Die Sprache ist in einer Verfassung, in der nicht mehr der Inhalt des einzelnen Urteils und seine Begründung, sondern nur noch die Konstellation, in der beide erscheinen, über die Wahrheit des Urteils entscheidet. Urteile sind heute generell wahr und falsch zugleich. Das gilt für die Wissenschaft wie fürs Recht. Die transzendentale Logik reflektiert genau diesen Zusammenhang: Mit der apriorischen Begründung des Wissens wurde seine Beziehung zur Wahrheit neutralisiert (sind die Dinge, wie sie an sich sind, unerkennbar geworden). Die transzendentale Ästhetik bezeichnet die Gewalten, die diesen Zustand herbeigeführt haben: die subjektiven Formen der Anschauung (zu denen neben Raum und Zeit auch das Geld und die Bekenntnislogik gehören).
Das Absolute ist der „Schöpfer der Welt“ und der Vater der Lüge. Die noesis noeseos, der aristotelische Ursprung der Idee des Absoluten, ist das Produkt der Anwendung der Orthogonalität aufs Denken (oder die Selbstreflexion der Urteilsform, die selber wiederum der Orthogonalität sich verdankt). Das „Nichts“, aus dem der Theologie zufolge Gott die Welt erschaffen hat, ist das antizipierte Produkt der dreifachen Leugnung (zu deren Geschichte die Opfertheologie und die Bekenntnislogik gehört).
Die Entfaltung der Raumvorstellung ist ein Vorgang, der seine Entsprechung in der Sprache hat. Hat das etwas mit Japhet zu tun (Raum schaffe Gott dem Japhet, daß er wohne in den Zelten Sems, Kanaan aber sei ihm Knecht – Gen 927)?
Hängt die Empfindlichkeit der Ärzte (und ihrer Standesorganisation) damit zusammen, daß sie imgrunde wissen, wovon sie abstrahieren und was sie mit dieser Abstraktion anrichten? Und hängt die Tatsache, daß die Professoren in der Rangordnung des öffentlichen Ansehens vom ersten auf den vierten Rang gerückt sind, mit der Deregulation des Wissens zusammen?
Hat die Beziehung von Sinus und Tangens etwas mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu tun, mit der im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sich manifestierenden Beziehung von Raum und Zeit?
Hat die creatio ex nihilo nicht ihre genau bestimmbaren Objekte (Himmel und Erde, die großen Seetiere und den Menschen, aber nicht „die Welt“)?
Durch die historische Objektivation wird das Vergangene aus der Zone, auf die allein die Idee der Auferstehung sich bezieht, herauskatapultiert. Nach Jesus ist der „Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs … ein Gott der Lebenden, nicht der Toten“. Ist nicht diese Nacht des Todes, in die wir das Vergangene eintauchen, die Nacht, auf die sich die Gethsemane-Geschichte und der Hahn in der Geschichte von den drei Leugnungen bezieht? Kann es sein, daß die Auferweckung der Toten von Bedingungen abhängt, die auch in unsere Hand gelegt sind? Die christliche Unsterblichkeitslehre hat die Idee der Aufstehung (durch Rückbeziehung aufs Ich) neutralisiert. Wenn es im neuen Weltkatechismus der Kirche heißt, daß Himmel und Erde nur ein mythischer Ausdruck für alles, was ist, sei, wird dann nicht dem Wort vom Binden und Lösen die Grundlage entzogen?
Die Erinnerung an Auschwitz muß, wenn sie an den Bereich der Wahrheit rühren will, auch das mit einschließen, was durch Auschwitz aus der Erinnerung getilgt werden sollte.
Auschwitz ist die Erinnerung daran, daß der Tod unser Werk ist („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“). Und so hängt Auschwitz in der Tat mit dem Ursprung und der Geschichte der Naturwissenschaften zusammen, insbesondere mit ihrem Ursprung in der Opfertheologie.
Die Idee der Auferstehung ist erst dann wieder denkbar, wenn sie nicht mehr mit der Verdrängung des Bewußtseins, daß der Tod das Schrecklichste ist, verbunden ist. Dieser verdrängte Schrecken kehrt als das Movens des historischen Aufklärungsprozesses, als die Wut der Objektivierung, wieder. Die Opfertheologie war der vergebliche Versuch der Selbstheilung dieser Wut. Sensibilität ist die Fähigkeit, die Schmerzen, die wir durch die Bedienung des Apparats, der unser Leben erhält, anderen zufügen, erfahrungsfähig zu halten. Die Fähigkeit zur Rekonstruktion der Erfahrung der Objekte von Herrschaft (die memoria passionis?) ist der Grund der Fähigkeit, den vergessenen Traum Nebukadnezars zu rekonstruieren und zu deuten (der Grund, aus dem die Apokalypsen hervorgegangen sind). Repräsentant dieser Objekterfahrung ist der Kreuzestod Jesu; die Opfertheologie hat diese Erfahrung durch Instrumentalisierung verdrängt. Ist es zulässig, die Rekonstruktion der Objekterfahrung als den wirklichen Inhalt der Opfertheologie zu bezeichnen (in der Konsequenz des Satzes „Barmherzigkeit, nicht Opfer“)?
Die Idee der Barmherzigkeit ist ohne die Vorstellung, daß das Vergangene nicht nur vergangen ist, nicht zu halten: Sie schließt die Idee der Auferstehung (und damit die Sprengung des Naturbegriffs) mit ein. Im Licht der Idee der Barmherzigkeit gibt es eine geheime Korrespondenz zwischen der unerlösten Vergangenheit und und den schrecklichen Instrumenten des Todes in der Gegenwart: von den Knästen über die Irrenhäuser, Schulen und Kasernen bis zu den Religionen, die das Haus „leer, gereinigt und geschmückt“ für den Einzug der sieben unreinen Geister vorbereiten: „Und die letzten Dinge dieses Menschen werden ärger sein als die ersten“.
Ursprung und Ziel: Bewegt sich der historische Objektivationsprozeß nicht bewußtlos und mit wachsender Verblendung auf den Anfang zu, den er zugleich unsichtbar und unkenntlich macht? Und bezieht sich nicht darauf das Wort vom „Greuel der Verwüstung am heiligen Ort“. Die Dialektik der Aufklärung war ein erster Versuch, diesen Greuel der Verwüstung von innen zu begreifen. Hat dieser Greuel der Verwüstung nicht zentral etwas mit dem Zustand der Kirche zu tun, und ist das nicht eine Konsequenz daraus, daß die Kirche selbst das Lösen noch ins Binden mit hereingenommen hat (und so den Punkt, auf den sich das Wort vom Lösen bezieht, sowohl hervortreibt wie auch zugleich auf eine entsetzliche Weise unkenntlich macht)? Das tohuwabohu, ist das nicht der Kern und das Resultat des Objektivationsprozesses? In der Geschichte der jüdischen Mystik wurde es auf die Beziehung von Form und Materie bezogen; heute „erfüllt“ (und enthüllt) es sich im Inertialsystem.
Ist auf der südlichen Halbkugel die Beziehung von Himmel und Erde invers zu der auf der nördlichen Hälfte der Erde? Steht nicht die Entdeckung der südlichen Halbkugel in Zusammenhang mit der kopernikanischen Wende, und waren beide nicht eine Folge und eine Ausweitung der Erfindung des Neutrum (dem Turmbau zu Babel)?
Die Philosophie hat den Zeitkern der Wahrheit durch das tode ti, das hic et nunc, das Hier und Jetzt (vgl. die Hegelsche Diskussion hierzu in der Phänomenologie des Geistes) getilgt. Seitdem ist ihr Gegenstand das „Überzeitliche“, das vom Ewigen dadurch sich unterscheidet, daß es unterm Bann der Vergangenheit steht. Das tode ti ist das originäre Instrument der List der Vernunft (die damit am Ende sich selbst überlistet).
Nach Otto Karrer (Anmerkung zu Joh 15, zu katalabein – fassen, greifen, NT, S. 251f) drückt „das griechische Zeitwort … durch den sog. Aorist das immer Gültige aus, wie in Sprichwörtern“, während „die Medialform … empfangenden Sinn“ hat.
4.4.1995
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