5.11.1996

Heute wurde das Urteil über Birgit Hogefeld gesprochen: Lebenslänglich (Pimental/US-Airbase, Tietmeyer, Weiterstadt <12 Jahre>), Freispruch für „Mord an Newrzella (Bad Kleinen). Im Fall Pimental/US-Airbase wurde eine „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt. Keine der Taten wurde wirklich nachgewiesen, es muß offen bleiben, ob sie es gewesen ist.
Der Freispruch zu Bad Kleinen weckt den Verdacht, ob nicht die Anklage ohnehin nur erfolgte, um den „Mord an Newrzella“ und mit ihm den toten Wolfgang Grams als „Mörder“ juristisch festzuschreiben, auf diesem Wege eine offizielle Geschichtsschreibung der Vorgänge in Bad Kleinen zu installieren. Das würde heißen, daß an eine Verurteilung von Birgit Hogefeld im Ernst nie gedacht worden ist. Damit war der zusätzliche Vorteil verbunden, das ganze Urteil nach außen als ein differenziertes Urteil zu verkaufen und das Gericht von dem Verdacht zu befreien, es handle nur als Erfüllungsgehilfe der BAW.
Es gibt außerdem hinreichend Anlaß für die Vermutung, daß Birgit Hogefeld möglicherweise an den eigentlich gravierenden Aktionen Pimental/US-Airbase und Tietmeyer nicht beteiligt war. Das würde zwei Rückschlüssse zwangsläufig nach sich ziehen, der eine in Richtung RAF, und der andere in Richtung BAW/Gericht:
– Wenn sie an diesen Aktionen, die ihr das Lebenslänglich eingebracht haben, nicht beteiligt war, dann muß es andere in der RAF geben, die das auch wissen. Kann es sein, daß ihre Verurteilung auch innerhalb der RAF aus Gründen der Zwangssolidarität in Kauf genommen wird, daß es einige Leute gibt, die die Tat begangen haben, jetzt aber (um der „höheren“ revolutionären Ziele willen) sich wegducken und Birgit Hogefeld im Knast „verbrennen“? Kann es sein, daß die Ausgrenzung von Birgit Hogefeld schon ein Indiz für dieses böses Spiel war, das anders (ohne präventive Diskriminierung auch innerhalb der RAF) nicht durchzuhalten wäre (wenn sie es schon nicht war, dann wäre schon ihr „Verrat“, den sie nicht begangen hat, Grund für ihre Strafe)? Hätte das nicht sogar Folgen auch für die, die nicht eingeweiht sind und es dann nur aus dem Grunde auch nicht wissen, weil sie es aus „Solidarität“ und wegen der „Ziele“ nicht in ihr Bewußtsein lassen dürfen?
– Vor dem Hintergrund der einzig möglichen Erklärung der Anklage und des anschließenden Freispruchs im Falle Bad Kleinen, das nach einem strategischen Konzept aussieht, sieht dann allerdings auch das Schuldurteil nicht so unschuldig aus, wie es nach außen gerne erscheinen möchte. Ist der Verdacht so abwegig, daß BAW und Gericht imgrunde genau wissen, daß dieses Urteil kein fundamentum in re hat, daß es ebenso wie der Freispruch zum „Mord an Newrzella“ das Ergebnis eines strategischen Kalküls ist, für das die Angeklagte nur instrumentalisiert worden ist? Wenn BAW und Gericht wissen sollten, daß Birgit Hogefeld in diesen Punkten unschuldig ist, wenn sie davon ausgehen, daß in der Öffentlichkeit schon das Stichwort RAF das genaue Hinsehen auf das Urteil und seine Begründung verhindern wird, ist der Verdacht dann nur abwegig, daß auch das Urteil instrumentalisiert, als Waffe gegen den Rest der RAF benutzt wird, sei es als Mittel der Demoralisierung der RAF, oder sei es, daß die Spekulation auf ein noch bestehendes moralisches Gefühl die Erwartung nährt, daß die wirklichen Täter das Opfer Birgit Hogefelds nicht ertragen und sich outen werden? Diese Instrumentalisierung wäre ebenso erfolgs- und machtorientiert wie zynisch. Aber läßt sie sich nach den Erfahrungen mit der BAW und dem 5. Senat des OLG Frankfurt in diesem Prozeß wirklich restlos ausschließen?
Urteilsmagie: Das Urteil beendet den Prozeß, es sistiert die Bewegung des Prozesses und stellt einen diese Bewegung abschließenden Zustand her; es löscht den Funken der Hoffnung in den Dingen, in dem es sie gegen die Sprache verschließt und durch die Gewalt der Objektivierung der Barmherzigkeit den Weg versperrt. Das Erstarren des Objekts wird erkauft durch eine Konstellation von Knotenpunkten der Feindbildlogik, die in den astrologischen Namen der Planeten erstmals benannt worden sind. Es gibt nicht nur eine transzendentale Logik, sondern ein System von transzendentalen Logiken.
Abstraktion: Jedes Urteil impliziert einen Akt der Verdrängung, dessen Stabilisator der Begriff ist.
Daß Jesus nicht gelacht, dafür aber die Dämonen ausgetrieben hat, hängt mit der Befreiung von der Urteilsmagie zusammen.
Auch das Feindbild ist ein Kuscheltier, dessen Verlust schmerzhaft ist.
Weltanschauungskriege sind Vernichtungskriege. Sind RAF-Prozesse Weltanschauungskriege?
Die Feindbildlogik ist die Sünde der Welt (Joh 129): der die Logik der Welt und ihre Herrschaft über die Dinge konstituierende Akt.
Die Geschichte des Zuschauers (des Publikums, der Öffentlichkeit) reicht von der Trägödie (und dem Ursprung der Philosophie) über die Circenses (die das Zuschauen unter den Bedingungen des Imperium Romanum eingeübt haben: die Neutralisierung des Schreckens durch ihre Vergesellschaftung), die Kirche (das „Meßopfer“ und die Predigt), sowie die öffentlichen Hinrichtungen bis hin zur Prozeßöffentlichkeit (und der Chance, in ihr das entfaltete Gesetz und die innere Logik der Öffentlichkeit selber zu erfahren). Welche Bedeutung und Funktion hat die Logik der Schrift (die Seele des Drachens) in dieser Geschichte der Öffentlichkeit?
Ließe nicht anhand der Geschichte des Zuschauers (des Publikums, der Öffentlichkeit) eine Geschichte des Sehens sich entwickeln (die mit dem Satz beginnt: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren), oder auch eine Geschichte der „Außenwelt“, ihrer Verhärtung, die auch die Herzen ergreift?


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