7.10.1994

Haben das Buch des Lebens und der Baum des Lebens (der mit dem Sündenfall von der Welt getrennt worden ist) etwas mit einander zu tun? Ist es nicht die Prophetie, die sich ins Buch des Lebens einschreibt?
Die Logik der Schrift ist die Urteilslogik; durch sie wurden Natur und Welt getrennt.
Die „fortgeschrittenen“ Zweige der Naturwissenschaften sind heute ebensosehr empirisch wie sie zugleich den vergeblichen und – aufgrund des ihnen innewohnenden Wiederholungszwangs – aussichtslosen Kampf gegen den blinden Fleck führen. Es käme darauf an, den Zirkel (und das logische Gravitationsfeld), in dem sie sich bewegen, zu analysieren und aufzulösen.
Wer heute sagt „Ich bin doch nur ein kleines Rädchen“, den trifft die Frage Gottes: „Wer hat dir gesagt, daß du nackt bist?“
Die Nacktheit ist die Nacktheit des Andern gegenüber allen Andern. Den Ursprung dieser Nacktheit benennt Hegels Satz: Das Eine ist das Andere des Anderen. Nacktheit ist der Reflex des Weltbegriffs in allen weltlichen Dingen. Deshalb sind Tatsachen nackt.
Wenn heute die sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und das Mobbing immer deutlicher ins Feld der Aufmerksamkeit rücken, so verweist das zugleich auf einen strukturellen, systematischen Sachverhalt: Sie sind ein Indiz für den historischen Zustand der Welt.
Der Begriff Kollektivscham ist ebenso unverschämt wie schamlos. Zu ihm paßt das Wort des Bundeskanzlers: Es gibt Wichtigeres als Solingen.
Die Externalisierung der verinnerlichten Scham ist vergleichbar jenem Prozeß, in dem die Außenwelt bewußtlos und ungehindert in alle Manifestationen der Religion (der Kirche) eindringt, sie durchsetzt, überwuchert und verformt. Die Verweltlichung der Kirche erreicht heute den Stand der Selbstverfluchung.
Die Kollektivscham ist der Unzuchtsbecher.
Ist nicht die Apokalyptik eine Gestalt der Prophetie, in der sie selber nochmals der Logik der Schrift unterliegt, was sie in ihren avanciertesten Gestalten selber reflektiert. Ihr Antlitz bleibt durch das Erleiden des Zwangs entstellt. Diese Entstellung aber ist wahrer als ihre Neutralisierung durch die Person.
Ohne Ansehen der Person: Die ungeheure Wahrheit dieses Wortes: das Angesicht ist ohne Ansehen der Person.
Die die Apokalyptik bewegende Kraft ist der Wunsch nach Enthüllung des Angesichts.
Nicht „die Juden sind Gottesmörder“, sondern im Kreuzestod erfüllt sich die Schrift. Rückt nicht der ganze Paulus in ein anderes Licht, wenn in seiner Kritik des Gesetzes die Kritik der Logik der Schrift erkennbar wird?
Das Dogma gehört zum Kelchsymbol. Das Wort „Vater, wenn es möglich ist, laß diesen Kelch an mir vorübergehen“ gilt nicht zuletzt auch für das Dogma. Nur in diesem Kontext ist das Dogma ein Teil des Willens des Vaters.
In welcher Beziehung steht der Name des Vaters zum Problem der Logik der Schrift? Zum Namen des Vaters (zur Widerlegung der homousia) gehören:
– Getsemane (Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe),
– „den Tag und die Stunde kennt niemand, auch nicht der Sohn, nur der Vater“,
– nicht der Sohn, sondern der Vater vergibt die Plätze zur Linken oder Rechten des Sohns,
– „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist“.
Der Name des „dunklen Mittelalters“ ist durchaus projektiv: Das Dunkle am Mittelalter ist das Verdrängte des verdinglichten Bewußtseins (die opfertheologische Vorgeschichte des Objektivierungsprozesses). Die Aufklärung des Mittelalters rührt an die dunklen Gründe der säkularen Zivilisation.
Das Mittelalter ist die Geschichte des Ursprungs des Objektbegriffs; der Objektbegriff ist ein Produkt der Logik der Schrift: Mit dem Abstraktionsschnitt, den Schrift vollzieht, entspringt der Objektbegriff. Der Mechanismus, dem die Konstitution des Objektbegriffs sich verdankt, ist durch die kantische Vernunftkritik erstmals ins Bewußtsein gehoben worden.
Die Verinnerlichung des Schicksals (der Ursprung des Begriffs) und die Verinnerlichung der Scham (der Ursprung des Objektbegriffs) bezeichnen die Phasen der Geschichte der Logik der Schrift. Gegen die Schicksalsidee und seine Folgeprodukte, die Herrschaftsstrukturen, richtet sich das Hören, das dann nicht zufällig als „Gehorsam“ in diese Herrschaftsstrukturen wieder eingebunden worden ist.
Die Logik der Schrift hat die Prophetie von ihrem Aktualitätsbezug getrennt; hier liegt der Grund, weshalb dieser Aktualitätsbezug im kirchlichen Antijudaismus auf die Juden verschoben werden mußte: Nur so war es möglich, sich selbst aus diesem Aktualitätsbezug (aus der „Unheilsprophetie“) herauszustehlen. Zu den Folgekonstrukten gehörten insbesondere die Opfertheologie und die Lehre von der „Entsühnung der Welt“.
Zusammen mit der Entwicklung der Raumvorstellung hat die Logik der Schrift zur Totalität sich entfaltet.
„be-“ ist das Präfix der Vergegenständlichung, „zer-“ das der Zerstörung durch andere, „ver-“ das der Selbstzerstörung, der Zerstörung einer Sache durch ihr eigenes Anderssein.


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