Wenn die Philosophie das Produkt der Verinnerlichung des Schicksals ist, dann ist das Christentum das Produkt seine Personalisierung. Die Opfertheologie war die gleichsam natürliche Folge dieses Konstrukts; sie reflektiert die dämonischen Züge dieser Gottesidee: Die Versöhnung durch Unterwerfung (die „Islamisierung“ des Christentums) hebt die Idee der Versöhnung auf.
Heldenfriedhof: Die Märtyrer-Verehrung (mit dem zugehörigen Reliqienkult) war das früheste Symptom der Remythisiserung des Christentums. Sie setzt das Verständnis des Leidens Jesu als Sühneleiden (an dem das Leiden der Märtyrer, deren ermordete Körper unter den Altären lagen, Anteil haben sollte) voraus. Eines der frühesten Zeugnisse des Reliqienkults war das durch Helena, die Mutter Konstantins wiedergefundene Kreuz Jesu. Durch den Begriff des Märtyrers wurde das Leiden zu einem „Zeugnis der Wahrheit“, zu einem Teil der Beweislogik, die den christlichen Glauben zu begründen fähig sein sollte. Die Logik dieses Konstrukts ist die der Opfertheologie, deren politischer Mißbrauch seitdem ebenso so entsetzliche wie unermessliche Folgen hatte. Wenn der Tod Jesu etwas „beweist“, dann die Tatsache, daß ungerechtes Leiden sich in dieser Welt nicht ausschließen läßt, daß vom Leiden eines Opfers nicht auf die Schuld des Leidenden zurückgeschlossen werden darf. Er beweist auf keinen Fall die Gerechtigkeit der Sache, für die er einstand. Das Heldentod-Syndrom, das aus der Logik der Opfertheologie sich herleitet, spekuliert eigentlich nur auf die angebliche „Unerträglichkeit“ des Gedankens, daß der Tod der Opfer der Kriege nicht mehr durch den Hinweis auf eine „gute Sache“ sich begründen und rechtfertigen läßt; es spekuliert auf das Fortleben der Logik der Blutrache. Mit der „Kriegsgräberfürsorge“ (die in dem Augenblick begann, als sie eigentlich nicht mehr zu begründen war: nach dem Ende des Ersten Weltkriegs) wird eigentlich nur der Nationalismus gepflegt, der durch die gleichen Kriege widerlegt worden ist, deren Opfer dann für die irrsinnige Rechtfertigung des Nationalismus herhalten müssen. Die Folgen werden uns mit den Bürgerkriegen, über die die Medien aus Gründen, die nichts mehr mit der Sache, aber sehr viel mit politischen Interessen und politischer Opportunität zu tun haben, täglich berichten, in diesen Berichten immer wieder vor Augen geführt. Die Opfer im Sudan interessieren (wie die Opfer der Fremdenfeindschaft in diesem Lande) niemanden, die des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien hingegen sollen offensichtlich wieder die „Wahrheit“ des gleichen Irrsinns beweisen, dessen Opfer sie in Wirklichkeit sind.
War nicht das Märtyrer-Konstrukt die historische und sachliche Voraussetzung der geschlechtsspezifischen Aufteilung der Heiligen in Bekenner und Jungfrauen?
Der Historismus ein Produkt der Opfertheologie: Er hat die Instrumentalisierung des Todes universal gemacht, er erzeugt und reprodziert die organisierte Erinnerungslosigkeit (führt der Vergleich der jüdischen mit der griechischen Geschichtsschreibung nicht auf die gleiche Differenz, die die Prophetie von der Philosophie unterscheidet?).
10.12.1994
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