9.2.1997

„Ein Mischnalehrer lehrte vor Raw Nachman, Jitzchaks Sohn: Jeder, der das Gesicht seines Gefährten vor den Vielen erbleichen läßt, ist, als ob er Blut vergießt.“ (Bawa mezia 58a, zitiert nach Der Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, Goldmann München, S. 508) Läßt nicht die Theologie das Angesicht Gottes „vor den Vielen erbleichen“, ist diese Beschämung nicht der genaueste Ausdruck des Paradigmas „Hinter dem Rücken“ (des „Redens von Gott“), eigentlich des Objektivierungsprozesses insgesamt? Ist die Natur die Schöpfung im Zustand dieses Erbleichens? Und ist das Beschämen (das den Andern Nackt-Vorführen) nicht das Werk der subjektiven Formen der Anschauung: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren?
Der intentio recta ist alles nackt. Und eine Theologie im Angesicht Gottes läßt auch als der Versuch, die Nackten zu kleiden, sich begreifen. Ist das nicht ein Hinweis auf das in dem Wort von den im Blut des Lammes gereinigten Kleidern Gemeinte?
Durch die intentio recta wird der Taumelkelch zum Unzuchtsbecher.
Der Ankläger läßt den Angeklagten erbleichen, der Verteidiger stellt ihn wieder auf die Füße. Das Beschämen gründet im Vorrang des Sehens vor dem Hören.
In welchen Zusammenhängen erscheint der messianische Titel kyrios, Herr, und wer nannte Jesus zum erstenmal Herr (und wer nannte ihn Herr, und wer Meister, Rabbi)?
Bedeutet der Satz, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden, eigentlich auch, daß die Kirche ewig sein wird? Gibt es einen biblischen Hinweis auf den Namen der ecclesia triumphans?
Ist der Ausdruck Sternendiener (für die Angehörigen der Völker) talmudisch, oder ist er biblisch begründet? Hat er nicht etwas mit dem Namen des Sünders und den Wegen des Irrtums zu tun?
Im Begriff der Geschichte und im Verfahren des Historismus steckt ein apriorisches Element (gegen das Franz Rosenzweig seinen Stern der Erlösung geschrieben hat).
Beamtenmentalität: Sich auf eine Weise den Kopf anderer Leute zerbrechen, daß man unfähig wird, sich in sie hineinzuversetzen.
Nicht die frontale Anklage, der man sich stellen kann, sondern das Urteil hinter dem Rücken, gegen das man sich nicht wehren kann, ist tödlich.
Das Verfahren der RAF-Prozesse gründet in der Anklage hinter dem Rücken, die nur pro forma der Gegenwart des Angeklagten bedarf. In einer Gesellschaft, in der alle über alle reden, aber niemand mehr mit dem, über den er redet, wird die verhängnisvolle Logik dieses Sachverhalts nicht einmal mehr wahrgenommen.
Birgit Hogefeld hat sich nicht in die Rolle gefügt, in die die Unterstützer sie hineinzwingen wollten, sie hat sich nicht zur Geisel der „Unterstützer“ machen lassen; deshalb haben sie sie fallen gelassen.
RAF-Phantom: Dieser Prozeß und dieses Urteil hatten mit der Angeklagten ebensoviel oder ebensowenig zu tun wie der Antisemitismus mit den Juden. Es gibt nur einen Unterschied, durch den die RAF-Prozesse deutlich vom Antisemitismus sich unterscheiden. Die RAF, die unter dem Programm angetreten ist, den Staat zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen, hat diese Vorurteilssituation selber provoziert und durch ihr Handeln geholfen, sie herbeizuführen.
Es gibt zwei Begriffe des Irrationalen, die sich durch das Kriterium, an dem sie sich messen, unterscheiden. Der eine orientiert sich an der Logik der Selbsterhaltung (in der das Programm der Aufklärung gründet), der andere am Zustand der Welt, der nur im Kontext der Selbstreflexion und nur durch Erinnerungarbeit sich begreifen läßt.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie