kor 122),
– Johannes: „Darnach schaute ich auf, und siehe da, eine Tür war geöffnet am Himmel … Sogleich geriet ich in Verzückung, und siehe da, ein Thron stand im Himmel, und auf dem Thron …“ (Off 41f),
– „Und ich sah den Himmel geöffnet, und siehe da, ein weißes Pferd, …“ (1911).
Auf der leinenen Decke, die Petrus sah, waren die vierfüßigen und kriechenden Tiere der Erde und die Vögel des Himmels, aber keine Fische. Petrus aber war Fischer, und er sollte Menschenfischer werden.
Steht das Wort vom „Menschensohn zur Rechten Gottes“ unterm Zeichen des Jona, den Gott auf die 120 000 verweist, die „rechts und links nicht unterscheiden können“?
Das augustinische ad litteram, aus dem sowohl die Aufklärungsgeschichte der Bibelkritik sich herleitet wie auch der Fundamentalimus, steht schon unterm Gesetz der Verweltlichung, der Säkularisation.
Gilt nicht das Wort „Barmherzigkeit, nicht Opfer“ auch für den Kreuzestod und den Zusammenhang seiner Vergegenständlichung (und Instrumentalisierung) mit dem kirchengeschichtlichen Wiederholungszwang, dem „Meßopfer“. Hat das Kreuz (über seine Beziehung zum Inertialsystem) etwas mit dem Satz: „Der Himmel ist sein Thron, die Erde der Schemel seiner Füße“ zu tun, und mit dem anderen Satz, wonach am Ende der Himmel wie eine Buchrolle sich aufrollen wird (dieses Aufrollen ist der Vision des Ezechiel zu entnehmen: dem Bild der Räder, die ineinander sich bewegen)?
1.6.1994
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