Zur Begründung der Lehre vom Fegefeuer gehört es, daß aus dem Satz über die Sünde wider den Heiligen Geist (daß diese Sünde weder in dieser noch in der künftigen Welt vergeben werde) der Schluß gezogen wird: also gibt es eine „Vergebung in der künftigen Welt“. Ist dieser Schluß eigentlich zulässig? Und welche Rückwirkungen hat er auf das Verständnis des Satzes, aus dem er geschlossen wird? Kann es sein, daß der Nebeneffekt, das Wort über die Sünde wider den Heiligen Geist zu verwirren, gar nicht so unerwünscht war? Gehört nicht diese Verwirrung zu den Geschäftsgrundlagen der Kirchen?
Nach Auschwitz scheint der katholische Mythos, dessen Ausgestaltung (von der Ohrenbeichte über die Eucharistie-Verehrung bis hin zum Zölibat) zu den Bedingungen der Geburt des Fegefeuers gehörten, insgesamt obsolet geworden zu sein.
Im Krieg haben die Katholiken in dem Judenmord der Nazis nicht die eigene Verstrickung in diese Tat, sondern nur das empirische Modell dessen, was ihnen selbst nach dem Kriege drohte, wahrgenommen. Nicht das Entsetzen über die Tat, sondern die Angst vor einem vergleichbaren eigenen Schicksal und das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein, bestimmte das katholische Nachkriegs-Bewußtsein in Deutschland.
Und Auschwitz wirkte nach: Die Unfähigkeit, die Toten von Auschwitz in das durch die Lehre vom Fegefeuer (und durch Allerseelen) definierte Verhältnis zu den Verstorbenen mit hereinzunehmen, hat der Lehre vom Fegefeuer den Garaus gemacht; sie hat damit zugleich den gesamten Mythos implodieren lassen: Er ist in einem schwarzen Loch verschwunden. Der verzweifelte Versuch, die letzten Bastionen (das Zölibat und die verfaulenden Reste der kirchlichen Sexualmoral) noch zu halten, scheint nur dann noch gelingen zu können, wenn das, woran der Mythos einmal erinnerte, der Grund, aus dem er hervorgegangen ist, endgültig preisgegeben wird.
Zu Hegels Logik: – In welcher Beziehung steht die Begriffspaare Form und Materie, Form und Inhalt, zum Symbol des Kelchs? Ist nicht die erste Form die kantische „subjektive Form der äußeren Anschauung“, die des Raumes, die alles andere zum „Inhalt“ macht (und für den Raum ist alles, was nicht Raum ist, das Andere des Raumes: sein Inhalt)? – Was ist der Inhalt des Kelches: die Trunkenheit (der Inhalt des Taumelbechers), der göttliche Zorn, der Wein und das Blut (die Todesangst in Getsemane), die Unzucht. – Und in welcher Beziehung stehen sie zur Logik der Schrift? Jedes Buch hat einen Inhalt, ähnlich dem Behälter, dem Krug, dem Kelch, dem Raum (dem Lager, Magazin, aber auch dem Tempel, der sowohl den Tempelschatz, die Vorräte, als auch in seinem Zentrum, im Allerheiligsten, den Namen Gottes oder sein Bild enthielt: im Tempel wurde die Schrift er-/gefunden). Die Logik der Schrift konstituiert sich in einer Konstellation von – Tempelreligion (Opferdienst und Vergegenständlichung Gottes, Ursprung des Geldes und der Schrift), – Ästhetisierung, – Vergegenständlichung (das Objekt gründet im Seitenblick, ebenso die Reversibilität der Richtungen im Raum, die Äquivalenz des Positiven und Negativen, die Vorstellung eines linearen Zeikontinuums, Konstituierung der Geschichte durch Vergegenständlichung des Vergangenen), – Abstraktion (die Unterscheidung von Nomen und Verb, Subjekt und Prädikat), – Neutralisierung der Dinge, Trennung von Natur und Welt (Ursprung des Weltbegriffs), – Privateigentum, Recht und Staat. Der Raum als die Form der Gleichzeitigkeit (der Synchronie) enthält in seinen Richtungen das Bild der Zeit, das (in der Reversibilität der Richtungen im Raum und in der Unendlichkeit ihrer Ausdehnung) die Totalität der Vergangenheit und der Zukunft mathematisch abbildet. Jeder Punkt im Raum ist das Denkmal einer unendlichen Vergangenheit und Zukunft.
Was ist der Unterschied zwischen Tafel, Rolle und Buch?
10.8.1994
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie
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