15.6.1994

Werturteile sind Instrumente der Verdinglichung (des Konkretismus und der Personalisierung). Sie erzeugen den Schein, als machten sie die Welt durchschaubar: sie organisieren die Erfahrung vor dem Hintergrund des Eigeninteresses, vor allem der eigenen Rechtfertigungszwänge. Werturteile gewinnen ihre Objektivität unter dem Gesetz des Exkulpationstriebs (sie sind Teil und Basis des Schuldverschubsystems). Werte gehorchen der Bekenntnislogik (dem moralischen Äquivalent des Profitinteresses), ihr Identitätsprinzip ist das kollektive der Konfession, der eigenen Nation. Werte sind (wie die subjektiven Formen der Anschauung insgesamt) Gemeinschaftskitt, ihr Einfluß aufs Handeln ist minimal (sie konstituieren sich in einer durch die moralische Form der Anschauung – durch die reflexionslose, verdinglichte Scham – definierten transzendentalen Logik: in einer dem Anschauen vorgegebenen, vom Handeln durch einen Abgrund getrennten Objektivität, einer moralischen Erscheinungswelt, die durch law and order zusammengehalten wird).
Kann es sein, daß der Anteil der „windigen Geschäfte“, der Geschäfte mit redundanter Gewinnorientierung und maximaler Gewinnerwartung (die spekulativen Geschäfte: neben dem Rüstungsgeschäft vor allem die Geld- und Grundstücksgeschäfte), anwächst, daß die Erwartung, Investitionen kämen der Produktion und der „Schaffung neuer Arbeitsplätze“ zugute, immer mehr zur Illusion, zu einem rational aufklärbaren (und aufzuklärenden) Schein wird? Der Satz „Leistung muß sich wieder lohnen“ wird in diesem Kontext wahr, wenn man ihn umkehrt: Leistung ist alles, was sich lohnt (Leistungsträger sind die Besserverdienenden).
Der Hegelsche Begriff der Spekulation hat mit dem gleichlautenden ökonomischen Begriff mehr als nur den Namen gemein: Beide gründen im Schein. Der Begriff der Spekulation ist von dem des Absoluten (der Spieglung des Subjekts im Unendlichen: dem Schatten, den die Subjektivität auf Gott wirft) nicht zu trennen. Wie die Idee des Absoluten löst er sich auf im Licht des Angesichts. Aber zugleich ist das Schicksal der Idee des Absoluten (das heute an den Formen des Rechtsextremismus und am Fundamentalismus zu studieren wäre) in die ökonomische Krise verflochten, die am Begriff der „Spekulation“ sich festmachen läßt.
Hegels Satz, daß „die bürgerliche Gesellschaft … bei all ihrem Reichtum nicht reich genug (ist), …“, scheint heute seine dynamische Seite hervorzukehren: Die Art, in der die bürgerliche Gesellschaft heute ihren Reichtum produziert, wird heute zur direkten Ursache der Produktion und Ausbreitung der Armut (des „negativen Reichtums“). Die sich beschleunigenden Wirbel und Strudel der Kapitalbewegungen entwerten und vernichten jeglichen Besitz mit Ausnahme des kapitalisierten Eigentums, das selbst zu den die Kapitalbewegungen beschleunigenden Kräften gehört (vgl. als Modell das Ergebnis des cartesischen Versuchs, die Gravitationskräfte aus mechanischen Ursachen abzuleiten). Die Besitzer dieses Eigentums, die die proletarisierten Erben des Feudalismus in ihre Reihen mit aufgenommen haben, sind feudalisiertes Proletariat, Mitglieder eines neuen Feudaladels, dessen Feudalherr das anonymisierte Kapital selber geworden ist.
Die subjektiven Formen der Anschauung abstrahieren vom Gesehenwerden: sie abstrahieren von der Realität des Angesichts; diese Abstraktion betrifft real die Armen, die Fremden und die Frauen. Symbol der Aufhebung dieser Abstraktion ist die Idee der Auferstehung der Toten.
Projektiver Grund
– der Urhäresie: der Gnosis (Erschaffung der Welt durch den Demiurgen) und
– der letzten Häresie, die die häresienbildende Kraft in sich aufgesogen und aufgezehrt hat: des Hexensyndroms (Herrin des Totenreichs).
Die Herrschaft, die in dem auf die Welt bezogenen Schöpfungsbegriff theologisch verankert (und von der Gnosis auf den „jüdischen Gott“ projiziert) wurde, wird im Hexenglauben, dessen fundamentum in re in den Naturwissenschaften sich konstituiert, auf die „magischen Kräfte“ der Hexen projiziert (das Totenreich ist die Natur im Bann des Inertialsystems).
Blind und lahm: Das sind die Attribute des Objekts.
Paulus hat den Mord an Stephanus, dessen Tod er niemals erwähnt, nur dadurch für sich gegenstandslos machen können, daß er
– sich selbst bei der Tat als Werkzeug der „Juden“ und
– die Tat als die Tat der andern, die sie ausführen,
gesehen hat. Und er hat nicht Stephanus, sondern die Kirche verfolgt. So konnte er die Leiden des Stephanus auf den Tod Jesu verschieben, den Kreuzestod zum Opfertod machen. Jesus, nicht Stephanus, ist ihm auf dem Wege nach Damaskus erschienen und hat ihn (nach seinem Verständnis) zu einem seiner Auferstehungszeugen gemacht. – Muß nicht, wer einen Mord zu verantworten hat, das „Gesetz“ und die „Werke“ verwerfen und alle Hoffnung in den Glauben und in die Gnade setzen? Ähnlich regungs- und empfindungslos wie Paulus in seinem öffentlichen Selbstverständnis gegenüber dem Tod des Stephanus waren später die Inquisitoren gegenüber ihren Opfern. War nicht diese projektive Verarbeitung der Schuld das Modell des kirchenchristlichen Erlösungsbegriffs (der kirchlichen Gnadenlehre), und das hier erstmals begründete Schuldverschubsystem der Kern der „Theologie hinter dem Rücken Gottes“: des Dogmas und der Bekenntnislogik? Hier ist die Geschichte der kirchlichen Auseinandersetzung mit den „Häresien“, ihre Logik und ihre gesellschaftliche Funktion, vorgebildet. Mehr noch: Die Konstruktion dieses Schuldverschubsystems war die Bedingung des Überlebens in der durch den Römischen Staat definierten Welt; seine welthistorische Bedeutung liegt darin, daß durch dieses Konstrukt die philosophische Aufklärung in einer Gestalt „gerettet“ worden ist, die dann zur Grundlage des modernen Säkularisationsprozesses geworden ist: in der der christlichen Theologie.
Paulus und das Relativitätsprinzip, die Opfertheologie und das Inertialsystem (Ursprung des Nominalismus im Schuldverschubsystem).
Die theologischen Probleme, die aus der Frage der Frauenordination sich ergeben, gleichen nicht zufällig denen der Gründung des Staates Israel (den Problemen der Säkularisation der messianischen Idee).


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie