Merkwürdig, daß niemand den Benjaminschen Begriff des Mythos (in den frühen Schriften, von „Schicksal und Charakter“ über die „Wahlverwandtschaften“ bis zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“) auch nur wahrnimmt, geschweige denn produktiv weiterführt. Hierzu scheinen den Literaturwissenschaftlern die theologischen und den Theologen die literarischen Voraussetzungen zu fehlen. Damit scheint es andererseits zusammenzuhängen, wenn bis heute niemand – auch Stephan Moses nicht – im „Stern“ von Franz Rosenzweig den Stellenwert und die religions- und geschichtsphilosophische Bedeutung seiner Rekonstruktion des Mythos und der chinesischen und indischen Welt sowie des Islam begriffen hat. (Warum gibt es beim Mythos eine begründete Gestalt – die griechische – und zwei Derivate – die chinesische und die indische -, während es im Bereich der Offenbarung zwei gleichberechtigte historische Gestalten – die jüdische und die christliche – und nur ein Derivat – den Islam – gibt?)
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26.05.88
Wer die Urteile in Terroristenverfahren auf Naziverbrechen anwenden wollte, müßte das ganze Volk, das ein Volk von Sympathisanten war, in Isolationshaft halten; aber verhält sich dieses Volk nicht bereits so, als befände es sich in Isolationshaft? – Die Einführung eines Sozialversicherungsausweises paßt gut dazu: so bekommt man das Volk in den Griff; man versetzt alle sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer unter Verdachtsanklage, Schwarzarbeiter – „Ausbeuter“, wie Herr Blüm sie zu nennen beliebt – zu sein, ein Verdacht, von dem man sich nur befreien kann, wenn man Inhaber eines Ausweises ist: „wer nichts zu verbergen hat, …“ – Das Schlimme ist, daß diese Aktion genau die Stimmung bestimmter Gewerkschaften und in der rechten SPD zu treffen scheint, die nicht merken, vor welchen Karren sie gespannt werden.
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06.06.88
Heute ist jeder in den Apparat, in die Maschinerie, eingespannt, die zugleich seine Erfahrung und seinen Begriff von der Welt bestimmt. Und zwar in einer Weise bestimmt, daß der Eindruck immer mehr sich verstärkt, das Beste entziehe sich dem Blick, rücke immer mehr in den blinden Fleck. Religion, die heute immer mehr genutzt wird, um das Eingespanntsein (das „In-der-Welt-Sein“) erträglich zu machen, kann auch – wenn man sie nur einen Moment ernst, beim Wort nimmt – der verzweifelte Versuch sein, den Punkt zu bestimmen, von dem aus sich das Ganze wenden läßt; ja es könnte sein, daß sie als die einzige Möglichkeit, überhaupt noch den Gedanken einer Änderung ernsthaft und ohne trübe Vermischung mit Ungelöstem ins Auge zu fassen, sich erweist.
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10.06.88
Die Subsumtion der Arbeit unter das Tauschprinzip begründet nicht allein den Kapitalismus, sondern mit ihm den Schuldzusammenhang als abgeschlossenes System, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Projektion dieses Schuldzusammenhangs in eine vor aller Erfahrung gegebene und allem Handeln zugrundeliegende Objektivität (Natur) ist die moderne Naturwissenschaft.
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12.06.88
Es gibt zwei Arten des Atheismus: Die eine geht davon aus, daß Religion ihrem eigenen moralischen Anspruch nicht genügt (wer kann nach Auschwitz noch an einen barmherzigen und gerechten Gott glauben?); die andere wehrt mit der Religion den moralischen Anspruch, den sie vertritt, ab, denunziert ihn als Heuchelei: Dieser moralische Anspruch, so die Prämisse, hat in einer Welt, die von anderen Gesetzen beherrscht wird, keine Grundlage mehr.
Aber beide vergessen, daß mit der Religion nicht nur der einzige Moralbegriff, der ernst zu nehmen ist, sondern auch der allein darin gründende Glücksanspruch, das Glücksversprechen, aus der Welt verschwindet.
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14.06.88
Folter und paranoide Systeme gehören zusammen; der Gebrauch von Folter ist bereits der Beweis für die zugrundeliegende paranoide Verfassung des Bewußtseins ihrer Anwender. Umgekehrt: Aussagen, die durch Folter (und dazu gehört auch die Isolationshaft) erzwungen werden, bestätigen immer nur die paranoiden Vorstellungen und Erwartungen der Folterer und ihrer Vorgesetzten (es scheint übrigens Folter immer nur im Kontext hierarchisch organisierter Gruppen/Instanzen zu geben: Ein nicht zu vermeidender Konstruktionsfehler? Zusammenhang von Verwaltung und Paranoia?.
Das gilt sowohl politisch wie in der Wissenschaft: für jegliche Art von Inquisition wie fürs Experiment (Arbeitshypothese: Physik als paranoides System; Zusammenhang von Inquisition, Ketzer-/Hexenverfolgung und Ursprung der modernen Naturwissenschaften).
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16.06.88
Das Bürgertum – als Subjekt des Rechts – ist der Ursprung der Utopie, der Idee einer Gesellschaft, die – ihrer selbst mächtig – der Unterdrückung eigentlich nicht mehr bedarf. Die Funktion der Strafe sollte es sein, den Irrenden auf den rechten Weg zurück zu führen; ihre reale Funktion jedoch war die Abschreckung: sie war Strafe für andere, und der einsitzende Delinquent nur zufälliges Opfer wie das Tier im Experiment. Eigentlich jedoch – und das verweist auf das Moment des Scheins im Ursprung der Utopie – war die Strafe (die der Intention nach immer nur den anderen treffen durfte, mit dem niemand sich zu identifizieren wagte) reine Demonstration der Macht, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt in der von Macht geprägten Gesellschaft, eine Grenze, die mitten durchs Subjekt verläuft (und hier Ich und Es, Bewußtsein und Unbewußtes trennt). Oberhalb dieser Grenze ist die eine, wahre und eigentliche Welt, der der anständige Mensch angehört; unterhalb liegt das Verdächtige, Verrufene, die Schuld. Strafe ist das Instrument der Internalisierung des Terrors, sie wirkt zugleich auf eine infame Art desorientierend: Strafe wirkt nur von oben nach unten; die Vorstellung, das Verhältnis ließe sich umkehren, die Oberen könnten zur Rechenschaft gezogen werden, ist der Grund für das Mißlingen jeder Revolution bis heute (Austausch des Personals, nicht Änderung der Verhältnisse). Die wirkliche Revolution wäre die Abschaffung der Strafe (und des richtenden Rechts).
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20.06.88
Zur Theorie des Namens: Gesetze werden „im Namen des Volkes“ erlassen, Urteile „im Namen des Volkes“ gefällt. Gesetze wie Urteile, das Wesen des Richtens überhaupt, sind per definitionem nur von oben nach unten anwendbar, d.h. gegen das Volk gerichtet. Der Name des Volkes hat demnach hier im präzisesten Sinne double-bind-Funktion, er soll dem Volk das schlechte Gewissen machen; er treibt das Volk in die Arme seiner Feinde, die seinen Namen nur usurpieren. M.a.W. der „Name des Volkes“ ist Ausdruck der kollektiven Selbstfeindschaft, deshalb faschistisch.
Nachtrag 02.02.89: Volk läßt sich bestimmen als Schicksalsgemeinschaft. D.h. Volk ist als Objekt des Schicksals durch den Schuldzusammenhang des Schicksals definiert. Völker gibt es erst, seit des Könige gibt, beide gehören dem mythischen Zeitalter an. Die Königstradition im Christentum (die sich im Gegensatz zur Reichstradition, die am Caesar sich orientiert, auf David, den Stammvater des Messias, beruft) bezeichnet demnach genau die Wiederkehr des Mythos, den Bereich, auf den sich die Idee der Umkehr, die Christentum und Judentum konstituiert und verbindet, bezieht.
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03.07.88
Es gibt keine ursprüngliche Vergangenheit: jede Vergangenheit muß einmal gegenwärtiges, lebendiges (bewußtes/bewußtseinsfähiges?) Dasein gewesen sein. Dieser Zusammenhang läßt sich jedoch ohne einen Anfang der Zeit, ohne eine „erste Vergangenheit“, nicht denken. Hier handelt es sich nicht um einen Anfang „in“ der Zeit, sondern um einen Anfang „der“ Zeit, d.h. um einen Anfang, vor dem es kein Vorher gibt. Die „unendliche Vergangenheit“ ist es nur für uns; unklar, was ihr entspricht, es kann sich eigentlich nur um etwas völlig Abstraktes handeln, um eine reine Projektion (etwas, was mit der Zeit entsteht, entspringt, geschaffen wird?).
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06.07.88
Wenn die Vergangenheit nicht ursprünglich sein kann, so kann auch die Welt, soweit sie nur als vergangene begriffen werden kann, als tote gegenständliche raum-zeitliche Welt, nicht ursprünglich sein; ihr muß etwas vorausgehen, was dann in der Zeitfolge durchaus als das Spätere erscheinen mag: das Lebendige.
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10.07.88
Der christliche Höllenglaube ist nicht nur Produkt der Auseinandersetzung mit dem Mythos, sondern zugleich Grund der Wiederkehr des Mythos im Christentum. Und zwar vor allem als Grund und Rechtfertigung des Rechts, der Strafe, eigentlich des theologischen Kompromisses, das notwendig war zur Begründung und Rechtfertigung des Staates.
Je mehr ich mich mit dem Deutschen Herbst und seinen Folgen befasse, umso entsetzter und fassungsloser; Verdrängung der Realität, Durchsetzung von Gesinnungen und Fakten durch Rechtsmittel, gefährliche Entwicklung, Verdrängung des Gewissens, der Humanität (des „inneren Schweinehundes“). Zusammenhang der Isolationshaft von Irmgard Möller mit den ungeklärten Toden in Stammheim; Interesse der Justiz sowohl an den Toden als auch an der Verweigerung der Aufklärung setzt sich fort in der Aufbauschung der gesamten alternativen Szene zum Terrorismus; wieviel Isolationshäftlinge gibt es eigentlich inzwischen? was ist an dem Hinweis von Klaus Jünschke, wonach die verantwortlichen Stellen wissen, daß aufgrund von Aussagen im Vorgriff auf die Kronzeugenregelung Urteile gefällt (und Menschen verurteilt) wurden, obwohl diese Aussagen nachweislich falsch sind? Herr Bode, den Herr Jünschke direkt angesprochen hat, hat nicht widersprochen (in einer Talkshow vor kurzem).
Verdacht, daß eine parlamentarische Aufklärung – wie in der Parteispenden-Affaire – nicht zu erwarten ist, weil alle beteiligt sind (SPD/FDP als damals verantwortliche Regierung; CDU ohnehin).
Vorfall Startbahn:
. Staatsanwaltliche Ermittlung ohne Ergebnis: nicht herauszubekommen, wer die Festnahme überhaupt vorgenommen hat;
. Schreiben an einen Landtagsabgeordneten landet bei der Polizei.
Weitere Erfahrungen:
. Frage nach dem Namen eines Polizeibeamten: „Ich heiße Anders, heute heißen hier alle Anders (anders)“,
. Frage nach der Dienstnummer: „4711“.
Zu den sieben Werken der Barmherzigkeit vgl. Matth. 25, V. 34-40.
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12.07.88
Zum Begriff des Volkes: die differentia specifica der Volksgemeinschaft war (ist) die Komplizenschaft, ihr präzisester Ausdruck die Denunziation dessen, der sich nicht einordnete. Vgl. auch „Volkslied“, „Volkspartei“, „Im Namen des Volkes“. Das Volk (als Gattung) ist eigentlich die Wiederkehr eines Verdrängten: des Stammes, der die Menschen einmal, vor der Geschichte ihrer Individuation, unter sich subsumierte; Inbegriff des Schuldzusammenhangs (des Mythos), der insbesondere in der Institution des Rechts überlebt.
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