5.3.1995

Keine Wand ohne Rückseite, oder: Bemerkung zur Bekenntnislogik (zu Jer 3134 und Kafkas Erzählung „Vor dem Gesetz“): Hat nicht jeder nur seinen eigenen Zugang zum Gesetz (zur Gotteserkenntnis)? Wer glaubt, einen allgemeinen Zugang gefunden zu haben und ihn allen anderen vorschreiben will, steht nicht nur selbst vor einer verschlossenen Tür, sondern versperrt sie auch für andere.
Von der Pflicht zur Gotteserkenntnis kann sich niemand freisprechen. Aber wer nach Gotteserkenntnis strebt, hat es auch mit der Wand zu tun, die die andern vorm Gesetz aufrichten, mit der sie allen den Zugang versperren. Unterscheidet sich nicht die philosophische von der mystischen Schöpfungslehre dadurch, daß, während diese mit dem vierten Tag endet, jene mit dem fünften beginnt? Die Welt, die Gott aus dem Nichts erschaffen hat, ist das große Seeungeheuer, das Tier aus dem Wasser (das Korrelat des hegelschen Absoluten). Und die Kirche in der Welt: das ist der Bauch des großen Fisches, der Jonas verschlungen hat. Die Gottesfurcht, die der Anfang der Weisheit ist, ist das Ende der Dummheit, die aus der Herrenfurcht stammt.
Der Rechtfertigungszwang, unter dem heute alle stehen, ist der Schatten von Auschwitz. Die Frage „Warum Auschwitz?“ setzt den historisierenden Blick voraus. Wichtiger wäre, den Schatten, den Auschwitz auf uns wirft, und der in diesem historisierenden Blick sich reproduziert, zu durchdringen. Der Schatten, den Auschwitz auf uns wirft, ist die Reflexion des Schattens, den das Subjekt in der Idee des Absoluten auf Gott wirft. Gehört nicht die Geschichte der Fälschungen zu den Ursprüngen (zur Selbstbegründung) und das kontrafaktische Urteil zum Ende (zur Selbstwiderlegung) des historisierenden Blicks, der objektivierenden Geschichtsschreibung (der Verdrängung des Bewußtseins, daß die Toten unsere Richter sein werden)? Steht das kontrafaktische Urteil in der Logik der Geschichtsschreibung an der Stelle, an der das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit – oder das der Identität von träger und schwerer Masse? – in der Logik der Naturwissenschaften steht? Sind die Geschichtsfälschungen säkularisierte Formen der Mystik (vgl. die Apokryphen, den Pseudodionysius und den Sohar)?
Die Idee des Ewigen schließt die Vergangenheit von sich aus; dadurch unterscheidet sie sich vom Begriff des Überzeitlichen, der unterm Primat der Vergangenheit steht. Die Idee des Ewigen hält die Vergangenheit offen, der Begriff des Überzeitlichen verschließt die Zukunft. Der Unterschied läßt sich sinnfällig machen am Verhältnis zur Prophetie: Im Licht des Ewigen ist die Prophetie nicht vergangen, sondern immer gegenwärtig: das Wort, das Gott durch die Propheten spricht und das auf seine Erfüllung (daß wir es hören und tun) wartet, während der Begriff des Überzeitlichen (der auf andere Inhalte, auf einen anderen Wahrheitsbegriff sich bezieht) an die Vorstellung anknüpft, daß die Prophetie in der Menschwerdung des Gottessohns sich erfüllt hat und daß sie für uns vergangen ist (als Unheilsprophetie nur noch auf die Juden sich bezieht, so als bestünde die Erlösung darin, daß Jesus uns gegen den Fluch des Gesetzes gleichsam abschirmt).
So konnte der Eindruck entstehen, daß die Prophetie als vergangene ohne Rest der historischen Forschung freigegeben sei, bis hin zum bibelwissenschaftlichen Mißbrauch des Gottesnamens, der zu einem unter vielen toten Götternamen geworden ist, die mit den Völkern, an die sie erinnern, der Vergangenheit angehören. So ist auch Israel am Ende zu einem toten Volk geworden, das noch nicht gemerkt hat, daß es sich selbst überlebt hat (und Hitler hat nur versucht, dieses „Urteil der Geschichte“ an den Juden vollstrecken). In diesen Zusammenhang gehört es, wenn in christlichen Texten der Name Israel von der Kirche usurpiert wird, während die Israeliten (wie für den Pharao und die Philister) für christliche Autoren wieder zu Hebräern geworden ist. Äquivalenzen: – Die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit hat das Ungleichnamige gleichnamig gemacht:
– Stoß: vorn und hinten (Zerstörung des Angesichts),
– Gravitation: oben und unten (Aufhebung der Unterscheidung von Herrschaft und Religion, Zerstörung der Sprache, ihrer dialogischen Struktur durch die Schrift, Zerstörung des Namens),
– Lichtgeschwindigkeit: rechts und links (Trennung des richtenden Prinzips von der Barmherzigkeit, Ursprung des Feuers).
– Inertialsystem als Produkt der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit: Zerstörung des Lichts, des Namens, der Barmherzigkeit, insgesamt der sinnlichen Welt; Konstruktion des Totenreichs (Schattenreich, Scheol).
– Naturwissenschaft als Instrument der Legitimation des Bestehenden (Naturwissenschaft und Kapitalismuskritik).
– Das Gravitationsgesetz und die Vergesellschaftung von Herrschaft,
– die Elektrodynamik und der Zivilisationsbruch (Bedeutung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit).
Der Name des Himmels:
– schamajim, Wasser und Feuer (Was und Wer), – die Feste (die Einheit des Was und Wer) und die Trennung der Wasser (oberhalb und unterhalb),
– Tierkreis und Planetensystem,
– Spiegelung des Himmels im Inertialsystem: die Todesgrenze im Namen des Himmels,
– Himmel als Buch, das Buch des Lebens (die nicht vergangene Vergangenheit), Jüngstes Gericht, „Weltuntergang“ als Entmächtigung des Begriffs und Befreiung der Namen (der verdrängten vergangenen Zukunft).
– Der neue Himmel und die neue Erde, die Auferstehung der Toten. Die Welt als System von Instrumentalisierungen (Selbsterhaltung im Kern des Weltbegriffs): Welt und Tier. Differenzierung im Begriff der Instrumentalisierung: Das Tier aus dem Meer und das Tier vom Lande.


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