2.9.1994

Die Geschichte, der Raum und das Vergessen. Der Raum neutralisiert die Zeit, macht die Geschichte zum Steinbruch, in dem man sich beliebig bedienen kann. Geschichtliche Taten und Ereignisse werden einander äußerlich und austauschbar, vergleichbar den gegen Raum und Zeit neutralisierten „Erfahrungen“ in den Laboratorien der Naturwissenschaften.
Die Bekenntnislogik schließt eine eingebaute Exkulpationsautomatik mit ein; deren Kern ist das Schuldverschubsystem, durch das die Bekenntnislogik mit dem Schuldbekenntnis verbunden ist. Ist die Exkulpationsautomatik die transzendentale Ästhetik zur Bekenntnislogik?
Kein Bekenntnis ohne Feindbild: Das Gebot der Feindesliebe ist ein durchschlagender Einwand gegen Dogma und Bekenntnislogik.
Die moderne Praxis kirchlicher Architektur, Innenwände wie die Außenwand zu gestalten, drückt aufs genaueste die Beziehungen der Gläubigen zu ihrer Kirche aus: Sie sind zugleich drinnen und draußen, die Innenwelt hat der Außenwelt, und die Außenwelt der Innenwelt sich angeglichen. Die Differenz ist getilgt, beide sind ununterscheidbar geworden, damit aber ist die Außenwelt zur Norm der Innenwelt und die Innenwelt vollends barbarisch geworden. Ist das nicht die logische Folge und die fatale Erfüllung der inneren Säkularisationsgeschichte: der Geschichte der Verweltlichung, Produkt der verandernden Kraft, die als das bewegende Zentrum der Säkularisationsgeschichte sich erweist.
Mit dieser Beziehung von Innen und Außen hängt es zusammen, daß, was Karl Rahner einmal die absolute Zukunft genannt hat, nicht mehr in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit liegt. Quellpunkt der verandernden Kraft ist die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, die sie nur noch in den vergangenen Hoffnungen erfahrbar macht. Die Wiedererweckung der vergangenen Hoffnung ist der Beginn der Auferstehung.
Eine logische Studie: Hängt der demagogische Trick Kohls, die Gemeinheiten, die er von sich gibt, zugleich zu dementieren und seinem politischen Gegner anzuhängen, nicht mit der Logik seines Geschichtsbegriffs (und dieser mit Hitlers Begriff der Vorsehung) zusammen? Die gleiche Logik macht ihn unfähig, die Untaten von Rostock, Mölln, Solingen anders als durch den Blick des „Auslands“, und d.h. als „Schande“ wahrzunehmen. Es ist dieser Blick, der insgeheim die Zustimmung zu den Dingen, von denen er sich verbal distanziert, signalisiert.
Der Slogan „Bewahrung der Schöpfung“ bleibt falsch, solange er nur auf die äußere Natur sich bezieht (ist nicht die Ökologie-Diskussion u.a. auch ein Produkt des Schuldverschubsystems, dient sie nicht auch der Ablenkung von den heranreifenden gesellschaftlichen Naturkatastrophen, gehört sie nicht in den Bereich der Exkulpationsstrategien?).
Erinnert nicht das Wort „Gottesfrage“ (Duchrow/Veerkamp) fatalerweise an die Seins- oder die Judenfrage (generell an Heideggers Begriff der Frage)?
Joh 129 stellt den Aktualitätsbezug des Wortes (des Logos), seine Beziehung zur Prophetie, her: durch die Hereinnahme der Schuld-Reflexion.
Zu Jürgen Ebachs Hinweis auf das „es rächt sich“ ist an den Gebrauch dieser Wendung in der Nachkriegszeit, nach Bekanntwerden der organisierten Judenvernichtung durch die Nazis, zu erinnern: Fromme Katholiken waren überzeugt: „Das wird sich einmal rächen“. Aber das wurde schnell vergessen; statt dessen sollen die sogenannten „Rachepsalmen“ aus dem kirchlichen Brevier herausgenommen worden sein. War die Erinnerung an die Schuld so nahe gerückt, daß sie unerträglich wurde (wird man nicht daran zweifeln dürfen, ob der Abschaffung der Todesstrafe wirklich nur „humane“ Motive zugrundelagen)?
Über den nationalen Ursprung der Transzendentalphilosophie: Die Begriffe historisch und empirisch waren einmal gleichbedeutend; das Historische war das Empirische und umgekehrt. Dagegen enthält der deutsche Begriff der Geschichte eine Verschiebung, der mit der Wortbedeutung, die ans neutrale, subjektlose Geschehen (das ontologische Sein) erinnert, zusammenhängt. Die Geschichtsphilosophie ist eine Es-Philosophie; und Hegels Bemerkung, daß das Wort Geschichte sowohl die historischen Taten und Ereignisse als auch die Geschichtsschreibung (die sie zu historischen Taten und Ereignissen erst macht) bezeichnet, weist auf das Zentrum des Neutralisierungsprozesses (und auf die in ihm wirkenden Kräfte, auf seine sehr spezifisch deutsche Logik) hin.
In Spinozas Deus sive Natura steht dieser Deus fürs Absolute, für den Gott der Philosophen: für den Schatten, den das Subjekt auf Gott wirft.
Das reale Objekt der Sexualmoral wäre (wenn man sie auf ihre herrschaftskritischen Ursprünge zurückführt) die Mordlust, nicht die Sexuallust. Hier gründet das Wahrheitsmoment der Lustfeindschaft.


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