War Johannes nicht „der Jünger, den der Herr liebhat“, und auch der, von dem er sagte: „Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich wiederkomme, was geht das dich an“, nach einer Tradition, an die Karl Thieme erinnert hat, der Typos der Juden (Petrus hingegen der Typos der Kirche)? Hat nicht die Kirche mit der Rezeption des Hellenismus das gleiche Scheusal verinnerlicht, gegen das einmal der Aufstand der Makkabäer sich richtete?
Man muß von der Vorstellung Abstand nehmen, daß in einer seit je bestehenden und immer sich gleichbleibenden Welt, die gleichsam nur als Bühne fungiert, die politischen Änderungen dann sich abspielten. Es waren politische Ereignisse, Prozesse und Veränderungen, die den Weltbegriff, die Spiegelung und Legitimierung der Herrschaftsstrukturen im Objekt, hervorgebracht und mit verändert haben. Die Kosmogonien, die mythischen Weltentstehungserzählungen, sind nicht nur unwahr: Sie reflektieren die mit der Entstehung der politischen Herrschaftsstrukturen verbundene Geschichte des Ursprungs des Weltbegriffs. Deshalb war der biblische Schöpfungsbericht ein Teil der Kritik der Idolatrie, der im Götzen-, Sternen- und Opferdienst sedimentierten Herrschaftsideologie. Hängt die Unfähigkeit, den Zusammenhang zwischen dem Reichtum der Metropole und der Armut in der Dritten Welt überhaupt wahrzunehmen, nicht mit dem Naturbegriff zusammen, mit dem die Herrschenden vor dem Erkanntwerden und schließlich vor der Selbstwahrnehmung sich schützen? Und beschreibt nicht die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos genau diesen Prozeß (und damit auch den Prozeß der Konstituierung des Naturbegriffs)? Ton Veerkamps „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ wird widerlegt durch den anderen Satz: Das Vergangene (die Verhärtung des Herzens Pharaos, der Kreuzestod Jesu, der Faschismus und Auschwitz) ist nicht nur vergangen.
Deshalb ist Theologie ohne Erinnerungsarbeit nicht möglich, aber diese Erinnerungsarbeit (und damit die Theologie) zielt aufs Begreifen der Gegenwart (nicht des Überzeitlichen).
Wird nicht das Erzählen zum Mythos, wenn man die Halacha von Haggada trennt (durch den Rechtfertigungszwang, unter dem alles Erzählen steht: es entlastet)? Dieses Erzählen erzeugt aus sich selbst den Bann der Schicksals, dessen Logik es dann nicht mehr zu entrinnen vermag.
Die Lehrerfrage, die Schülern die Literatur verekelt: „Was wollte der Autor damit sagen?“ findet sich heute auch bei Theologen, die unterstellen, ein biblischer Autor habe nicht das gesagt, was er gesagt hat, sondern etwas gemeint, was von dem, was er gesagt hat, noch unterschieden sei; die meinen, es käme darauf an zu erkennen, was er hat sagen wollen, als wäre das etwas anderes als das, was er gesagt hat. Es ist der allwissende Theologe, der die geheime Absicht des biblischen Autors besser zu kennen vorgibt als der Autor selber. Er erweckt den Eindruck, erst wir wüßten wirklich, was der biblische Autor mit den damaligen, noch unzulänglichen Mitteln noch nicht so deutlich habe ausdrücken können, wie wir es heute können. So heißt es an einer Stelle im neuen katholischen Weltkatechismus (ich zitiere sinngemäß), der Autor der Genesis habe den an sich klaren Sachverhalt, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat, nur undeutlich (in der „Sprache seiner Zeit“) mit dem Satz, daß Gott im Anfang den Himmel und die Erde erschuf, wiedergegeben, vielleicht weil ihn seine Zeitgenossen, die noch in im Bann eines mythischen Weltbildes lebten, sonst nicht verstanden hätten. Aber gibt es einen undeutlicheren Satz als den, daß Gott die Welt aus Nichts erschaffen hat? Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, und das „naturwissenschaftliche Weltbild“ die Finsternis über dem Abgrund der Geschichte. Bewußtsein ist falsches Bewußtsein, weil es vom Hören abstrahiert. Das Credo spricht die Sprache des Bewußtseins. Wenn ich etwas „bewußt“ sage, sage ich etwas anderes als ich meine, verfolge ich mit dem, was ich sage, eine Absicht, die ich zugleich verberge, ist für mich die Sprache ein bloßes Instrument, aber unfähig, die Wahrheit auszudrücken. Kein Bewußtsein ohne „Hintergedanken“, ohne List, ohne Ziele, die im Dunkeln bleiben. Das Bewußtsein spricht durch die Blume. Erst seit es das Bewußtsein gibt, gibt es die Psychologie, die Frage nach dem, was sich „hinter“ den manifesten Äußerungen des Bewußtseins verbirgt. Wer von einem biblischen Text sagt, daß der Autor „bewußt“ etwas sage oder nicht sage, kreuzigt das Wort.
29.7.96
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