9.12.1996

Staatsschutz ist Feindbildpflege.
In allen geschichtlichen Revolutionen haben sich am Ende genau die auf die Märtyrer des Anfangs berufen, die dann zu Erben ihrer Verfolger geworden sind. Das gilt auch für Revolutionen, die keine waren: z.B. für die RAF (die heute ihre Gefangenen instrumentalisiert).
Die Bekenntnislogik ist ein Produkt der Instrumentalisierung des Opfers. Das instrumentalisierte Opfer ist der Naturgrund der Herrschaft, die diese Opfer zur Nährung der Rachephantasien braucht, die die hierarchischen Rechtsordnungen begründen.
Wer die eigene Geschichte nicht verraten will, ist in Gefahr, die eigenen Ziele zu verraten. Ohne den schmerzhaften Prozeß der Reflexion der eigenen Geschichte sind die Ziele nicht zu retten. Ohne diesen Prozeß droht die RAF wirklich an der falschen Alternative, die die Verfolgungsbehörden ihr aufzuzwingen versucht, zugrunde zu gehen: Es geht nicht um Komplizenschaft oder Kronzeugenregelung, sondern um die Wiederherstellung der öffentlichen Diskussion. Der Griff zu Waffe war ein Produkt der Verzweiflung an der Kraft des Arguments, er hat dem Feind die Waffen geliefert.
Ich befürchte, mit der Zwangskomplizenschaft, die hinter dem Stichwort „Verrat der eigenen Geschichte“ sich verbirgt, erzeugt die RAF selber die Kronzeugen gegen sich selbst.
So erbaulich er klingt, der Satz hat einen fürchterlich ernsten Kern: Es kommt nicht darauf an, die eigene Haut zu retten, sondern es kommt darauf an, die eigene Seele zu retten. Nur: Zweitausend Jahre Christentum haben bewirkt, daß niemand mehr weiß, was das heißt.
Anpassung an die Welt hat heute die präzise Bedeutung der Identifikation mit dem Aggressor (der logische Kern dieser Identifikation ist die Bekenntnislogik, die die Opfer zu Verfolgern macht).
Ist es nicht mit dem Urknall wie mit dem Kuchenbacken: Das, was am Ende herauskommt, wurde vorher in anderer Beschaffenheit und Zusammensetzung hineingesteckt? Eine Alternative zur Idee der Schöpfung ist der Urknall ebensowenig, wie das hegelsche Weltgericht eine Alternative zum Jüngsten Gericht gewesen ist. Die theoretischen Elemente, die dem Konstrukt des Urknalls zugrunde liegen, sind allesamt Elemente, die von einer schon bestehenden Welt abstrahiert sind.
Es gibt auch einen historischen Schuldzusammenhang, der aus sich selbst den Schein erzeugt, es gäbe keine Alternative dazu.
Gerechtigkeit ist im Kern eine theologische Idee, und ein Recht, das die Erinnerung daran endgültig preisgegeben hat, wird zum Unrecht.
Der Fehler des Christentums liegt genau in dem buddhistischen Element in ihm: in der Vorstellung, daß einer für sich selig werden könne.


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