Tratsch gründet in der Lust an kontrafaktischen Urteilen. Und kontrafaktische Urteile sind Tratsch: Die Geschichte, das, was geschehen ist (Auschwitz einbegriffen), ist so hoch determiniert, daß die Verurteilung der Täter post festum den Punkt, an dem es anders hätte laufen können, nicht erreicht. Die Alternative wäre die Auflösung der gemeinheitsfördernden Strukturen gewesen, so etwas wie die gelungene Revolution oder die Verwirklichung des Reiches Gottes. Schreitet die gleiche Normalität, aus der das einmal hervorgegangen ist, nicht auf neuer Stufe so fort, als wäre nichts gewesen?
Auschwitz kann niemals verziehen werden, aber ist das eigentlich dasselbe wie die Verurteilung von Auschwitz? Täuscht die Verurteilung nicht eine Distanz vor, die die Erfahrung und die Reflexion, auf die es ankäme, gerade verhindert, erfüllt die Verurteilung nicht genau die Definition dessen, was theologisch Versuchung heißt? Und ist das nicht in der Tat die größte Versuchung, der das Christentum heute ausgesetzt ist? Gründet die theologische Qualität von Auschwitz nicht gerade darin, daß ein Rest bleibt, der nicht objektiviert werden darf, über den wir nicht hinwegkommen? Gilt das Paradigma Im Angesicht/Hinter dem Rücken, bevor es an Gott sich bewährt, nicht vorab für Auschwitz? Ist nicht der Probierstein für das, was im Ernst die Gegenwart Gottes heißen darf, die Gegenwart von Auschwitz, der Versuch, die Zeit anzuhalten, damit das nicht endgültig Vergangenheit wird? Die endgültige Vergangenheit von Auschwitz wäre auch das endgültige Urteil über die Nachgeschichte, in der wir leben.
Die Probleme, die Katholiken heute mit der Ohrenbeichte haben, gründen, auch wenn es ihnen nicht bewußt ist in diesem Sachverhalt. Verworfen sind die, die glauben, keine Probleme zu haben.
29.4.96
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie
Schreibe einen Kommentar