• 20.09.87

    Die Freudsche Psychoanalyse ist auf andere Weise, als ihr selbst bewußt war, an den Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gebunden: Das Problem, als dessen Lösung die Psychoanalyse sich begreift, ist kein unhistorisches und die Lösung ist nicht für alle Zeit gültig, sondern beide, Problem und Lösung, sind an einen bestimmten Stand der Aufklärung, genauer: der Stellung des Bewußtseins zur Objektivität, gebunden; und dieser Stand der Stellung des Bewußtseins zur Objektivität wird substantiell und entscheidend durch den Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis (durch den Stand der historischen Auseinandersetzung mit der Natur, von der die Naturwissenschaften ein Teil sind) bestimmt und geprägt. Nachzugehen wäre der Vermutung, daß die Psychoanalyse in ähnlicher Weise als eine Grenzbestimmung der Naturwissenschaften sich begreifen läßt wie etwa die spezielle Relativitätstheorie. Das hätte freilich Konsequenzen, die weit über eine Ortsbestimmung der Psychoanalyse hinausgehen.

    Die Physik spaltet die Welt auf in das Produkt theoretischer Konstruktion (= Material und Instrument technischer Naturbeherrschung) und in das Chaos des Gegebenen, das Reich der Qualitäten und Empfindungen, das aus sich selbst nicht mehr verständlich, somit irrational ist. Psychoanalyse und spezielle Relativitätstheorie sind an den Grenzen dieses abgespaltenen Reichs angesiedelt.

  • 26.09.87

    Verwirrung der Begriffe durchs Geld: Trennung von öffentlicher und Privatsphäre, Stellung im Produktionsprozeß; Bindung der Religion an die Privatsphäre Ursache der Zerstörung der Religion, Religion als Blasphemie darin begründet; Vorrang der Privat-Perspektive – verstärkt durch Medien (BILD/Fernsehen) – Ursache des Faschismus; Zentrum: Bedeutung der Sexualität (sind Judenpogrome und sexuelle Verfehlungen von Prominenten gleich verwerflich?).

    Geld ist der Ursprung des Idealismus, der Generator der Idealisierung auch in dem Sinne, daß der Schmerz, das Leiden (die Materialität) in ihm aufgehoben und (zum Schein) vernichtet sind.

  • 06.10.87

    Krebsartiges Wachstum der Technik: das Neue, Bessere, Überlegene betrifft nicht mehr nur einzelne Verfahren in einem selber stabilen und von den Änderungen unberührten System; es verändert vielmehr ständig das System insgesamt, läßt überschaubare, ein für allemal definierte Gleichgewichtsverhältnisse nicht mehr zu, schließt katastrophische Änderungen (Einstürze, Zusammenbrüche) nicht mehr aus. Orientierungshilfen, die gestern noch wirksam waren, sind es heute nicht mehr; Durchblick ist nur noch möglich, sofern es gelingt, die Konstruktion des Ganzen als eine in sich selbst bewegte ständig nachzuvollziehen. Der Fortschritt verändert nicht mehr nur die Mittel, sondern ergreift auch die Zwecke, die immer deutlicher als Momente des allgemeinen Vermittlungszusammenhangs sich erweisen; oder genauer: er hat die Zwecke in die allgemeine und ständig sich beschleunigende apokalyptische Bewegung mit hereingezogen.

  • 08.10.87

    Der Voyeurismus, der die Regenbogenpresse vor allem kennzeichnet, ist die Kehrseite der allgemeinen und substantiellen Zerstörung des Privaten, eigentlich des Lebens überhaupt. In dem gleichen Maße, in dem Öffentlichkeit strukturell das private Dasein durchsetzt, zerstört es dieses von innen, macht es zugleich die entprivatisierten Individuen süchtig nach Anteilnahme am Privatleben der anderen, möglichst der Prominenz. Darin gründet nicht zuletzt der Erfolg von BILD. (Begonnen hat diese Vermischung von Privatem und Öffentlichen im Absolutismus, im Barock, als Herrschaft ihrer magischen Qualitäten entkleidet, entzaubert und verbürgerlicht, privatisiert wurde. Auch der Absolutismus ist Teil der Aufklärung – sozusagen die feudale Vorstufe des Kapitalismus.)

  • 10.10.87

    Theologischer Materialismus: Die Einsamkeit, die Levinas (und ähnlich F. Ebner) als „Grund“ und Konstituens der Materie bestimmt, ist in gleicher Weise (und mit vergleichbaren Folgen) Konstituens jenes Theologieverständnisses, das insbesondere die kirchliche Theologie, den kirchlichen Dogmatismus charakterisiert. Eine Erkenntnistheorie der Theologie, wenn es so etwas denn überhaupt geben kann, hätte diesen Sachverhalt zu reflektieren; historisch gibt es Hinweise hierfür in den mystischen Beschreibungen der Wege und Stufen zur Gotteserkenntnis. Frage, ob es eine Vorstellung oder Idee Gottes überhaupt gibt ohne das, was früher einmal „Gott suchen“ genannt wurde.

    Die „mystische Nacht“ beim Johannes vom Kreuz (vgl. Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Studie über Johannes a Cruce. Druten/ Freiburg-Basel-Wien 19833) bezeichnet nicht nur einen innerlichen Vorgang oder Zustand, sondern etwas sehr Objektives: das Dunkel, in das die Natur im Kontext des Trägheitsgesetzes und die Welt insgesamt unter der Herrschaft des Tauschprinzips getaucht wird, steht in einer aufzuklärenden Beziehung dazu. Innen und Außen sind nicht nur getrennt, nicht nur in einem Korrespondenz- oder Analogieverhältnis, sondern Extreme in einem Kontinuum. Welche Konsequenzen hat das aber für den Wahrheitsgehalt der mystischen Erkenntnis? – (Überprüfen, genauer!)

  • 17.10.87

    Theorie und Praxis stehen nicht in einer direkten Wechselbeziehung: Es gibt – außer im technischen Bereich im weitesten Sinne – keinen direkten Weg von der Theorie zur Praxis. Die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann, hängt (abgesehen davon, ob sie überhaupt sinnvoll sich stellen läßt) von der Beantwortung der anderen ab, die – in erkenntnistheoretischem Zusammenhang – einmal so formuliert wurde: If the future will be like the past. Franz von Baaders gelegentliche Bemerkung, daß ein schlechtes Gewissen Machen nicht bessert, drückt den gleichen Sachverhalt aus.

  • 01.11.87

    Bei der Beurteilung von Metaphern sind mimetische von räumlichen Metaphern streng zu trennen: Letztere sind Teil der Herrschaftslogik. (Frage: trifft das auch auf Relationsmetaphern wie „oben/unten“ bzw. „zentral/peripher“ zu? – Und ist die Herrschaftsmetaphorik ganz zu vermeiden? – Kann man zwischen Ausdrucks- und Herrschaftsmetaphorik unterscheiden? – Vgl. Blumenberg, Habermas, Benjamin, Kraus.)

    Heute kann nur noch normal sein, wer sich innerhalb einer gesellschaftlich vorgegebenen Verrücktheit fest eingerichtet, stabilisiert hat; verrückt werden jene, die hierfür sensibilisiert sind, d.h. eigentlich die Normalen. Ableitung dieses Sachverhalts aus dem Stand der politischen Ökonomie (den Bedingungen der Selbsterhaltung).

  • 08.11.87

    Bezeichnet der Begriff der Existenz bei Heidegger und Jaspers – ähnlich wie der der „Werte“ bei Scheler – nicht doch primär ein Moment des materiellen Daseins, werden nicht die Heideggerschen Analysen durchsichtig, wenn man vom Sprachgebrauch ausgeht, in dem Existenz bedeutet, daß die – vor allem beruflichen – Voraussetzungen für die private Reproduktion des Lebens gegeben sind? Inhaltliche und formale Grundlage der Existenzphilosophie wäre demnach in einem prononcierten Sinne die Ökonomie, und nur durch Ökonomie vermittelt Natur und Geist („Dasein“), die im übrigen nicht zufällig im Kontext der Fundamentalontologie nicht mehr streng sich auseinander halten lassen.

    NB.: Ist der Biologismus Freuds etwa sowohl Biologismus als auch gleichzeitig, ohne metabasis eis allo genos, einer ökonomischen Auslegung fähig und bedürftig? – Verhältnis des durchs Tauschprinzip vermittelten Materialismus zum naturwissenschaftlichen! – Wo ist in der Ökonomie der Bereich, der dem der sinnlichen Wahrnehmung im Verhältnis zu Physik entspricht?

    (später) Adornos „erster und einziger Grundsatz der Sexualethik“ gilt nicht nur für den Spezialfall, sondern für die Ethik insgesamt: Der Ankläger hat immer unrecht. Die moralische Verantwortung für das eigene Handeln und für die Andern läßt sich nicht auf andere Subjekte anwenden (übertragen); die Umkehrung der Handlungsanweisung, die unmittelbar nur für das zum Handeln aufgeforderte Subjekt selbst gilt, in ein Urteil über andere ist nicht erlaubt; sie verwandelt die Ethik in ein Herrschaftsmittel, sie instrumentalisiert sie; sie verletzt das in der Handlungsanweisung aufscheinende Absolute; sie verwandelt ein Gebot in ein Gesetz; sie ist blasphemisch. Das ist gemeint mit dem Satz „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“. Gegen diesen Satz verstößt die Wertethik (die die Ethik in ein System von Urteilen – über vergangenes Handeln, das dann eo ipso zu dinglichen Eigenschaften gerinnt – verwandelt); Folge und Produkt dieses Verstoßes ist die Existenzphilosophie, in der das Subjekt nur noch als Objekt, als Gegenstand des Urteils (das für es – als „Sein“ – das Absolute ist), als gerichtetes vorkommt.

  • 10.11.87

    Ethik als Wertethik erfüllt ihre Funktion als Schuldverschubsystem (Ableitung des „pathologisch guten Gewissens“): Jeder „gefühlte“ Wert ist ein spontanes Werturteil; und jedes Werturteil ist eo ipso ein Urteil über andere, letztlich ein Schuldurteil (auch das positive Urteil, wie leicht nachzuweisen ist). Es konstituiert und bestätigt den gesellschaftlichen Schuldzusammenhang und enthebt zugleich von der Last, die eigene Verantwortung (nach Levinas die Quelle theologischer Erfahrung) in diesem Schuldzusammenhang wahrzunehmen: die Verführung gründet in dem Schein, der Urteilende sei dem Schuldzusammenhang enthoben. Man könnte die Wertethik auch einen ethischen Materialismus nennen, wobei das materielle Moment, das sie setzt und an das sie naiv und unreflektiert anknüpft, als das Schuldmoment sich erweist, das notwendig und zugleich die ganze zugehörige Objektwelt durchdringt und qualifiziert, in der das Subjekt, indem es sich zu behaupten meint, endgültig untergegangen ist. Die Wertethik gehört zu den Symptomen, die den Faschismus ankündigten (und in denen seine Fortexistenz sich anzeigt). Aber die Wertethik der zwanziger Jahre ist noch harmlos gegen den blanken Zynismus, in den er nach dem Weltuntergang übergegangen ist.

  • 11.11.87

    Ontologie ist die Hypostase des Indikativs, die Festschreibung der richtend-urteilenden Erkenntnis als Mittel der Selbsterhöhung (die Wurzel der Empörung) des urteilenden (transzendentalen) Subjekts. Analog zu den „fürchterlichen Juristen“ kann man von den „fürchterlichen Philosophen“ sprechen. Der Konjunktiv eher als der Indikativ ist das Medium der Wahrheit. Der Indikativ schreibt den Schuldzusammenhang fest (und entlastet, exkulpiert das apodiktisch urteilende Subjekt).

    In den Kontext des Wahrheitsbegriffs, der am Indikativ, an den „Tatsachen“ festgemacht ist, gehört auch die kriminalpolizeiliche Fahndung und Ermittlung. Sie verweist auf das Feld der Schuld, in dem diese Empirie sich bewegt und das hier als eine unveränderliche Gegebenheit vorausgesetzt wird; und auch hier gibt es – wie in den Naturwissenschaften – eine Experimental- und Testphase, eine mörderische Gleichgültigkeit gegen Nebenfolgen, bis hin zur Inkaufnahme der Existenzvernichtung. Unbarmherzig gegen die, die sich nicht wehren können und deren Verteidigungschancen durch gezielten und taktisch manipulierten Verdacht gegen das „Umfeld“, das so zum Schweigen gebracht wird, vernichtet werden (= Herstellung von Laborbedingungen: vgl. Isolationshaft; ebenso hat die Einschränkung der Verteidigung in Terroristenprozessen nur Sinn, wenn die Verfahren als Mittel im politischen Kampf gegen den Terrorismus begriffen werden und das Schicksal wie auch die konkrete Schuld der einzelnen überhaupt nicht mehr interessieren).

    Wirksam war dieses Verfahren in allen vom Vorurteil beherrschten Bewegungen, von den Ketzer- und Hexenverfolgungen bis hin zum Antisemitismus. Weitergeführt wird es im Bereich der sogenannten Terroristenfahndung (in der die bis heute nur verdrängte, nicht wirklich aufgearbeitete Vergangenheit wiederkehrt, deshalb das aggressive Klima. in dem diese Dinge ablaufen). Hier gibt es inzwischen den gleichen Automatismus wunderbarer Schuldvermehrung und als Pendant dazu die panische Angst derer, die Grund zu haben glauben und fürchten zu müssen, daß sie in diese Netze hineingeraten können. Und Grund zur Furcht ist nicht mehr eine individuelle Schuld, sondern ein allgemeiner (z.T. an zufällige Merkmale wie Kleidung, Haarschnitt anknüpfender) Verdacht.

  • 12.11.87

    Welche Last bürden wir der Nachwelt (unseren Kindern) auf, wenn wir weiterhin ein Welt- und Selbstverständnis aufrechterhalten, dessen letzter Zweck die Selbstentlastung ist, die zwanghafte Selbstrechtfertigung und Selbstfreisprechung, die auch die Religion in ihren Dienst nimmt, sie ebenso blasphemisch wie selbst- und weltzerstörerisch instrumentalisiert. Diese Folge der unaufgeklärten Aufklärung (und zugleich des nicht aufgearbeiteten Faschismus) ist möglicherweise die auf Dauer verhängnisvollste, da sie vom Ursprung und von der Konstruktion her gegen kritische Reflexion immun ist und nur durch blinde Eskalation (den „Fortschritt“) funktionsfähig erhalten werden kann. Die Geschichte des „Wenn alles in Scherben fällt“ ist noch nicht zu Ende; im Gegenteil: sie scheint jetzt erst wirklich umfassend sich und ihr immanent vorgegebenes Ziel zu begründen. Der Faschismus war wirklich nur eine Generalprobe, und nichts war harmlos an ihm.

    (20.12.87) Der gleiche Mechanismus von Abwehr und Verdrängung wirkt offensichtlich (als zwanghafte Wiederholung des Elternverhaltens) mit bei denen, die sich von der bürgerlichen Welt absetzen, ohne eine Alternative zu haben; nur daß hier die Folgen, da sie nach innen schlagen, für die Betroffenen schlimmer sind. Sie sind die eigentlichen Opfer der zweiten Schuld, die sie nicht durchschauen.

  • 13.11.87

    Die „Geschlossenheit“, die Parteispitzen immer wieder von ihren Anhängern fordern, erinnert an Komplizenschaft. Besteht etwa ein Zusammenhang mit dem überspannten Spruch, die die SS nach meiner Erinnerung auf dem sogenannten „Ehrendolch“ eingraviert hatte: „Die Treue ist das Mark der Ehre“? Abgesehen von dem grellen Widerspruch zwischen Objekt und Gravur, Dolch und Treue, ging es hier wohl in erster Linie um die Absicherung einer Bindung, deren Klebstoff die Komplizenschaft war: Wer einmal an den Dingen beteiligt gewesen ist, ohne den Skrupeln (dem „inneren Schweinehund“) Raum gegeben zu haben (wer der Versuchung, dem Gewissen zu folgen, Stand gehalten hatte), war gefangen, hatte eigentlich keine Chance mehr, herauszukommen. Eigentlich war der „Ehrendolch“ eine Drohung gegen jeden, der diesen Ehrenkodex nicht akzeptierte. – Freilich, man kann aus einer Partei austreten. Und mit der „Ehre“ nehmen es Politiker heute nicht mehr so genau, obwohl immer noch der, der den Dreck im eigenen Nest an die Öffentlichkeit bringt, Verräter gescholten wird (und anonyme Telefonanrufe mit Morddrohungen zu gewärtigen hat).

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie