Die Definitionskraft Kants ist phantastisch, aber was er logisch durchdringt und erhellt, ist erschreckend.
Die Philosophie heute ist Teil eines Prozesses, der durchherrscht wird von Trägheitskräften: überlebende Schiffbrüchige, die an die Planken des zerstörten Schiffes sich anklammern (und sich immer noch für Kapitäne halten).
Ist nicht die irische Neubegründung des Christentums eine Parallelerscheinung zum Islam: diese Neuversion des Christentums ist zur gleichen Zeit entsprungen und hat in der gleichen Zeit über Europa sich ausgebreitet. Das Neue, das hier sich herausgebildet hat, war ein Selbstverständnis, das als Legitimation des Königtums das Ende der Stammesgesellschaft ratifizierte, verbunden mit einer (im Kontext des theologischen Begriffs des Sündenfalls an der Schwere sich orientierenden) Neubestimmung des Naturbegriffs: Natur war alles, was unten ist. Hier liegen die Wurzeln sowohl der neuen Gestalt des Bürgertums als auch der neuen Natuwissenschaften, die nur über diese (theologische) Zwischenstufe sich haben etablieren können.
Der Begriff der Eigentumsgesellschaft dogmatisiert die Oben-Unten-Beziehung (zum Eigentum gehört der Knecht, der es bearbeitet; die Hierarchie ist ein System von Knechten).
Aufgrund des derzeitigen Erkenntnisstands wird man beim Hogefeld-Prozeß davon ausgehen müssen, daß die Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden in der Aktion in Bad Kleinen zum Opfer ihrer eigenen paranoiden Phantasien geworden sind. Weist nicht alles darauf hin, daß es die Aufgabe dieses Prozesses ist, diesen Phantasien, die schon damals durch die Erkenntnisse des V-Manns widerlegt gewesen sein müssen, nachträglich den rechtlichen Status der Erkenntnis zu geben? Daß das Gericht seine Aufgabe begriffen hat, mag man daran erkennen, daß alle Versuche, das Geschehen in Bad Kleinen im Prozeß aufzuklären, abgeblockt und unterbunden werden. Hierbei profitieren BAW und Senat offensichtlich davon, daß auch die Phantasie der Angeklagten und der Verteidigung an das, was wirklich passiert ist, nicht heranreicht, daß beide – ebenso wie die Öffentlichkeit insgesamt – das Undenkbare, das wirklich geschehen ist, nicht zu denken wagen.
Die „Undenkbarkeit“ des Geschehens gründet in einem (urteils- nicht handlungs-)moralischen Sachverhalt. Der Nationalsozialismus hat erstmals mit nachhaltiger Wirkung von diesem Mechanismus Gebrauch gemacht: Wenn das, was man tat, so schlimm war, daß man jeden Versuch, das Geschehen öffentlich zu machen, als „Greuelpropaganda“ dementieren konnte, so war die Tat selber der beste Schutz gegen ihr Bekanntwerden (und gegen ihre Verurteilung). Der gleiche Mechanismus hat am Ende des Krieges der gesamten Bevölkerung als absolut wirksame Verdrängungshilfe gedient, und er hat es der Rechtsprechung nach dem Krieg erlaubt, die Nazi-Justiz insgesamt freizusprechen (mit Hilfe der gleichen Logik, die heute immer noch Trunkenheit als Schuldminderungsgrund anerkennt).
Ein Staat, der sich selbst für beleidigungsfähig erklärt (der „verunglimpft“ werden kann), der den „Ehrenschutz“ ausdehnt (und das Militär unter Sonderrecht stellt), hat wirklich etwas zu verbergen, und seine Repräsentanten wissen es auch.
Hat nicht der Begriff Rechtsstaat auch den Hintersinn, daß es sich um Staat handelt, in dem das Regieren immer mehr ins Verwalten übergeht: in ein Handeln, das durch Gesetze, nicht durch die souveräne moralische Reflexion (oder – frei nach Kant – durch die bestimmende, nicht die reflektierende Urteilskraft) sich bestimmt. Im Rechtsstaat tut jeder seine Pflicht, aber keiner weiß mehr, was er tut (so haben auch die Richter am Volksgerichtshof nur ihre Pflicht getan, nur daß sie nicht mehr wußten, was sie taten).
Soldaten und Beamte tun ihre Pflicht, wissen aber nicht mehr, was sie tun: Die nationalsozialistische Durchmilitarisierung des Volkes, die ohne den Antisemitismus (die reinste Gestalt einer instrumentalisierten Bekenntnislogik) nicht möglich gewesen wäre, hat das ganze Volk in eine hierarchische Verwaltungsorganisation transformiert, mit dem einen Ziel: der Neutralisierung der moralischen Selbstreflexion und Selbstbestimmung, der Aufhebung der Tötungshemmung, der Etablierung des durchorganisierten blinden Gehorsams. Insoweit war der Faschismus eine gesellschaftliche Naturkatastrophe, die den Greuel der Verwüstung hinterlassen hat.
Ist nicht der Faschismus das Modell für den Begriff einer „nachhaltigen Entwicklung“?
Fragepronomen: Ist nicht das Wie eine falsche, den „Weg des Irrtums“ eröffnende Frage? Beantworten nicht die Namen der Planeten alle eher ein Wie als ein Was? Konstituiert das Wie die Sphäre, in der das Warum (die Frage nach der Ursache wie nach der Schuld, die den Naturbegriff und die Geschichtsschreibung begründen) entspringt? – Gibt es im Hebräischen das Wie und das Warum (das Warum begründet die Theodizee)? Welche Frageformen entspringen mit der Vergegenständlichung der Zeit (und welche Fragen erlöschen in der Idee des Ewigen)?
Quod erat demonstrandum: In der Wissenschaft wird demonstriert, im Recht wird bewiesen; wie unterscheiden sich wissenschaftliche und juristische Urteile? Gibt es eine wissenschaftliche Entsprechung des Zeugen: Im Recht wird die Wahrheit bezeugt, in der Wissenschaft wird sie erzeugt?
14.7.96
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