Nach Günther Anders haben Nacktheit und „das Gesicht verlieren“ etwas gemeinsam: Wenn Gesichter nackt werden, verwandeln sie sich in einen bloßen „Körperteil …, dessen nacktes und unkontrolliertes Aussehen das von Schulter oder Gesäß an Ebenbildlichkeit um nichts mehr übertrifft“ (S. 86).
Sind Fälschungen (z.B. im Mittelalter) nicht Begleitphänomene der Instrumentalisierung: Hier kommt es nicht mehr darauf an, ob es stimmt, was behauptet wird, sondern primär darauf, welchen Zwecken es dient. Der Nominalismus sanktioniert die Bindung der Wahrheit an Zwecke. Das Tabu, auch Produkt einer „Fälschung“, ist eine gesellschaftlich instrumentalisierte Schamgrenze: Wie hängen die Fälschungen im Mittelalter mit den „religiösen Bewegungen“ des Mittelalters zusammen? M.a.W. handelt es sich überhaupt um „Fälschungen“, können es nicht auch Begleitphänomene kollektiver, herrschaftsgeschichtlicher Verdrängungen, wie die nachfolgende Geschichte der Hexenverfolgungen und des Antisemitismus, sein? Waren in der Ursprungsgeschichte des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ die Legitimationsbedürfnisse anders zu befriedigen? Welche Legitimationsbedürfnisse werden heute z.B. durch das Konzept der „Tiefenzeit“ befriedigt? Muß man nicht den moralischen Ton aus dem Begriff der Fälschung herausnehmen?
Die Verwandlung der Anschauungs- in die analytische Geometrie ist der Beginn der Totalisierung und Vergesellschaftung von Herrschaft.
Zur Geschichte des Ursprungs der Raumvorstellung, Raum und Scham: Die Raumvorstellung entspringt mit dem „und da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“, m.a.W. sie ist ohne Scham nicht zu haben. Jeglicher Mythos beruht auf der Unfähigkeit zur Reflexion der Scham, auf der Verdrängung der Scham.
Die kausale Verknüpfung von Sünde und Schuld ist auch ein Mittel der Exkulpierung durch Verdrängung, insbesondere wenn in die Definition der Sünde die Vorstellung mit hereingenommen wird, man könne sich durch Nichthandeln von der Sünde freihalten.
Emitte spiritum tuum et renovabis faciem terrae: Dieser Geist konstituiert sich in der Kritik des kopernikanischen Systems. Denn erst das kopernikanische System hat das Antlitz der Erde zerstört und jede Erinnerung daran verdrängt. Das Angesicht und die Umkehr haben nicht nur subjektive, sondern auch objektive Bedeutung; die Richtungen im Raum (vorn und hinten, rechts und links, oben und unten) sind nicht nur auf den menschlichen Leib bezogen, sondern haben mit den Himmelsrichtungen, dem Himmel und der Scheol zu tun.
Das Licht ist das erste durchs Wort Erschaffene: Die Finsternis über dem Abgrund bezieht sich auf den Abgrund der Sprache, in dem die Sprache sich nicht wiederfindet, und die Finsternis drückt genau diese Ohnmacht der Sprache aus, die erst mit der Erschaffung des Lichts aufgehoben wird: Auch die Finsternis bestimmt sich aus ihrem Verhältnis zum Licht.
Die subjektiven Anschauungen bei Kant sind Produkt der Abstraktion vom Gesehenwerden, etwas, wohinter das Subjekt sich vor den Dingen versteckt. Und es ist genau diese Abstraktion, die als Begriff der Welt dann sich konstituiert. In der Welt darf man alles, sich nur nicht erwischen lassen.
Franz Rosenzweig spricht einmal von der verandernden Kraft des Seins: das Produkt dieser verandernden Kraft des Seins ist die Welt.
Das Objekt verhält sich zu den Formen der Anschauung wie das Subjekt zum Prädikat im Urteil. Über die Formen der Anschauung wird das Prädikat zum Begriff subjektiviert, wird die Subjektivität in die Objektivität so tief eingesenkt, daß sie fast nicht mehr davon zu unterscheiden ist.
Ist nicht die Vereinigungsmystik der Unzuchtsaspekt dieser Vermischung von Subjektivität und Objektivität, mit verschiedenen Phasen und Aspekten dieser Unzuchtsgeschichte (Ursprung des Patriarchats: Materiebegriff, griechische Päderastie: noesis noeseos, Rousseaus Inzest: Zurück zur Natur, faschistische Homosexualität: Judenmord, postmoderne Abstreibungsdebatte: Ende der Theologie – Entschlüsselung des evangelischen Rates der Keuschheit)? Die Raumschlinge wird immer enger (die ungeheure metaphorische Bedeutung der Stammheimer Selbstmorddiskussion und der Isolationshaft im Kontext des Problems der Instrumentalisierung des Opfers).
Ist nicht die Schrift nur verständlich, wenn die Ontologie als prima philosophia ersetzt wird durch die Ethik? Wenn Emanuel Levinas die Ethik als prima philosophia gleichsam als kantische verdammte Pflicht und Schuldigkeit faßt, als Geiselhaft im Angesicht des andern, so steht er noch unterm Bann des postmodernen Primats des Andern. Die Unterscheidung zwischen dem Andern und dem Fremden läßt in der „Geiselhaft“ das Moment der Befreiung aufleuchten. Die französische Postmoderne erinnert nicht zufällig (schon seit Sartre) an Fichte: Das/der Andere ist das Fichtesche Nicht-Ich, es bleibt im System; erst der Name des Fremden sprengt das System.
Sodom, Jericho und Gibea genau vergleichen: Wer sind die Fremden, wer die Aufnehmenden (wer wird gerettet?), wer die Gewalttätigen (nur in Jericho ist es der König?); welche Rolle spielen die Frauen in diesen Geschichten? Wie enden die Geschichten? Beziehungen zum Stammbaum Jesu (Rahab und Ruth, auch Bethlehem)?
Hat das Relativitätsprinzip genetisch etwas mit der Entdeckung der Perspektive in der Malerei zu tun, auch mit der Entdeckung des Porträts (nach dem Modell der Totenmaske)? Hinterm Porträt tauchte dann schon bald der Totenkopf auf, eine Entdeckung des Barock, aber seine Vorgeschichte liegt im Reliquienkult. Das Porträt war ein Symbol des aufsteigenden Bürgertums, der Totenkopf das des Absolutismus.
Bemerkungen zum Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Zusammenhang der Struktur des Inertialsystems mit der der indogermanischen Sprachen. Durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wird ein empirisches Moment zu einem Strukturelement des Systems. Welche Konsequenzen ergeben sich, wenn man das strukturelle Moment in der Sache festhalten könnte, aber das empirische Moment daran, der Wert der Lichtgeschwindigkeit, variabel wäre? Wäre es nicht denkbar, daß dieser Wert gekoppelt ist mit der Gravitationskonstanten (oder der Gravitationsbeschleunigung)?
Erinnern nicht die metaphorischen Elemente der Sprache an die „Sprache als Morgengabe des Schöpfers an die Schöpfung“? Ist nicht das Licht (auch die Schwere, das Spitze, das Stumpfe) ein sprachlicher Sachverhalt, bevor er ein empirischer ist?
Gott will nicht, daß sein Wort leer zu ihm zurückkehrt (Kritik des Dogmas und Metaphorik).
Wie kann man gegen die Abtreibung, aber gleichzeitig für die Genforschung sein?
Anders
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21.04.93
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20.04.93
Die Welt ist (auch in ihrer prophylaktischen Gestalt in der Antike) das Produkt der Neutralisierung des Raumes, der Utopisierung der Umkehr.
Was Günther Anders unter dem Titel „prometheische Scham“ beschreibt, läßt sich an den „Geräten“, an der Ding- und Warenwelt, nur leichter demonstrieren, sein Ursprung liegt in der Bekenntnistheologie: in der Christologie und Opfertheologie. Hier gewinnt das Phänomen Ludendorff erst sein volles Gewicht (vgl. Lyotards Analyse des vollkommenen Verbrechens: Exkulpierung durch Schuldverschiebung und Abschaffung des Zeugen).
Anders S. 42: Ist diese „Klimax der Dehumanisierung“ nicht die Folge der Bekenntnislogik: der Neutralisierung der Umkehr in einer Welt, die die Möglichkeit der Umkehr ausschließt (Moral im Gravitationsfeld des Inertialsystems)?
Die Warenwelt ist eine Parodie der Auferstehung (Konsequenz und Voraussetzung des christologischen Naturbegriffs, der die Auferstehung leugnet und ohne Umkehr exkulpiert).
Daß man Elektronengehirne „füttern“ muß (Anm. zu S. 61), ist auch insoweit das Tüpfelchen aufs i, als es genau zu der Geschichte von Adam, der Schlange und dem Staub paßt.
S. 65: Scham und die drei Dimensionen des Raumes.
S. 66: Die heute so oft beschworene „Identität“ ist ein unreflektierter Scham-Effekt: Sie bleibt im Bannkreis des Schuldzusammenhangs.
In der 2. Anm. zu S. 69 beschreibt Anders die Fundamentalontologie Heideggers als Aktion (als Ergebnis) einer systematischen Schambekämpfung, den Versuch des sich schämenden Ich, die Schande seines Es-Seins zu überwinden und Es-selbst zu werden (Grund der „Eigentlichkeit“?).
„Und sie warfen das Los über seine Kleider“: Die Geschichte der aufgedeckten Blöße reicht von der Erkenntnis der Nacktheit nach dem Sündenfall („da gingen ihnen die Augen auf“), vom Feigenblatt und Tierfell, das Gott den Menschen gab (im Mittelalter als Typos der Kirche begriffen), über die Geschichte von Noe, Ham, Sem und Japhet (Entdeckung des Weins, Trunkenheit und Blöße, Aufdecken der Blöße und Ursprung der Knechtschaft) zur Verlosung der Kleider bei der Kreuzigung Jesu: Zum Kreuzestod gehörte das Aufdecken der Blöße, die öffentliche Schande des Gekreuzigten. Diese Blöße wurde nicht mehr zugedeckt: Vergesellschaftung der Knechtschaft.
Der Entdeckung der Nacktheit und das Aufdecken der Blöße ist ein Teil der Geschichte der Veranderung (und der Herrschaft): der Geschichte der Ontologie. (Ist es ein Zufall, daß der Entdecker der Scham sich Anders nennt? – Aber sein Begriff der prometheischen Scham wäre zuzuspitzen zu einem der christologischen Scham. NB: Beachte das dreifache „zu“; was hat die Präposition mit dem Präfix zu tun?)
Im Paradies waren die Menschen nackt, und sie schämten sich nicht. Aber nach dem Sündenfall, da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren. Ist dieses Augen-Aufgehen und die Implantierung der Scham nicht der Naturgrund der Verblendung, auf den das Blinden-Heilen Jesu sich bezieht? Auch den Jüngern in Emmaus gingen dann die Augen auf: aber das war Teil einer prophetischen Erkenntnis (die nicht die Blöße aufdeckt, sondern der Scham-Reflexion fähig ist).
S: 71 nennt Günther Anders die Scham „ein metaphysicum, die Verkörperung der im Universalienstreit behandelten Dialektik von res und universale.“ Er erinnert hier zugleich an das Gemeine, das im Allgemeinen (universale) steckt (ohne jedoch diesen Aspekt im Ursprung und in der Praxis des über die Universitäten betriebenen Objektivierungsprozesses hier zu bestimmen). Hier stößt er an den Grund des Weltbegriffs.
Es scheint in der Tat insbesondere im Katholizismus heute eine Scham-Akkumulation zu geben, die eine Folge des Verschwindens des theologischen Gedankens (infolge der Gewalt des Weltbegriffs) ist. Die Theologie ist nicht mehr nur „klein und häßlich“, sondern schlicht verschwunden; und die Gefahr scheint zu bestehen, daß wir nur noch erinnerungslos Abschied nehmen, weil wir nichts mehr begreifen.
Verweist das eben zitierte Benjamin-Wort (wonach die Theologie heute „klein und häßlich“ ist, und sich nicht darf blicken lassen) nicht auch auf die theologische und kunstphilosophische Differenz zwischen Benjamin und Adorno, die sich u.a. in den Begriffen Kunstphilosophie und Ästhetik ausdrückt?
War nicht das Grundmotiv des Turmbaus zu Babel, wie aller Turmbauten seitdem, das Man-selbst-sein-Wollen, das in der Fundamentalontologie so entsetzlich verendet (über die Schamlosigkeit: den Exhibitionismus der Türme).
Die Skyline von Frankfurt aus der Eigenlogik des Bankwesens herleiten.
Zur Kritik der Existenzphilosophie: Die Existenz ist in sich selber vollständig gesellschaftlich vermittelt; und die Existenzphilosophie verzweifelt nur daran, dieses Rätsel zu entschlüsseln. Das Existenzdenken steht in der Tradition des cartesischen „cogito, ergo sum“, nur leicht variiert: Ich bin, also bin ich.
Nachdem Dalila ihn verraten hatte, wurde Simson von den Philistern gefesselt, ihm wurden die Augen ausgestochen, und dann wurde er ins Gefängnis geworfen, wo er die Mühle drehte.
Auch das Schlimmste muß reflexionsfähig bleiben. Die Vorstellung, daß das Qualitative, wenn es reflektiert wird, zerstört wird, ist falsch.
Ist nicht auch die Josefs-Geschichte (der Bund mit Pharao, dessen Nachfolger dann aber Josef nicht mehr kannten) ein Stück Kirchengeschichte? Aber wer sind dann Ephraim und Manasse?
Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie