15.12.95

Der Definitionsmacht des Staates, die eine männliche Logik ist, sich entziehen, das heißt vor allem: die Logik dieser Definitionsmacht, die Logik des Herrendenkens, reflektieren, um ihr nicht selber zu verfallen. Nicht trotzig das Urteil der Bundesanwaltschaft sich zu eigen machen und nur das Vorzeichen umkehren (und das Unmögliche zu versuchen: den Mord, der nicht zu rechtfertigen ist, zu rechtfertigen): So betreibt man gleichsam präventiv und zugleich in vorauseilendem Gehorsam das Geschäft des Feindes. So macht man die Kronzeugen überflüssig, wird man zum Kronzeugen gegen die eigenen Genossen, fügt sich dem synthetischen Urteil apriori, dessen williges Opfer man so wird. In einem der ersten Versuche über die Folgen der KZ-Haft ist der Freudsche Begriff der „Identifikation mit dem Aggressor“ verwendet worden. Er bezeichnete das merkwürdige Phänomen, daß Häftlinge der Verführung, die Logik und die Urteile ihrer Peiniger sich zu eigen zu machen, nur schwer sich entziehen konnten; diese „Identifikation“ war ein Teil ihrer Überlebensstrategie (sind nicht die Rituale der Staatsschutzprozesse, und sind nicht insbesondere die Haftbedingungen nur als Teil des Versuchs, diesen Mechanismus zu instrumentalisieren, zu verstehen?).
Die wechselseitige Durchdringung von Justiz und Verwaltung, die der Exkulpationslogik (der Ersetzung der gerechten durch die rechtfertigende Verantwortung) manifestiert sich insbesondere in den Staatsschutzverfahren, in denen es um die Rechtfertigung der rechtfertigenden Instanz (des Staates) geht, an der Beziehung der Fertigung synthetischer Urteile apriori (Überleitung der Rechtsprechung in ein Subsumtionsverfahren) zur Vorherrschaft des Feinddenkens (der Feind ist das gesellschaftliche Äquivalent des Objekts, des Gegenstands der Subsumtion).
In den Texten der InfoAG gibt es Argumente, die den Eindruck erwecken, daß sie der Logik der Bundesanwaltschaft – nur gleichsam seitenverkehrt – aufs genaueste entsprechen. Für einen Augenblick erweckten sie den Verdacht, daß sie von einem Provokateur stammen könnten. Gehört nicht diese Argumentation zum Objektbild der Bundesanwaltschaft, das sie braucht, um die Verfahren in dieser Form durchzuziehen?
Anstatt in offene Fallen hineinzurennen, wäre es sicher wichtiger, die Konstruktion dieser Fallen zu studieren. Nur so ließe sich ihre Wirksamkeit dekonstruieren.
Wenn Anklagevertreter und Gericht die Angeklagte und ihre Verteidiger als Feinde und die Prozeßbesucher als Sympathisanten ansieht, so ist das deren Problem, nicht unser Problem. Es ist nur ein Hinweis auf mangelnde Differenzierungsfähigkeit. Wer sich davon nicht düpieren läßt, wird in der Lage sein zu bemerken, in welche Fallen sie hineinrennen.
Sind die merkwürdigen Reaktionen auf die „Kirchenleute“ eigentlich so weit entfernt von der Logik des Senatsbeschlusses, mit dem er das beantragte seelsorgliche Gespräch ablehnte?
Daß man Dinge verstehen kann, ohne sie gutzuheißen (und daß „alles verstehen“ nicht „alles verzeihen“ heißt), ist der wichtigste Grundsatz jeder Aufarbeitung der Vergangenheit. Aber haben die 68er nicht genau diesen Grundsatz verworfen? Es war einfacher, alles zu verurteilen, und in diese Verurteilung die ganze Generation derer, die den Faschismus miterlebt hatten, mit einzubeziehen. Daß der Faschismus vergangen war, daß er für die nachgeborene Generation nur noch gegenständlich war, hat ihr Urteil so gnadenlos gemacht. Es war so einfach: Über Schuld oder Unschuld entschied allein das Datum der Geburt, und dieser Generation kam es weniger darauf an, daß das nicht wieder passierte, als vielmehr darauf, daß, wenn es wieder passierte, sie jedenfalls zu denen gehörte, die daran nicht schuld waren. Nicht um Gerechtigkeit, sondern um Unschuld war es zu tun: Das aber führte mitten in die Logik der Rechtfertigungszwänge hinein, die die feindlichen Parteien seitdem gemeinsam hatten. Heute wird der Kampf gegen den Rassismus fast allein unter den Bedingungen einer Logik geführt, die zu den Wurzeln des Rassismus gehört: unter den Bedingungen der Bekenntnislogik, die den Rassismus zu einer Gesinnung, einer Weltanschauung macht, aber seine Funktion im Vernunfthaushalt, nämlich die Entlastung vom Anspruch und von der Last der Mündigkeit, den Zusammenhang der Exkulpationsstrategien, in denen er sich konstituiert, nicht begreift. Zu den Grundmotiven der inneren Begründung des Rassismus gehört insbesondere die Entlastung vom Tötungsverbot (die zugleich seine Nähe zum Sexismus begründet). Der Rassismus ist ein logischer Teil der Staatsmetaphysik, in der er in einer bestimmten Phase der Herrschaftsgeschichte sich konstituiert; er entspringt in der gemeinsamen Geschichte mit dem Ursprung des Gewaltmonopols des Staates und zusammen mit der Unfähigkeit zur Reflexion dieser Ursprungsgeschichte. Das rassistische Syndrom ist im Ernst nur aufzulösen im Kontext der Fähigkeit zur herrschaftskritischen Reflexion.
Hängt nicht die Abschaffung der Todesstrafe nach dem Krieg, die eine unmittelbare Reaktion auf den exzessiven Gebrauch, den die Nazis davon gemacht hatten, war, auf eine höchst vertrackte Weise auch damit zusammen, daß nach dem Krieg die Neubegründung des Staates nicht gelungen ist (und nicht gelingen konnte). Der Staat gründet in der Todesdrohung (in dem „Recht“ zu töten), und wenn der Mord im Strafrecht das einzige Täterdelikt ist (alle anderen Straftatbestände sind Tatdelikte), so verweist das darauf, daß der Staat im Mörder einen erkennt, der ihm das Recht zu töten durch die Tat streitig macht: Der Mord ist ein Angriff auf die Souveränität des Staates. Umgekehrt aber, wenn der Staat sich selbst des Rechts zu töten begibt (indem er die Todesstrafe abschafft), kann er dies nur unter zwei einander ausschließenden Bedingungen: entweder er schafft – mit der Begründung einer befreiten Gesellschaft – sich selbst ab (so mag Marx sich das Absterben des Staates vorgestellt haben), oder aber er verzichtet auf die Ausübung dieses Rechts (und damit auf eine der Rechtsquellen seiner Macht), weil es von den Gewalten usurpiert wurde, aus denen es einmal hervorgegangen ist und auf die damit auch die Macht wieder übergegangen ist: Ökonomie und Militär. Heute gibt es andere Formen der Todesdrohung, und diese stehen aller Welt vor Augen: in den Elendsgebieten, in den Auswirkungen der Schuldenkrisen, in der Bedrohung durch eine Armut, zu der es weithin keine Alternativen, und aus der es – nachdem die Marktgesetze universal geworden sind – keine Auswege mehr gibt, und die nur mit direkter Gewalt unter Kontrolle zu halten ist: durch Militärdiktaturen, Folterregime vor Ort und durch ein militärisches Vernichtungspotential, mit dem der Reichtum der Industrienationen gegen die Armut, die er produziert, sich abzuschirmen versucht.
Jede Verurteilung zieht den Urteilenden in den Bann der Logik der Taten hinein, auf die das Urteil sich bezieht. Hilflos, und in der letzten Konsequenz selbstmörderisch, ist jeder Antifaschismus, der den Schrecken nur durch Verurteilung zu bannen versucht, anstatt ihn zu reflektieren. Nicht daß der Staat „sein wahres Gesicht zeigt“, hilft aus der Gefahr, sondern nur eine Erkenntnis, die ihm den Spiegel der Erinnerung vorhält, in dem er sich selbst erkennt. Im Faschismus hat der Staat sein wahres Gesicht gezeigt, und wer die Wiederholung heraufbeschwören möchte, weiß nicht wovon er redet.
Scheitert nicht die Kritik Carl Schmitts bis heute daran, daß sie ein logisches Problem mit einem ideologischen verwechselt, daß sie eine verzweifelte Einsicht in die Fundamente des Staates, der Welt und der Zivilisation zu einer bloßen Gesinnung verharmlost und neutralisiert.
Die Notstandsgesetzgebung hat versucht, den Schmittschen „Ausnahmezustand“ beherrschbar zu machen; sie hat damit an eine Tradition angeknüpft, die einmal Hitler den Weg frei gemacht hat.
Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Tötung des GSG-9-Beamten in Bad Kleinen nicht durch Wolfgang Grams erfolgte, daß die Schüsse von Wolfgang Grams, die möglicherweise niemanden getroffen haben, in Notwehr erfolgten, und daß umgekehrt Wolfgang Grams selber von durchgedrehten Beamten, die damit den einzigen Zeugen beseitigen wollten, hingerichtet worden ist. Kann es sein, daß dagegen ein „rechtskräftiges“ (damit aber nicht notwendig wahres) Urteil gesetzt werden soll, das der Erforschung der Wahrheit eine juristische Hürde in den Weg stellen soll, auch um den Preis, daß eine nachweislich Unschuldige stellvertretend verurteilt und bestraft werden soll. Kann die Bundesrepublik vor diesem Hintergrund sich einen Prozeß wie den gegen Birgit Hogefeld überhaupt leisten?


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