Die Diskussion der Ereignisse in der DDR hat etwas Gespenstisches. Unterschlagen werden generell die äußeren Bedingungen (Glasnost und Perestroika, die Entwicklung in Polen und Ungarn, die Verstärkerwirkung der westlichen Medien-Berichterstattung auf die ansteigende Republikflucht in den letzten Wochen, nicht zuletzt die – wenn auch bisher im einzelnen nicht nachweisbare, so doch zu vermutende – direkte Einflußnahme aus der BRD: BND, nationalistisch gestimmte Jugendverbände von JU bis Wikingerjugend, offenkundige Absprachen zwischen Oppositionsgruppen in der DDR und westdeutschen Fernsehteams über Demonstrationen …). Das alles schließt die Anerkennung der Emanzipationsleistung der DDR-Bevölkerung nicht aus, rückt sie nur in eine realistischere Perspektive, macht aber vor allem die propagandistische Verwertung der Ereignisse im Sinne des hier epidemisch sich ausbreitenden Nationalismus schwerer, wenn nicht unmöglich. Die Angst ist nicht unbegründet, daß dieser Nationalismus von der Erwartung lebt, eine „Wiedervereinigung“ könne, indem sie die offene Wunde der Spaltung schließt, den Zwang zu Erinnerung an die unerträgliche Schuld auflösen. Die Gefahr der Auflösung der VVN gewinnt unmittelbaren Symbolwert: daß mit der SED und ihrem Markenzeichen Antifaschismus die Aufarbeitung der Vergangenheit insgesamt diskriminiert wird. Der Untergang des Kommunismus in Osteuropa scheint der Nazi-Invasion in Rußland, dem Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg im Osten nachträglich recht zu geben und so den Faschismus freizusprechen. Das alles könnte das ohnehin wahnhafte Klima der zweiten Schuld in Deutschland stabilisieren und der Angst einen endgültigen Grund geben.
09.12.89
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