16.10.1995

Rache des Objekts: Das Wort Faschist läßt sich sowohl als Prädikat als auch als Adjektiv verwenden (X ist ein Faschist; der faschistische Abgeordnete). Er trifft sein Objekt nur von außen, was voraussetzt, daß das Grauen, das er bezeichnet, keine lebendige Erfahrung mehr bezeichnet, weil es vergangen ist. Das Wort Mörder ist nur als Prädikat verwendbar: Es bezeichnet ein Individuum, keine Eigenschaft, oder genauer: eine Eigenschaft, die keine andere neben sich duldet, die unmittelbar individualisierende Wirkung hat. Der Begriff des Mörders hat die gleiche logische Qualität wie der des Objekts: Der Mörder ist das Nicht-Ich, sein Name verdrängt die Subjekteigenschaft dessen, den er bezeichnet. Wenn ich jemanden einen Faschisten nenne, urteile ich über ihn, wenn ich ihn einen Mörder nenne, verurteile ich ihn. Im Falle des Antisemitismus brauche ich „den Juden“ nicht mehr zu verurteilen, er ist von Natur (und nicht durch eine Tat, wie der Mörder) unentrinnbar verurteilt. Das Vorurteil macht im Juden das Nicht-Ich, das Objekt, zum Subjekt. Der adjektivische Gebrauch dieses Namens bezeichnet neben der Zugehörigkeit eines Einzelnen zu dieser Gruppe (zu dieser „Rasse“) ein Ensemble von Eigenschaften, an denen man einen Juden erkennt, von denen aber auch eine Ansteckungsgefahr ausgeht, die auf andere (auf Nicht-Juden) übergreifen kann. Dieses Konstrukt, aus dem das rassenhygienische Ziel der Endlösung zwanglos sich herleiten läßt, unterscheidet den Antisemitismus von jedem anderen Vorurteil. War nicht diese Ansteckungsgefahr die tiefste Angst des Faschismus, der darin die Mechanismen seines eigenen Ursprungs und seiner Ausbreitung und im Juden das Bild seiner selbst wiedererkannte? Nur durch die Projektion auf die Juden war die Wirksamkeit dieser Mechanismen und ihre Legitimation sicherzustellen; sie würden sich selbst auflösen, wenn es gelingen würde, sie ins Bewußtsein zu heben. Hitler, dem in den zwölf Jahren ein ganzes Volk verfallen war, wurde nach dem Krieg nur noch als Popanz, als komische Figur wahrgenommen. Die Anziehungskraft, die diese Figur heute auf die Neue Rechte wieder auszuüben scheint, ist keine unmittelbare, eher eine nostalgische; sie ist, wie es scheint, vermittelt durch die Historisierung des Faschismus, durch ein Bewußtsein, das ihn – dank der „Gnade der späten Geburt“ – nur noch als Vergangenheit kennt.


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