10.5.96

Die Opfertheologie ist ein Teil der Geschichte der Verhärtung des Herzens.
Der Begriff der Kollektivscham, die Fixierung auf „unser Ansehen im Ausland“ und das Stichwort „Standort Deutschland“ haben eine gemeinsame ökonomische Grundlage. War nicht der Adressat der Kollektivscham von Anfang an „das Ausland“?
Die Kollektivscham war Teil eines kollektiven Selbstmitleids (statt eines „gnädigen Gottes“ suchten die Deutschen nach dem Krieg ein Ausland, das sie liebte; in der gleichen Zeit wurde der Behemoth, das Nilpferd, zum Kuscheltier): Darin waren der neue Nationalismus und die Ausländerfeindschaft schon vorprogrammiert.
Die Kollektivscham und das kollektive Selbstmitleid sind zur Grundlage eines magischen Öffentlichkeitsbegriffs geworden, ein Öffentlichkeitsbegriff, der in einem Glauben an die magische Kraft des Urteils gründet (Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ spiegelt diesen Öffentlichkeitsbegriff nur wider anstatt ihn zu reflektieren). Dieser Glaube hat sein telos in der Absicherung des Objektbegriffs (er hat seine Wurzeln in einer noch zu bestimmenden Weise im christlichen Dogma).
Der Begriff der Öffentlichkeit ist ein Korrelat und ein Sinnesimplikat des Weltbegriffs; beide konstituieren sich gemeinsam mit der Philosophie und dem Ursprung und der Entfaltung der res publica. Der Begriff der Öffentlichkeit ist ein apokalyptischer Begriff. Die Versammlung im Tor (in deren Namen der Begriff der Kirche gründet) wie auch das Thing (aus dem der Begriff und die Logik des Dings hervorgegangen sind) sind Embryonalformen der Öffentlichkeit, die es vorher nicht gegeben hat.
Im Namen des Evangeliums klingt der des Engels mit, damit auch die Geschichte der Engellehre (von ihrem biblisch-theologischen Ursprung über ihre frühchristlich-kosmologische Anwendung bis hin zu ihrer Privatisierung in der Gestalt des Schutzengels, der sprachlogisch die Bildung des Substantivs entspricht, grammatisches Indiz der pharaonischen Sprachverfinsterung). – Gibt es eine Untersuchung über die Bedeutung der Engel in den Apokalypsen?
In den Evangelien erscheint ein Engel dem Zacharias (dem er beim Opfer im Tempel die Geburt des Johannes ankundigt), der Maria und dann (im Traum) dem Joseph. Danach erscheinen Engel u.a. nach der Versuchung Jesu in der Wüste (und „dienten ihm“) und bei der Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis. Das Antlitz des Stephanus erstrahlte bei seiner Verteidigungsrede vor dem Hohen Rat „wie das Antlitz eines Engels“.
Sind nicht Astrologie und Astronomie in die Prozesse mit eingebunden, die den Zusammenhang des Weltbegriffs mit dem der Öffentlichkeit konstituieren?
Die Habermassche Arbeit über den Strukturwandel der öffentlichkeit hätte ganz anders ausgesehen, hätte er auch das Problem der Kollektivschuld und der Kollektivscham (und damit das Problem der magischen Gewalt des Urteils) darin mit reflektiert. – In welcher Beziehung steht die Erinnerung an Auschwitz zum Begriff der Öffentlichkeit, welche Bedeutung hat sie für den jetzt sich vollziehenden wirklichen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“?
Zum Nachfolgegebot: Ist nicht das Auf-sich-Nehmen des Kreuzes das genaue Gegenteil seiner öffentlichen Präsentation, durch die es den Andern als Joch auferlegt wird? (Ist das Kruzifix das Öffentlichkeitssymbol der Kollektivscham?)
Mit der Einführung der Ohrenbeichte wurde das Schuldbekenntnis privatisiert und das Symbolum (und mit ihm das Kruzifix) zu einer res publica: zum „Glaubensbekenntnis“ (Umkehrung des Schuldbekenntnisses, Konstituierung des Schuldverschubsystems, Ursprung des Konfessionalismus, vgl. das Symbol des fruchtlosen, nur noch Blätter tragenden Feigenbaums).
Das Bekenntnis des Namens wäre das Bekenntnis des Heiligen Geistes: das parakletische, das aktiv verteidigende Bekenntnis, das öffentliche Votum für die Armen und Entrechteten (und die Eucharistie wäre wieder das Brotbrechen, das Teilen des Brots mit den Armen).
Das Bekenntnis zum Kreuz wäre die öffentliche Erinnerung an die Opfer des Rechts, zu denen der Kreuzestod gehört.
War nicht der 68er Bruch ein Bruch, der die Erinnerung durch die Verurteilung ersetzt hat (Historisierung des Nationalsozialismus)? Ist nicht die Verurteilung Teil einer Logik, die die Opfer nochmals verrät?
Das Jesus-Wort „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, bezieht sich auf die pharaonische Verhärtung des Herzens, seine Desensibilisierung.
Zu den ägyptischen Plagen: Ist nicht auch der Schöpfungsbericht ein zehnstufiger Prozeß? Gehen nicht den sieben Schöpfungstagen drei Vorstufen voraus: das tohu wa bohu, die Finsternis über dem Abgrund und der Geist über den Wassern?
Mit der Trennung der „Quellen“ (Jahwist, Elohist etc.) hat die historische Bibelkritik die Spuren der Gotteserkenntnis verwischt.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie