Antisemitismus

  • 27.3.1997

    „Pointiert ausgedrückt, war die politische Denunziation gewollt, aber der Denunziant nicht erwünscht.“ (Gisela Diewald-Kerkmann: Politische Denunziation im NS-Regime, Bonn 1995, S. 23) Dieser Satz trifft den Sachverhalt genauer als die nachfolgende Begründung, die zu sehr auf zweckrationale Motive abstellt. In Wirklichkeit gehört diese Konstellation zur zweifellos bewußten und intendierten Instrumentalisierung des double-bind-Mechanismus, zur gezielten Herstellung eines gesellschaftlichen Klimas der Unsicherheit, des Gerüchts, der Angst, des Terrors. Die politische Denunziation als Massenphänomen war ein Instrument der Massenbildung (der Herstellung der „Volksgemeinschaft“, in der keiner vorm andern mehr sicher war) durch bewußte und gezielte Zerstörung des Vertrauens, ohne die es Selbstbewußtsein und Autonomie, in denen der Nationalsozialismus seine schärfsten Widersacher erkannte, nicht gab. Die politische Denunziation gehört zum gleichen Instrumentarium, zu dem auch der Antisemitismus gehört, der nicht zufällig eines seiner Haupt-Wirkungsfelder war. Adorno hat einmal den Antisemitismus das Gerücht über die Juden genannt; das Gerücht aber ist der einzig geeignete Nährboden der Paranoia, von der der Nationalsozialismus und sein handlungslogischer Kern, der Antisemitismus, leben. Das Klima des Gerüchts aber hatte einen fürs Verständnis der Nachkriegszeit außerordentlich wichtigen Effekt: In ihm war der Verdrängungsakt, der bereits im Anfang der Nachkriegszeit die Erinnerung an die Nazizeit unterbunden hat, schon angelegt und vorgebildet. Es dürfte niemanden gegeben haben, der nicht vom Naziterror, von der Judenverfolgung und von der Existenz und der Funktion der KZs gewußt hätte (ohne dieses Wissen hätte es auch die politische Denunziation als Massenphänomen nicht gegeben). Dieses Wissen wurde bewußt und gezielt vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Über die KZs und das, was dort vor sich ging, durfte in der Öffentlichkeit nicht berichtet und nicht einmal gesprochen werden, während gleichzeitig die Gerüchte darüber auf allen möglichen Wegen gefördert wurden. Alle sollten es wissen, denn anders hätte der Terrorapparat seinen Zweck als Herrschaftsinstrument nicht erfüllen können, aber diesem Wissen wurde bewußt (auch mit Hilfe entsprechender Sanktionen) der Weg in die Öffentlichkeit, in den öffentlichen Diskurs, versperrt. Damit war eine wichtige Wirkung garantiert: Diesem Wissen wurde gewaltsam die Qualität des Gerüchts aufgeprägt, so war es als Angstproduzent, als Instrument des Terrors, allgegenwärtig; die Wirkung wurde zugleich auf paradoxe Weise dadurch verstärkt, daß diesem Wissen mit der Öffentlichkeit die Berechenbarkeit, die Möglichkeit des rationalen Umgangs mit dieser allgegenwärtigen Drohung, und damit auch die Erinnerungsfähigkeit entzogen wurde. Deshalb haben alle „nichts davon gewußt“ (d.h., sie haben es gewußt, aber können sich post festum nicht erinnern: auch eine objektive Lüge kann subjektiv ehrlich sein). Ist es ein Zufall, wenn das gleiche technische Instrumentarium im Bereich des sexuellen Mißbrauchs (der den faschistischen Terror wie unterm Wiederholungszwang aus dem politischen Bereich ins Private verschiebt) wiederkehrt?
    Gisela Diewald-Kerkmann weist darauf hin, daß es in der Geschichte der politischen Denunziationen (Politische Denunziation im NS-Regime, Bonn 1995, S. 62ff) zwei Höhepunkte gegeben hat, und zwar 1935/36 und von 1942 bis 1944. Auffällig, daß beide Phasen Krisenphasen des Regimes waren, und daß es sich in beiden Fällen zugleich um entscheidende Phasen der nationalsozialistischen Judenpolitik handelte (Nürnberger Gesetze und „Endlösung“). Fragen:
    – Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Freigabe der Denunziation und der Anheizung des Antisemitismus (Öffnung eines Ventils, Instrumentalisierung der projektiven Verarbeitung der eigenen Zweifel)?
    – Wie hängt diese Geschichte mit der Nachkriegs-Verdrängungsgeschichte zusammen, und welche Folgen hatte sie für den Umgang mit der Nazivergangenheit nach dem Krieg („Kollektivscham“, Verurteilung statt Erinnerung, Funktionalisierung des „Terrorismus“)?
    Gibt es ein Äquivalent zu Denunziation und Antisemitismus in der Konstruktion der naturwissenschaftlichen Erkenntnis?
    „Volksgemeinschaft“ (Volk als „Schicksalsgemeinschaft“): Welche reale Bedeutung hat eigentlich der Slogan „Wir sind das Volk“?
    Der letzte Satz des Jakobusbriefs macht nicht nur zum erstenmal verständlich, was Gnade ist, er bezeichnet den genauesten Einspruch gegen jede Art von Schicksalsgemeinschaft.
    Das Motiv, den Tempel abzureißen und in drei Tagen wieder aufzubauen, gibt es in den Evangelien sowohl real, als Wort Jesu, als auch als Denunziation, als „falsches Zeugnis“. Es kann etwas also wahr und eine Denunziation zugleich sein. Hat dieser Sachverhalt nicht etwas mit dem Taumelkelch, mit der Besoffenheit des Herrendenkens, zu tun?
    Die Geschichte des Opfers ist der sprachgeschichtliche Teil der Geschichte der Instrumentalisierung.
    Wird in der Antisemitismus-Diskussion in der „Jungen Kirche“ nicht aufs drastischste deutlich, daß die Bücher Samuel und Könige keine historischen, sondern prophetische Bücher sind? Sie sind insbesondere keine Hagiographien. David als „Vorbild“ gehört in den Komplex „Karl der Fiktive“, es gehört nicht in die messianische Geschichte. Ebenso weist das Verständnis der Nachfolge als „Vorbild“ haarscharf neben die wirkliche Bedeutung der Nachfolge: Sie ist eins mit dem „Bekenntnis des Namens“, das mit dem Bekenntnis zum Namen nicht nur nichts zu tun hat, sondern auf den Irrweg geführt wird. Das Vorbild gehört zu den Dingen, auf die das Bilderverbot sich bezieht; es gehört zur gleichen Logik, der der Name der Christen sich verdankt, der das Christentum zur Partei gemacht hat.
    Die Orthodoxie ist insgesamt wahr, bis auf das eine: sie verletzt das Bilderverbot. Die Wurzeln der Verletzung des Bilderverbots sind die „subjektiven Formen der Anschauung“. Kopernikus hat die Verletzung des Bilderverbots zum Apriori der Vorstellung des Universums gemacht.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind der Systemgrund der Bilder (der Vorstellungen). Dieser Systemgrund wird fundiert, stabilisiert und abgesichert durch die Totalitätsbegriffe Wissen, Natur und Welt.
    Die Objektivierungsgeschichte ist die Subjektivierungsgeschichte. Diese Geschichte ergreift in der Idee des Absoluten Gott; das Absolute ist der Schatten, den das Subjekt auf Gott wirft, der Quellpunkt der Verhärtung des Herzens (das hat Hegel erfahren, als er sich als „von Gott dazu verdammt“ erkannte, „ein Philosoph zu sein“.
    Die erbauliche Bibelauslegung, die aus dieser Logik sich herleiten läßt, hat die Schrift in den Kontext des Gerüchts gerückt. Sie verweist auf die Wurzel des Gerüchts: die Subsumtion der Sprache unters Gesetz der Selbsterhaltung, das in der christlichen Tradition durch die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele hereingekommen ist. Indem sie die Idee des seligen Lebens an die philosophische Idee des Glücks (zu der der Islam dann die Illustration geliefert hat) zu binden trachtet, verrät sie die Barmherzigkeit, deren gegenständliches Korrelat die Idee der Auferstehung ist. Die Unsterblichkeitslehre war das infamste Herrschaftsinstrument.
    Zu dem Satz, daß die Kirchen bis heute nur gebunden, nicht gelöst haben, gehört der Satz: Magnus error in principio magnus est in fine.
    Das Himmelreich ist nicht eine fix und fertige Einrichtung über uns, bei der es dann nur noch darum geht, ob man reinkommt oder nicht, sondern das Himmelreich, daß mitten unter uns ist, ist etwas, was sich in der Geschichte der Erlösung erst bildet: das Ziel der messianischen Wehen, an dessen Hervorbringung wir wie die Gebärerin an der Geburt aktiv teilhaben (Röm 819ff).
    Ist die „Stille im Himmel“ bei der Öffnung des siebten Siegels (Off 81) das akustische Äquivalent der Sabbatruhe? Am siebten Tag schweigt auch Gott, ist er entlastet von der Last der Schöpfung durchs Wort.
    Subjektivierungsgeschichte: Von hinten wird das Licht zur Empfindung, von der Seite trennen sich Barmherzigkeit und Gericht, von unten wird der Name zur Macht.
    Stecken die Denunziation und der Antisemitismus nicht schon in den Fundamenten der Welt (die durchgedrehte Bekenntnislogik)?
    Die religiösen Vorstellungen, das Dogma und die Orthodoxie verhalten sich ähnlich zur Bekenntnislogik wie die Erscheinungen, die Begriffe und die Gesetze der Physik zum Inertialsystem.
    Welche „Großen“ gibt es in der Geschichte (von Alexander über Karl, Gregor und Innozenz, Albertus bis hin zu Friedrich und Katharina)? Vgl. hierzu Jakob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen, insbesondere das 5. Kapitel: Das Individuum und das Allgemeine (Die historische Größe), und hierzu in der Einleitung:
    – „Wir betrachten das sich Wiederholende, Konstante, Typische als ein in uns Anklingendes und Verständliches“ und
    – „wir können jene Lehre von den Anfängen entbehren, und die Lehre vom Ende ist von uns nicht zu verlangen“ (S. 10).
    Hat der historische Begriff der Größe etwas mit dem paradoxen Versuch zu tun, unter den Bedingungen des Zeitkontinuums so etwas wie einen Anfang zu etablieren (den Anfang der Welt, die ein „Großer“ begründet hat)? Zielen Benjamins Reflexionen zur Kritik der Gewalt nicht auf diesen Sachverhalt? Der Begriff der Größe benennt die Gewalt, die Walter Benjamin die rechtssetzende Gewalt nennt.
    Zur Größe gehört das Denkmal, das von der Last der Reflexion suspendiert (seit des Goethe-Denkmäler gibt, wird Goethe nicht mehr gelesen).
    Die Größe ist das Korrelat (und das Alibi) der eigenen Kleinheit.
    Ist nicht die Sohn-Gottes-Theologie der Versuch, auch Jesus ein der Größe korrespondierendes Attribut zuzuerkennen („Bekenntnis“ und Größe)?
    Dieser Begriff der Größe erfährt seine Vollendung in der Unendlichkeit der kopernikanischen Welt, vor der ich mich endgültig klein fühlen darf (ist nicht die kopernikanische Welt der Baum, unter dem Adam nach dem Sündenfall sich versteckte?).
    Alle Anti-Bewegungen der Nachkriegszeit waren verhext durch die Feindbildlogik.
    Das „nur“ in der Fassung des kategorischen Imperativs, nach der Menschen nicht nur als Mittel angesehen werden dürfen, schließt die absolute Verpflichtung zur Reflexion mit ein (und diese Verpflichtung gilt als moralische Pflicht auch für den Richter; deshalb darf der Angeklagte niemals zum Feind werden).
    Ist nicht der Universalismus und der unter seinem Gesetz vollzogene Objektivationsprozeß ein Prozeß der Selbstinstrumentalisierung, der Identifikation mit dem Aggressor. Die subjektiven Formen der Anschauung haben diesen Prozeß automatisiert.
    Wer das „nur“ unterschlägt, gerät in eine Logik, in der er am Ende den Satz nur noch auf sich selbst bezieht, alle anderen davon ausschließt.
    Sind nicht alle Planeten frei fallende Fahrstühle, die nur durch die Trägheitskräfte ihrer elliptischen Bewegungen vom Sturz in die Sonne abgehalten werden?
    Das Licht ist der Sprachgrund im Sehen. Gott spricht, bevor er sieht, die Menschen sehen, bevor sie sprechen.

  • 26.3.1997

    Ist das Ende des Sündenfalls ein Echo des Anfangs der Schöpfung? Beziehen sich der Acker, der Dornen und Disteln trägt, der Staub, aus dem Adam geworden ist und zu dem er wieder werden wird, und die Wehen der Geburt auf das Tohuwabohu, die Finsternis über dem Abgrund und den über den Wassern brütenden Geistes?
    Hängt die Scham mit der Grenze der Individualität, mit der inneren Beziehung von Individuum und Gattung zusammen, mit der Beziehung von Objekt und Begriff? Ist der Boden, in dem der Sich Schämende versinken möchte, die Allgemeinheit des Begriffs, ist die Kollektivscham die Wurzel des Nationalismus?
    Hiermit hängt es zusammen, daß die schlimmsten Gemeinheiten die sind, die man selbst nicht mehr wahrnimmt.
    Sich den Kopf anderer Leute zerbrechen: Heißt das nicht, den andern die Erfahrung verbieten?
    Ist nicht der Antikommunismus immer noch ein Alibi für den Antisemitismus, verschärft seit dem Zusammenbruch des Ostblocks? Nur ist das keine Rechtfertigung des real existierenden Sozialismus.
    Strukturwandel der Öffentlichkeit: Die Doppelbödigkeit der faschistischen Öffentlichkeit, das Zusammenwirken des öffentlichen Gerüchts (in dem Wahrheit und Paranoia untrennbar sich mischten) mit seinem macht- und terrorgestützten Dementi (die offizielle Leugnung der Wahrheit, das Verbot, über das offenkundige Grauen zu reden), war ein Produkt des politisch instrumentalisierten double bind. Liegt nicht der eigentliche Strukturwandel der Öffentlichkeit in dem perfektionierten Gebrauch dieses Instruments, insbesondere in den Fortschritten seiner rechtlichen Absicherungen (der gesamte Apparat der Geheimhaltung, des Staats- und Verfassungsschutzes)? Auf das, was die beiden Öffentlichkeitsebenen trennt, verweist der Begriff der Kollektivscham, die Grundlage des neuen Nationalismus, der tiefer gründet, als in einer bloßen Gesinnung: nämlich im logischen Kern der politischen Ökonomie.
    Was die Nazis Volksgemeinschaft nannten, heißt heute Standort Deutschland. Damit hängt es zusammen, wenn heute alle sich die Köpfe aller anderen zerbrechen (wenn die Religion unwiderruflich zur Religion für andere geworden ist, deren blasphemische Struktur den Nachkriegs-Atheismus fundiert). Entsetzliche Mischung von Empfindlichkeit und Unsensibilität im Bann der Abwehrmechanismen und Rechtfertigungszwänge. Vgl. hierzu (vor dem Hintergrund der Geschichte ihrer Vergesellschaftung) die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos.
    Haben Kreuz und Kelch etwas mit der Beziehung der Orthogonalität zur Form der äußeren Anschauung zu tun (gehört das Kreuz zur babylonisch-römischen Tradition)?
    Zum Ursprung des Begriffs des Wissens (zu seinen logischen Konstituentien) gehört der Name der Barbaren. Gibt es dazu ein Äquivalent im Sanskrit, in der indischen Urgeschichte (vgl. hierzu die logische Stellung Indiens im Stern der Erlösung)? Oder dringt der Feindbegriff erst in der griechischen Vollendung der mythischen Logik (mit der Schicksalsidee, die dem Ursprung der Philosophie vorausgeht) in den Begriff des Wissens ein? Sind die chinesische und die indische Welt getrennte Formen der Wendung des Feindlichen nach innen und außen?
    Der Kapitalismus hat die teleologische Logik der Selbsterhaltung durch Instrumentalisierung in eine Kausallogik transformiert.

  • 21.3.1997

    Die Sprache steht der Wirklichkeit nicht gegenüber, sondern sie ist in sie verflochten und verstrickt. Wenn die Wirklichkeit außerhalb der Sprache und gegen sie sich zu behaupten scheint, so fällt dieses „außerhalb“ noch in die Sprache: als Objekt und Korrelat des richtenden Urteils. Die Totalitätsbegriffe Wissen, Natur und Welt sind die Statthalter des richtenden Urteils.
    Wenn die Sprachgeschichte ein Teil der Herrschaftsgeschichte ist, dann ein subversiver.
    Das Huygens’sche Relativitätsprinzip ist ein Grenzfall des Einstein’schen, gültig im Bereich von (im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit) niedrigen Geschwindigkeiten. Entspricht hier nicht die Grenze, die die beiden Relativitätsprinzipien trennt und unterscheidet, der Grenze, die zwei Dimensionen des Raumes von einander trennt und unterscheidet? Sie bezeichnet einen zweiten Akt des Objektivationsprozesses. Nicht das selbe, sondern nur das gleiche Inertialsystem verbindet die Mechanik mit der Elektrodynamik und der Mikrophysik. – Oder ist es nicht schon das dritte: ist das zweite das des Gravitationsgesetzes?
    Ist der Begriff des Falls im ersten Satz des Wittgenstein’schen Tractatus logico-philosophicus ein Produkt dieser dreifachen Objektivation? Das physikalische Äquivalent des Wittgenstein’schen Satzes ist die Einstein’sche Identität von träger und schwerer Masse.
    Urteile werden gefällt: Was gefällt wird, wird zu Fall gebracht.
    Sind nicht alle Begriffe, mit deren Hilfe mikrophysikalischen Erscheinungen und Prozesse beschrieben werden, metaphorische Begriffe?
    In dem Vergleich der Nachkommenschaft Abrahams mit den Sternen des Himmels und dem Sand am Meer steckt ein logisches Problem: das der Pluralität.
    Wie hängt Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“ mit der Weizsäckerschen „Explosion von Genie“ zusammen (nach Kant ist die Natur im Subjekt die Produktivkraft des Genies)?
    Wer das Problem der deutschen Fraktion der Kopenhagener Schule nur unter dem Gesichtswinkel schuldig/nicht schuldig sieht, verfehlt die Sache. Beginnt die wirkliche Schuld nicht erst in der Unfähigkeit, post festum die eigene Verstrickung (die in actu unsichtbar war) zu reflektieren: in der Geschichte der Verdrängung?
    Blochs Satz „Der Anfang wird am Ende sein“ rührt an einen zentralen Sachverhalt: Die Geschichte der Aufklärung hat den Anfang ins Ende transformiert, und das über einen Akt, der die Wahrnehmung dieses Vorgangs zugleich verhindert hat, weil er im Kern des Objektivierungsprozesses selber sich vollzogen hat, in der Bildung der subjektiven Form der inneren Anschauung, der Vorstellung des Zeitkontinuums (der Idee des „Überzeitlichen“). Hierin gründet der Tatbestand, auf den der Satz sich bezieht: Alle tun ihre Pflicht, aber keiner weiß, was er tut. Deshalb ist die bloße Verurteilung des Faschismus ein Instrument der Umkehrverhinderung.
    Der Ursprung der Umkehrverhinderung liegt in der kopernikanischen Wende: Seit der Konstituierung der Raumvorstellung (die die Vorstellung des Zeitkontinuums begründet und stabilisiert) führt jede Umkehr in die gleiche Scheiße zurück; seitdem ist die Zukunft wie die Vergangenheit. Die kopernikanische Wende hat das Ungleichnamige gleichnamig gemacht: den Begriff vom Namen getrennt und den Namen vernichtet (die Zerstörung des Tempels, bei der kein Stein auf dem andern geblieben ist).
    Wo war in der Zeit der Richter die Bundeslade?
    Der Nachkriegs-Atheismus gründet in der Zwangslogik des Sich-tot-Stellens. Er kündigte sich an in Heideggers „Vorlaufen in den Tod“. Die Religion, von der der Fundamentalismus nicht lassen will, ist eine Religion für andere.
    Gehört nicht Weizsäcker zu den Protagonisten eines Diskurses über „Religion und Naturwissenschaft“, der es in erster Linie darum geht, ähnlich wie einmal die „spekulative Physik“ Einsteins, so jetzt auch die Religion so kurz und klein zu diskutieren, daß sie praktisch nicht mehr vorkommt, daß mit der Religion die Kraft des Eingedenkens, der Erinnerung, verschwindet. Dieser Diskurs steckt so im Bann der Rechtfertigungszwänge, die sehr konkrete Ursachen haben, daß er als Beleg für die Traditionszerstörung durch den Antisemitismus genutzt werden kann. Die deutsche Fraktion der Kopenhagener Schule war eine „deutsche Physik“, die Kreide gefressen hat.
    Heute breitet das Täter-Opfer-Paradigma sich aus: Die Deutschen, die Christen, die Männer, die Väter, die „Besserverdiener“, sie alle haben allen Grund, dieses Paradigma zu reflektieren. Haben nicht die Exkulpationslogiken, die diese Täter-Opfer-Paradigmen erzeugen, etwas mit dem Stand der „Aufklärung“, die seit je auf „klare Fronten“ abzielte: mit dem Stand der Geschichte der Herrschaftslogik, etwas zu tun?
    Wenn Hitler im Atheismus überlebt, dann gibt es zur Reflexion der Naturwissenschaften keine Alternative mehr. Hier werden die „Wege des Irrtums“ erstmals lesbar.
    Die Logik des Traums des Nebukadnezar läßt sich an der Beziehung der Astrologie zur Astronomie demonstrieren: Die Astronomie ist das Instrument des Vergessens; vergessen wurde die Astrologie, die den Traum bezeichnet, der zu deuten wäre.
    Astrologie und Astronomie lassen sich durch ihre Beziehung zur traditionellen Wahrheitsdefinition bestimmen: Die Astrologie hat die „adäquatio intellectus ad rem“ eröffnet, die Astronomie die „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“.
    Das Urteil im Hogefeld-Prozeß hat im Umkreis der RAF eine ähnliche Wirkung ausgelöst wie die „Schüsse an der Startbahn“ auf die Anti-Startbahn-Bewegung. In beiden Fällen gab es den aufgescheuchten Hühnerhaufen. Verweist das nicht sehr deutlich auf die Beziehung von Urteil und Mord? In jedem Urteil, auch nach der Abschaffung der Todesstrafe, steckt ein Todesurteil. Deshalb gehört der Mord als Täterdelikt zu den Grundlagen des Strafrechts, zu den Säulen des Strafrechts.
    Der Rechtsstaat ist der säkularisierte Faschismus.
    Was hat Paulus gemeint, als er die drei Apostel in Jerusalem, Petrus, Jakobus und Johannes, die „drei Säulen“ nannte? Und was bedeuten eigentlich die Verdoppelungen und Verschiebungen in der Urgeschichte des Christentums:
    – beim Jakobus (Zebedäussohn, Sohn des Alphäus, Herrenbruder – wer ist der Autor des Jakobusbriefs?)
    – Simon (S. Petrus, Kananäus -> Nathanael?)
    – Johannes (der Täufer, Zebedäussohn)
    – Judas (Thaddäus, Sohn/Bruder des Jakobus, Herrenbruder, J. Iskarioth – sind Thaddäus, der des Jakobus und der Herrenbruder eins, wer ist der Autor des Judasbriefs)
    – Philippus (Apostel, einer der Diakone)
    – was ist mit Levi/Matthäus?
    Ist es möglich, aus den vier Evangelien und der Apostelgeschichte eine einheitliche Apostelliste aufzustellen?
    In der Nacht sind alle Katzen grau: Hat dieses Grau etwas mit dem „Grauen um und um“ bei Jeremias zu tun?

  • 6.3.1997

    Thomas Powers „Heisenbergs Krieg“ ist in Wirklichkeit Heisenbergs Legende: Es ist schon erstaunlich, wie dreist der Nationalismus Heisenbergs (und der Antisemitismus E. v. Weizsäckers) heruntergespielt wird, so als sei es normal, angesichts der Vertreibung der jüdischen Kollegen, des Kriegs und des Genozids nationalgesinnt zu sein, und als sei es verständlich, wenn Heisenberg den Anstand im faschistischen Deutschland erst in dem Augenblick als bedroht ansieht, als es um die eigene Karriere (um die Berufung auf den Lehrstuhl Sommerfelds in München) geht. Da sieht er selbst in dem Versuch, Himmler einzuschalten, noch kein Problem. Andererseits trägt Powers doch sehr dick auf, wenn er die Bemühungen in den USA, nach Hahns Entdeckung der Atomspaltung die Möglichkeiten einer militärischen Nutzung der Atomenergie auszuloten, als gierig und irrational beschreibt (und auf die Sensibilisierung der Emigranten, die Art und Ausmaß der Nazigefahren am eigenen Leibe erfahren haben, für eine mögliche deutsche Bedrohung nicht eingeht), während beispielsweise ein mindestens vergleichbarer Hinweis Weizsäckers an das Heereswaffenamt auch im unmittelbaren Anblick der Gefahr eines von Deutschland ausgehenden neuen Weltkrieges für ihn nur normal ist.
    So läßt sich denn auch die in der Tat unsägliche Rolle Philip Lenards und Johannes Starks und der „deutschen Physik“ als Alibi verwenden, um die wirkliche Beziehung der „seriösen“ deutschen Physiker wie Heisenberg und Weizsäcker, um von Pascual Jordan zu schweigen, zu Einstein nicht aufklären zu müssen. Dabei wäre es an der Zeit, einmal im Ernst zu untersuchen, welche ideologische Rolle die sogenannte „Kopenhagener Schule“ (die seit je Nils Bohr nur als Alibi benutzt hat) im faschistischen Deutschland (und in der Folgezeit) wirklich gespielt hat.
    Adornos Satz „Das Ganze ist das Unwahre“ ist der fundamentale Einspruch gegen das Herrendenken. Den gleichen Sachverhalt hat Rosenzweig in seiner Kritik des All zu formulieren versucht. Es ist der Einspruch gegen einen Universalismus, für den die Totalität zur Verfügungsmasse geworden ist. Der Satz „Das Ganze ist das Unwahre“ hält die Idee der Versöhnung bis ins Innere des Gedankens (und d.h. auch: bis in den Kern der Natur) offen. Die Idee einer Zukunft, die nicht unter die Vergangenheit subsumiert ist, ist anders nicht mehr zu halten.
    Kritik der Naturwissenschaft oder
    – der Seitenblick, in dem Natur als Natur überhaupt erst sich konstituiert, oder
    – Kritik der zukünftigen Vergangenheit oder
    – der asymmetrische Wahrheitsbegriff (Name und Begriff).
    Die kantische Frage, wie es möglich ist, daß Raum und Zeit als subjektive Formen der Anschauung gleichwohl objektiv sind, erstreckt sich heute auf Natur und Geschichte insgesamt.
    Der terminus ad quem der resurrectio naturae ist die Erkenntnis des Namens. Natur steht unterm Bann der Feindbildlogik. Deshalb gehörten zum Selbstverständnis des Hellenismus als Projektionsfolie die Barbaren.
    Die modernen Naturwissenschaften (deshalb ist der Begriff der naturwissenschaftlichen Erkenntnis emotional so hoch besetzt) haben die Idee der Erlösung und damit die Wurzel des Christentums selber angegriffen und säkularisiert. Bezieht sich das Wort „Was ihr auf Erden lösen werdet, wird auch im Himmel gelöst sein“ auf dieses dem Begriff der naturwissenschaftlichen Erkenntnis innewohnende Problem? Steckt darin nicht die Lösung des Problems des zweiten Tags (zur Feste des Himmels fehlt der Satz „und er sah, daß es gut war“)?
    Die Kritik der Naturwissenschaften ist von dem Problem der Kritik der politischen Ökonomie und dem der Kritik der Bekenntnislogik nicht zu trennen. Verweisen die „Völker, Nationen und Sprachen“ in den Apokalypsen auf diese Konstellation (vgl. auch das Wort über Assur, Ägypten und Israel in Jes 1925)?
    Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist: Ist das Geld nicht ein „außenpolitisches“ Institut, ein Mittel der Tributerhebung, damit aus seiner eigenen Logik heraus ein kaiserliches Institut (Dareiken)?
    Kann es sein, daß die karolingische Münze, die als Beweis für die Existenz des karolingischen Reiches angesehen wird, als Schlußstein zu den Fälschungen gehört, die das mittelalterliche Imperium legitimieren sollten: daß sie „Falschgeld“ ist? War dieses Geld ein Instrument der Selbstbegründung der Reichsidee und des Kaisertums?
    Aus welcher Zeit stammt das Attribut „der Große“, auf wen wurde es angewandt (von Alexander über Karl bis zum preußischen Friedrich) und was drückte in diesem Attribut sich aus?
    Das Traumproblem in der Schrift scheint darauf hinzudeuten, daß der Joseph in den Evangelien vielleicht doch etwas mit dem gleichnamigen Sohn Israels etwas zu tun hat?

  • 18.2.1997

    Das Gewissen ist das Organ der Sensibilität, der moralischen Wahrnehmung: es ist ein Erkenntnisorgan. Wer das Gewissen (im Kontext der transzendentalen Ästhetik, unterm Bann der subjektiven Formen der Anschauung) zu etwas rein Innerlichem macht, macht es zur Quelle von „Schuldgefühlen“. Dieses Gewissen beurteilt nur post festum die vergangenen Handlungen (das eigene Tun); zu diesem Gewissen gehört der Rechtfertigungszwang (gehören die Abwehrmechanismen und die Feindbildlogik).
    Was ist das für ein merkwürdiges Konstrukt, das, indem es rechtfertigt, verurteilt und freispricht zugleich? Ist dieses „Gewissen“ nicht der Inbegriff der Logik der subjektiven Formen der Anschauung, der transzendentalen Ästhetik?
    Das Gewissen, das nur noch innerlich ist, ist der Luxus in einer versteinerten und gnadenlosen Welt.
    Ist nicht der letzte Satz des Jakobusbriefs der Schlüssel zur Gnadenlehre?
    Zu Hegels Satz: „Für den Kammerdiener ist der Held kein Held“ ist zu bemerken: Ein Held, der einen Kammerdiener hat, ist kein Held.
    Ist Held eine ästhetische Kategorie? Was (nicht „wer“) ist der Held des Romans (ein Identifikationsobjekt, das ästhetische Pendant des Objekts: Beziehung zum Weberschen „Charisma“)? Gibt es Helden ohne Feindbildlogik, und gehört nicht zur Figur des Helden die Idee des stellvertretenden Opfers? Ist nicht die Figur des Helden der Knotenpunkt der Instrumentalisierung (im Helden gewinnt die Logik der Instrumentalisierung, die transzendentale Ästhetik, Selbstbewußtsein)? – Was hat die Figur des Helden mit dem „Fürsten dieser Welt“ und mit der Astronomie zu tun? Helden sind fleischgewordene Götter. Helden sind die Abgeltung des Opfers als Opfer an das Selbst.
    Gibt es außer dem biblischen Schöpfungsbericht noch eine andere Kosmogonie, die auch die Entstehung des Lichts mit einschließt?
    Pharao, der Titel des ägyptischen Königs: Hat die aristotelische Unterscheidung von oikos und polis etwas mit der Unterscheidung von Mizrajim (Pharao und das Sklavenhaus) und Babylon (Tempelwirtschaft) zu tun?
    Stecken nicht im Namen der politischen Ökonomie, deren Kritik Marx sich vorgesetzt hatte, die polis und der oikos?
    Bei Rosenzweig kommen Ägypten und Babylon nicht vor, dafür neben Griechenland Indien und China und neben Juden und Christen der Islam. Das aber heißt: Rosenzweig war kein Prophet, sondern ein Philosoph.
    Bei Daniel kommt Ägypten nicht vor (erst bei Johannes kommt neben Babylon auch Ägypten vor: die Plagen). Wer Ägypten verstehen will, muß die Finsternis begreifen.
    War die Erfindung der Sumerer ein Konstrukt zur Absicherung des Antisemitismus, gehört sie nicht in den Kontext der historischen Bibelkritik, deren Ziel die Neutralisierung der Prophetie gewesen ist? War nicht das Ziel der historischen Bibelkritik die Kritik der Erwählung Israels, die sie zu einem Exempel des Nationalismus gemacht hat, um so die exkulpatorische Logik zu retten? Kern der historischen Bibelkritik war die Verwerfung der Gottesfurcht.
    Hat die kabbalistische These. daß die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, etwas mit der apokalyptischen Versiegelung (und mit der Lösung der sieben Siegel) zu tun?
    Gibt es nicht Motive aus der heroischen Tradition, die sowohl auf Moses als auch auf Jesus sich anwenden lassen?
    Ist die Stummheit des Helden die Folge seiner Beziehung zum Ursprung der Kunst, zur Ästhetik, auch zu den subjektiven Formen der Anschauung? Sind Helden die ersten Objekte der Anschauung? Wenn die Stummheit des Helden mit dem Ursprung der Raum- und der Objektvorstellung zusammenhängt, ist sie eine Bestimmung innerhalb der Sprache. Und wie hängt die Distanz zum Objekt, die in der Stummheit des Helden sich ausdrückt, mit dem bara, mit dem biblischen Schöpfungsbegriff zusammen (wie auch mit dem Namen der Barbaren und der Hebräer)?
    Ich schaffe die Finsternis und bilde das Licht: Ist nicht das Himmelsblau das über die Finsternis gezogene Licht, das Rot des Feuers die über das Licht gezogene Finsternis? – Vgl. Goethes Farbenlehre.
    Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Haben Mond und Sonne etwas mit der Scham und mit dem Blick der Andern, mit dem Urteil, zu tun?
    Et verbum caro factum est: Ist dieses Fleisch der Inbegriff der Nacktheit und der Scham. Der ans Kreuz Geheftete war nackt.
    Drückt in der Apokalypse die Beziehung der Wahrheit zur Öffentlichkeit sich aus, die auch dem Martyrium zugrunde liegt?
    Mene, tekel upharsin: Gezählt, gewogen und zu leicht befunden. Die Wand ist die Projektionsfläche, die die Rationalität der Naturwissenschaft begründet. Ist das Menetekel (die Schrift an der Wand) der Grund der Naturwissenschaft? Das Menetekel ist das Symbol der Logik der Schrift; und hat es nicht auch etwas mit dem Geld, mit Mine und Schekel, zu tun? Ist die Kunst (der subjektlose Traum der Politik, den das Genie, die „Natur im Subjekt“, träumt) der Traum des Nebukadnezar?

  • 12.2.1997

    Die Welt ist alles, was der Fall ist: Hat Wittgensteins Philosophie etwas mit dem Allgemeinen Relativitätsprinzip zu tun, ist sie die Verkörperung des frei fallenden Fahrstuhls?
    Die Christen haben seit der Eingliederung der Kirche ins römische Imperium (seit der Konstituierung der Theologie hinter dem Rücken Gottes) die Erlösung mit der Euphorie in dem frei fallenden Fahrstuhl verwechselt. Mit der zentralen Funktion des Falls in der Logik der Theologie hinter dem Rücken Gottes hängt es zusammen, wenn für diese Theologie die Hölle seit je realer war als der Himmel.
    Antisemitismus: Der Zustand der Welt reißt die Institutionen in den Abgrund, in denen die Hoffnung sich verkörpert. Der Mechanismus des „Beweises“: die sind auch nicht besser, zerstört alles.
    Als die moderne Aufklärung die Unendlichkeit von Raum und Zeit „bewiesen“ hatte, gab es kein Halten mehr.
    Diese Logik ist die der Personalisierung, die H.G. Kippenberg soziologisch an der Figur des am ha’arez festmachen möchte (am Königsland, am Modell des Königs als Schützer der Armen), damit aber mit Hilfe der gleichen Logik erklärt, die er eigentlich selbst erklären müßte, aber nicht durchschaut. Beziehen sich die Gleichnisse Jesu, auf die er verweist, wirklich alle auf die Situation der Landbevölkerung im Königsland, nicht auch auf den Großgrundbesitz von Stadtbewohnern?
    Die Logik der Personalisierung ist ein Teil der Bequemlichkeit und des Komforts, die heute zu Grundlagen der Weltanschauungen und damit mörderisch geworden sind.
    Löwengrube und Feuerofen: Die Wirkung der Medien läßt sich heute sowohl unterm Bilde des Drachenfutters wie unter dem des Brennmaterials, mit dem der Feuerofen geheizt wird, fassen. Als die Nazis das gesunde Volksempfinden ins Recht einführten, haben sie im Recht die Feuer der Hölle entzündet, und diese Feuer werden heute weiter genährt. Der Feuerofen, das ist der Ofen der Empörung. An der Empörung nährt sich der Rachetrieb (sie ist nicht seine Wurzel, nur sein Alibi).
    Die räumlich-dingliche Höllenvorstellung ist ein logisches Sinnesimplikat der Theologie hinter dem Rücken Gottes.
    Die Himmel: Das ist kein Pluralis, sondern ein Dualis (schamajim, wie auch Mizrajim). Drückt darin das Verhältnis von Gericht und Barmherzigkeit sich aus? Ist das Wasser das Gericht (und steckt nicht in dem Thales’schen „Alles ist Wasser“ schon das Inertialsystem), und das Feuer die Barmherzigkeit (das Feuer des Himmels, das die Kirche in die Hölle projiziert hat)?
    Ist das Licht der Realgrund der Sprache?
    Die Sinnfrage entscheidet sich nach dem Adressaten: Der Sinn für mich (der Sinn von Sein, aber auch jede sinnliche Qualität) ist zu unterscheiden vom Sinn an sich: vom Namen Gottes.
    Wie hängt die Sinnfrage mit der Sinnlichkeit zusammen?

  • 9.2.1997

    „Ein Mischnalehrer lehrte vor Raw Nachman, Jitzchaks Sohn: Jeder, der das Gesicht seines Gefährten vor den Vielen erbleichen läßt, ist, als ob er Blut vergießt.“ (Bawa mezia 58a, zitiert nach Der Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer, Goldmann München, S. 508) Läßt nicht die Theologie das Angesicht Gottes „vor den Vielen erbleichen“, ist diese Beschämung nicht der genaueste Ausdruck des Paradigmas „Hinter dem Rücken“ (des „Redens von Gott“), eigentlich des Objektivierungsprozesses insgesamt? Ist die Natur die Schöpfung im Zustand dieses Erbleichens? Und ist das Beschämen (das den Andern Nackt-Vorführen) nicht das Werk der subjektiven Formen der Anschauung: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren?
    Der intentio recta ist alles nackt. Und eine Theologie im Angesicht Gottes läßt auch als der Versuch, die Nackten zu kleiden, sich begreifen. Ist das nicht ein Hinweis auf das in dem Wort von den im Blut des Lammes gereinigten Kleidern Gemeinte?
    Durch die intentio recta wird der Taumelkelch zum Unzuchtsbecher.
    Der Ankläger läßt den Angeklagten erbleichen, der Verteidiger stellt ihn wieder auf die Füße. Das Beschämen gründet im Vorrang des Sehens vor dem Hören.
    In welchen Zusammenhängen erscheint der messianische Titel kyrios, Herr, und wer nannte Jesus zum erstenmal Herr (und wer nannte ihn Herr, und wer Meister, Rabbi)?
    Bedeutet der Satz, daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen werden, eigentlich auch, daß die Kirche ewig sein wird? Gibt es einen biblischen Hinweis auf den Namen der ecclesia triumphans?
    Ist der Ausdruck Sternendiener (für die Angehörigen der Völker) talmudisch, oder ist er biblisch begründet? Hat er nicht etwas mit dem Namen des Sünders und den Wegen des Irrtums zu tun?
    Im Begriff der Geschichte und im Verfahren des Historismus steckt ein apriorisches Element (gegen das Franz Rosenzweig seinen Stern der Erlösung geschrieben hat).
    Beamtenmentalität: Sich auf eine Weise den Kopf anderer Leute zerbrechen, daß man unfähig wird, sich in sie hineinzuversetzen.
    Nicht die frontale Anklage, der man sich stellen kann, sondern das Urteil hinter dem Rücken, gegen das man sich nicht wehren kann, ist tödlich.
    Das Verfahren der RAF-Prozesse gründet in der Anklage hinter dem Rücken, die nur pro forma der Gegenwart des Angeklagten bedarf. In einer Gesellschaft, in der alle über alle reden, aber niemand mehr mit dem, über den er redet, wird die verhängnisvolle Logik dieses Sachverhalts nicht einmal mehr wahrgenommen.
    Birgit Hogefeld hat sich nicht in die Rolle gefügt, in die die Unterstützer sie hineinzwingen wollten, sie hat sich nicht zur Geisel der „Unterstützer“ machen lassen; deshalb haben sie sie fallen gelassen.
    RAF-Phantom: Dieser Prozeß und dieses Urteil hatten mit der Angeklagten ebensoviel oder ebensowenig zu tun wie der Antisemitismus mit den Juden. Es gibt nur einen Unterschied, durch den die RAF-Prozesse deutlich vom Antisemitismus sich unterscheiden. Die RAF, die unter dem Programm angetreten ist, den Staat zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen, hat diese Vorurteilssituation selber provoziert und durch ihr Handeln geholfen, sie herbeizuführen.
    Es gibt zwei Begriffe des Irrationalen, die sich durch das Kriterium, an dem sie sich messen, unterscheiden. Der eine orientiert sich an der Logik der Selbsterhaltung (in der das Programm der Aufklärung gründet), der andere am Zustand der Welt, der nur im Kontext der Selbstreflexion und nur durch Erinnerungarbeit sich begreifen läßt.

  • 29.1.1997

    Wenn Schuld nicht nur ein subjektives Gefühl, sondern etwas Objektives Ist, dann ist die Psychoanalyse keine psychologische, sondern eine logische Theorie, dann verweist der Ödipuskomplex nicht nur auf eine innerfamiliäre Konstellation, sondern auf einen historisch-gesellschaftlichen Sachverhalt.
    Der Name des Menschensohns rührt an diesen Sachverhalt: Er ist antitotemistisch und zugleich nichtödipal, er zielt auf die Aufhebung der „Sünde der Welt“, der Sünde Adams, die der Menschensohn „auf sich nimmt“ („Nicht Adam, sondern jeder Mensch ist der Adam seiner eigenen Seele“ – Apokalyptik, S. 184). Die Apokalypse ist das jüdische Korrelat und die Selbstreflexion des Ödipus-Komplexes (das Licht im dunklen Innern des Ödipus-Komplexes).
    Als Sohn Gottes spricht Jesus in der ersten Person, als Menschensohn in der dritten. Und den entscheidenden Satz über ihn sagt der Täufer, den sagt er nicht selbst: Seht das Lamm Gottes … (zum agnus dei haben ihn die anderen, hat ihn die Welt gemacht; zum Menschensohn gehört das Wort: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …, dazu gehört auch das andere Wort von der Bekehrung der Herzen der Väter zu ihren Kindern).
    Das völlige Unverständnis der Apokalypse läßt sich an dem Text auf S. 184 (aus Robert Harvey Charles: Prophetie und Apokalyptik) aufzeigen:
    „Es gibt zahlreiche andere Abschnitte, die die moralische Tiefe und Innerlichkeit dieser Literatur zeigen. Kein Lehrer christlicher Ethik könnte einem besiegten Rivalen einen edleren Rat geben als diesen: ‚Hat einer mehr Glück als ihr, seid nicht betrübt, sondern betet für ihn, damit er vollkommenes Glück erlange‘ (Test. Gad VII, 1); oder ‚Und wenn euch jemand Böses zufügen will, so betet ihr durch Gutestun für ihn, und ihr werdet von allem Bösen vom Herrn befreit werden‘ (Test. Jos. XVIII, 2); oder: ‚Denn der Fromme erbarmt sich über den Schmähenden und schweigt‘ (Test. Benj. v, 4).“
    Hier sind die fürchterlichen Folgen eines Universalismus, der den apokalyptischen Grundgedanken der Asymmetrie, der Differenz zwischen Imperativ und Indikativ, zwischen dem Gebot, das an mich ergeht, und dem Urteil, das ich über andere fälle, nicht begriffen hat, mit Händen zu greifen: die Verwandlung der Moral in den Zynismus des Siegers, der den Besiegten Moral lehren will: Hier liegt der Kern des antisemitischen Vorurteils mitten in der Theologie. Die moralische Autorität, die hier für den „Lehrer der christlichen Ethik“ in Anspruch genommen wird, zerspringt unter dem Gesetz der Asymmetrie.
    Was hat die Psychoanalyse mit dem Problem des apagogischen Beweises (dem Problem der Beweisumkehr) zu tun?
    Der Traum des Nebukadnezar: Ist das nicht der Traum, den die Herrschenden vergessen haben, während die Beherrschten ihn an ihrem eigenen Leib erfahren?
    Kopernikus hat die Tat des Alexander vollendet: Er hat den Knoten, der zu lösen wäre, endgültig zerschlagen.
    Der Satz „Nur Gott sieht ins Herz der Menschen“ verweist auf eine Grenze, die außerhalb der Theologie nicht zu erkennen ist: die Grenze zwischen Gebot und Urteil.
    Mit dem Problem des Imperativs, der Asymmetrie, der Unumkehrbarkeit der Beziehung von Subjekt und Prädikat hängt es zusammen, wenn biblische Erzählungen niemals exemplarisch, niemals im Sinne des Vorbilds verstanden werden können. Auch das Vorbild fällt unters Bilderverbot. Die Nachfolge gilt dem Namen.
    Et verbum caro factum est: Heißt das nicht auch, daß es einen Sprachleib gibt?
    Haben die vier Winde bei Daniel etwas mit den vier apokalyptischen Reitern zu tun?
    Verhalten sich nicht Natur und Welt wie die beiden Sätze aus dem Schöpfungsbericht: „Die Erde aber war wüst und leer“, und „Finsternis lag über dem Abgrund“? Vgl. hierzu die biblischen Texte über das Licht und Finsternis („Ich schaffe die Finsternis und bilde das Licht“, „Ihr seid das Licht der Welt“).
    Hegel fällt unter den Satz „Laß die Toten ihre Toten begraben“.

  • 24.1.1997

    Ist nicht der im Kontext der Rechtfertigungszwänge sich konstituierende Moralbegriff antisemitisch? Und ist nicht umgekehrt die jüdische Tradition ein Beleg dafür, daß es möglich ist, unter den gesellschaftlichen Bedingungen des falschen Lebens gleichwohl die Tradition zu wahren? In dieser Konstellation gründet die Idee des verborgenen Gerechten. Adornos Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ drückt genau diesen Sachverhalt aus. Er entzieht dem moralischen Urteil (und damit der Urteilsmoral, dem „Bekenntnis zu …“ und dem „Glauben an …“) die Grundlage.
    Die Urteilsmoral, zu deren Konstituentien der Rechtfertigungszwang gehört, ist christlichen Ursprungs; sie gehört zu einer Unsterblichkeitsvorstellung und zu einer Idee des seligen Lebens, die die Welt ausgrenzt, sie zum Teufel schickt. Es ist dieser Rechtfertigungszwang, der die Welt zum Teufel schickt, der um der eigenen Schuldlosigkeit willen bereit ist, alles, was an die eigene Schuld gemahnt, der Hölle zu überantworten.
    Das moralische Urteil ist kein Instrument der Befreiung, es sei denn als Gegenstand der Reflexion.
    Sed libera nos a malo: Müßte nicht die neuere Übersetzung, die an die Stelle des Übels das Böse setzt, nochmals korrigiert werden? Müßte es nicht heißen: Sondern befreie uns von der Bosheit?
    Das Sehen ist das Instrument des bestimmenden Urteils, das Hören das Organ des reflektierenden Urteils. Ist nicht der Schrei von Edvard Munch ein Versuch, das Sehen das Hören zu lehren? In der Bibel schreit das Blut Abels zum Himmel, schreien die Steine, während Gott vom Himmel brüllt.
    Wer aus JHWH einen Wettergott macht, kehrt nur die Metaphorik um.
    Ist nicht die Privatsphäre das Medium der Konstituierung des urteilenden Subjekts, des bestimmenden Urteils, der transzendentalen Logik?
    Sind nicht das bestimmende und das reflektierende Urteil durch Umkehr auf einander bezogen? Und wer das reflektierende Urteil als bestimmendes mißversteht, macht von dem unzulässigen Mittel der Beweisumkehr (Schuldumkehr) Gebrauch. Ähnlich ist in RAF-Prozessen das Instrument der Beweisumkehr (und damit der Schuldumkehr) das Konstruktionsprinzip des synthetischen Urteils apriori, das am Ende herauskommt.
    Diese Umkehr: die Vertauschung von Subjekt und Prädikat (Name und Begriff: deshalb mußte das Nomen aus der Grammatik eliminiert werden), ist der Grund des Hegel’schen Begriffs des Wahren (des bacchantischen Taumels, an dem kein Glied nicht trunken ist). Die subjektiven Formen der Anschauung machen diese Umkehr zur Norm.
    Das beweislogische Problem des apagogischen Beweises (der Antinomie der reinen Vernunft) gründet in diesem Umkehrproblem (im Problem der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit), das allein durch Schuldreflexion zu lösen ist.
    Die Irreversibilität der Beziehung von Subjekt und Prädikat im Urteil ist Ausdruck und Folge der Irreversibilität der Beziehung von Oben und Unten: Die Welt ist alles, was der Fall ist.
    Die Naturwissenschaften gründen in dem ungeheuren (durchs Gravitationsgesetz gestützten) Versuch, die Oben-Unten-Beziehung reversibel zu machen (daher rührt der irre Zwang der „Weltraumforschung“, wie umkehrt der Versuch, die Zeitgrenze zur Vergangenheit zu durchbrechen in dem ebenso irren Forschungsapparat sich manifestiert, mit dessen Hilfe die „Struktur der Materie“ erforscht werden soll.
    Dieser Umkehrschluß ist zugleich die Grundlage des Neoliberalismus und der gegenwärtigen „Wirtschaftspolitik“, in der Durchsetzung der Rationalität und der Herrschaft der „reinen Marktgesetze“.
    In den Weltreligionen (die als Schriftreligionen in dieser Verführung stehen) heißt das Produkt der Anwendung dieser Logik der Beweisumkehr (der Schuldumkehr) Fundamentalismus (der in einem logischen Fehler gründet, nicht in einer falschen Gesinnung oder einem falschen Bekenntnis).
    Das Dogma und die Orthodoxie gründen in der Verwechslung von Subjekt und Prädikat, einer Verwechslung, die dem Urteil gleichsam magische Qualität verleiht.

  • 20.1.1997

    Apokalypse:
    – Pseudepigraphie als Versuch, die Welt durch die Augen des Andern zu sehen; säkularisiert als Fälschung (Pseudo-Dionysius, isidorische Fälschung, das Problem Karl d.Gr. etc.), schließlich als Roman.
    – Modell: Der Traum des Nebukadnezar.
    – Ist das Namensproblem der Evangelien (und in ihm das Problem der Väter) ein apokalyptisches (mit Saulus/Paulus als doppelte Epigraphie: Simon von Kyrene und Sergius Paulus)?
    – Kontext: Ursprung des Weltbegriffs (des Staates und der Zivilisation: Bedeutung Babylons).
    – Naturbegriff: Vätertheologie und Neukonstituierung des Christentums (irisches Christentum: die Flucht nach Tarschisch), das Problem des Johannes Scottus Eriugena.
    – Satan, Schlange und Dämonologie: Das grammatische Problem und der Ursprung der Bekenntnislogik.
    – Apokalypse und Sprache: Gibt es eine hebräische Apokalypse, sind nicht alle Apokalypsen griechische, syrische, äthiopische etc. (selbst Daniel ist im Kern aramäisch)?
    – Verweist das Chronologie-Problem (die Verfälschung/Korrektur der altorientalischen Geschichte: „Die Sumerer gab es nicht“, die historische Bibelkritik und der Antisemitismus) auf eine Apokalypse-Vermeidungsstragie?
    – Scholastischer Universalismus, die Irrwege der Theologie; Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.
    Wer die Apokalypse als ein sprachlogisches und sprachhistorisches Problem begreift, begreift das Problem des Namens.
    Sind nicht die Namen in den Evangelien Zitate, angefangen von Joschua, über Joseph und Mirjam, Sacharja und Jochanan, Schimon, Juda, aber auch Andreas, Philippus?
    Zum Namen:
    – Wann (und weshalb) spricht Jesus von sich in der dritten Person („der Menschensohn“ – vgl. auch die Antwort an den Täufer)?
    – Was hat es mit dem „Namen, den niemand kennt als der ihn empfängt (als er selbst)“ (Off 217, 1912) auf sich?
    – Daniel und die anderen jungen Männer erhalten in Babylon andere Namen.
    Die Einladung der Vögel des Himmels zum großen Gottesmahl, die Aufforderung, das Fleisch der Könige, das Fleisch der Kriegsobersten, das Fleisch der Starken, das Fleisch der Pferde und derer, die darauf sitzen, und das Fleisch aller Freien und Sklaven und Kleinen und Großen zu fressen, drückt aufs deutlichste die Beziehung von Fleischessen und Hierarchie aus. Zugleich bezeichnet es einen sprachlogischen Sachverhalt: das Ende des Komparativs (ist nicht der Raum, alles mathematisch Meßbare und dann dessen Inbegriff: das Inertialsystem, ein Produkt des hypostasierten Komparativs, des Wie, das den Himmel verzehrt?).
    Hat nicht die Scholastik über das Verfahren der Analogie den Superlativ in die Theologie mit aufgenommen, damit den Grund aller Hierarchien in die Theologie verlegt, und war das nicht die Grundlage der Sakramentenlehre?
    Der Satz „Gott ist barmherzig“ ist eins mit dem Satz, daß nur Gott ins Herz der Menschen sieht. Und das hat etwas zu tun mit dem Stellenwert der Unerkennbarkeit der Dinge an sich in der kantischen Philosophie. Nur die Barmherzigkeit rührt ans An sich der Dinge. Hierin gründet der schärfste Einwand gegen die Geheimdienste (deren Ziel die Feinderkenntnis, das Gegenteil der Barmherzigkeit, ist).
    Läßt nicht die Astrologie als die vollständige Versammlung der Objekte sich begreifen, in denen der Faschismus sich selbst überlebt? Und lassen sich nicht alle diese Objekte an ihrer Feindbildlogik, an dem Gemisch von Rechtfertigungszwängen, Abwehrmechanismen und Projektionen erkennen? Und sind nicht alle Objekte Zwillingsgestalten, Produkte eines Feindbild-Clinchs?
    Ist nicht das Feindbild das wirksamste Instrument der Rechtfertigung?
    Summa contra gentiles: Die Scholastik hat das Barbaren-Paradigma in der Theologie rekonstruiert: im Namen der Heiden, aus denen dann die Wilden hervorgegangen sind.
    Ist nicht die Sexualmoral ein Produkt der Metaphorik, das dann im Herrschaftsinteresse (und im Kontext des Ursprungs des Weltbegriffs, in dem das Herrschaftsinteresse sich objektivierte) fundamentalistisch mißverstanden worden ist?
    Dummheit und Projektion: In den „überwundenen“ Stufen der Vergangenheit spiegelt sich nur die Dummheit der Gegenwart.
    Ist das Neutrum die verdinglichte Außenseite der Projektion (die cartesische „Ausdehnung“)?
    Hat nicht die Allgemeine Relativitätstheorie etwas mit Heinsohns Geldtheorie zu tun, mit dem Paradigma der Schuldknechtschaft, und die spezielle Relativitätstheorie etwas mit dem des Tauschparadigmas?

  • 5.1.1997

    „Weltbilder erfüllen eine identitätsbildende und -sichernde Funktion, indem sie die Individuen mit einem Kernbestand von Grundbegriffen und Grundannahmen versorgen, die nicht revidiert werden können, ohne die Identität der Einzelnen wie der sozialen Gruppen zu affizieren.“ (Habermas I, S. 100) In diesem Satz kann man den Begriff „Weltbilder“ durch den Begriff „Feindbilder“ ersetzen, ohne daß sich an der Einsicht, die in diesem Satz sich ausdrückt, etwas ändert. Im Gegenteil: Es wäre eine Präzisierung und Verdeutlichung. Es gibt kein Weltbild ohne Feindbild; und das verbindet das Weltbild mit der Bekenntnislogik, zu der ebenfalls die kollektive Absicherung der „Grundbegriffe und Grundannahmen“ durch einen gemeinsamen Feind gehört.
    Der Ursprung der Philosophie wurde abgesichert durch den Gegenbegriff der Barbaren, der der Naturwissenschaften, und damit der modernen Aufklärung überhaupt, durch den der Wilden. Auch die Klarheit der Aufklärung (die Reinheit der „reinen Vernunft“) steht unter dem Bann des Feindbildes, einem Bann, der nur durch die Kraft des reflektierenden Urteils zu brechen ist.
    Antisemitismus und Bekenntnislogik: Beide sind Schuldverschubsysteme, beide wecken und instrumentalisieren die Kräfte der Projektion, um die Schuldreflexion zu vermeiden. Ist nicht der Antisemitismus das A und O der Bekenntnislogik, ihr Anfang und ihr Ende?
    Steckt nicht in jedem Beifall etwas von dem frenetischen Gebrüll, das Hitler entgegenschlug, als er zu Beginn des zweiten Weltkriegs als dessen Ergebnis den „Untergang der jüdischen Rasse“ ankündigte?
    Stephanus sah den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes sitzen; die Mutter der Zebedäus-Söhne hat Jesus gebeten, er möge doch ihre Söhne zu seiner Rechten und zu seiner Linken sitzen lassen; zusammen mit Jesus wurden zwei Schächer gekreuzigt, einer zu seiner Rechten, einer zu seiner Linken (Mt 2738,44, Mk 1527,32, Lk 2333, Joh 1918); einem dieser beiden (es wird nicht gesagt, welchem) versicherte Jesus: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein (Lk 2343).
    Gegen das „Berliner Prozeßbüro“ (Nachwort zum Hogefeld-Buch): Es kommt nicht aufs Rechtbehalten, sondern nur noch auf eine Politik der Befreiung an.

  • 21.12.1996

    Zur Feindbildlogik gehört nicht nur die Enthemmung der Moral, die mit dem Verhalten des Feindes begründet wird, die Wahrnehmung und Legitimierung des Bösen, das in einem selber steckt, am Feind, an dem es zugleich zu bestrafen ist: Der Kampf gegen den Feind ist Teil eines Mechanismus, der mich dem Feind gleich macht. Dafür ist der Feind zu verurteilen und zu bestrafen: So wird meine Bosheit legitimiert und durch die Bestrafung des Feinds zugleich entsühnt (der Judenmord war ein hygienischer Akt). Der Heldentod, zu dem das Martyrium am Ende verkommen ist, legitimiert sich selbst: Die Erinnerung wäre nicht zu ertragen, wenn das umsonst gewesen wäre.
    Der Satz „Soldaten sind Mörder“ ist noch zu harmlos: Sie sind es mit gutem Gewissen, und um das zu schützen, wird dieser Satz unter Strafe gestellt. Das Problem ist nicht die Tat, die nicht rückgängig zu machen ist, sondern das gute Gewissen, mit dem sie verknüpft ist: Es fügt zur Tat den Wiederholungszwang hinzu.
    Heute tun alle ihr Pflicht, aber keiner weiß mehr, was er tut: Ist das nicht der Grund des subjektlosen Lebens?
    Nicht das Opfer Kains, sondern das Abels war dem Herrn wohlgefällig. Welches ist das Opfer Kains, und welches ist das Abels? Hat die RAF das Opfer Kains gebracht?
    Verbirgt sich hinter den „klaren Positionen“ und den „klaren Fronten“ nicht immer ein Stück Gemeinheit, der Versuch, sich der Solidarität der Andern als eines Instruments, als einer moralischen Zwangssolidarität zu bedienen: einer Solidarität durch Komplizenschaft?
    In einem Essay über Ingeborg Bachmann (in Lettre 35, IV/96) erwähnt Dorothea Dieckmann den Angriff einiger Studentinnen auf Adorno, der übrigens nach meiner Erinnerung in einer Vorlesung und nicht im Seminarraum des Instituts stattfand; und Adorno hatte nicht bei diesem Angriff der Studentinnen, sondern schon vorher, anläßlich der Besetzung des Instituts durch Studenten, die Polizei gerufen. Das aber rückt den Vorgang in eine Perspektive, die den daran anschließenden Bemerkungen der Autorin die Grundlage entzieht. Aber wie auch immer: Den Satz „Welche Geste obszöner ist, diese (nämlich Adornos Ruf nach der Polizei, H.H.) oder die der Studentinnen, ist nicht auszumachen – wohl aber, welche intelligenter ist. Die Angreiferinnen haben, wenn auch unfreiwillig, den restriktiven Verteidiger des Besonderen in der Kunst an der ‚richtigen‘, eben der Schwachstelle getroffen“ (Hervorhebung von mir), kann ich nur verstehen, wenn ich den Grad der Intelligenz an dem der Gemeinheit, die den Andern „an der ‚richtigen‘, eben an der Schwachstelle“ trifft, messe. Und hier war Adorno nun wirklich leicht zu übertreffen. Gibt dieser Satz nicht den erschreckend falschen Ansatz des ganzen Essays preis, der auch bei Ingeborg Bachmann Leiden in eben das Feuilleton transformiert, unter dem Ingeborg Bachmann, die sich nicht mehr wehren kann, gelitten hat? Es gibt heute eine Verzweiflung, die verraten und geschändet wird, wenn man sie in die Nähe des Martyriums rückt. Die Märtyrertradition war einmal der Anfang der Heldenverehrung. Leiden ist kein Wahrheitsbeweis.
    Der Kampf gegen die „Weltordnung“, das ist so, wie wenn man einen Kampf gegen die transzendentale Logik führen wollte, die am Ende als der Grund jeder „Weltordnung“ sich erweist. Dieser Kampf wird, wenn er die Reflexion verwirft, zwangsläufig zum Gespensterkampf.
    Die Kollektivscham war die Schiene, über die der Mechanismus installiert worden ist, durch den der Faschismus sich rekonstruieren konnte. Die größte Gefahr für den Faschismus war die Selbstreflexion, die durch die Kollektivscham gebannt und in die Logik der Verurteilung umgeleitet worden ist. Der Verhinderung dieser Selbstreflexion dienen u.a. die Verwirrung der Kritik, die die Selbstreflexion unter Rechtfertigungszwänge setzt, gegen die sie nur als erwachsene, über die Fähigkeit der Reflexion im Andern, sich zu behaupten vermag. Genau das aber verhindert die Scham, die die sich Schämenden infantilisiert.
    Sind nicht durch diese Logik inzwischen die Hardliner der RAF zu Sympathisanten und Unterstützern der BAW geworden? Heute ist jede Front eine verkehrte Front.
    Es vielleicht doch einmal sinnvoll und notwendig, die Geschichte der Naturwissenschaften als eine Geschichte des Frontbegriffs zu beschreiben. An ihr wäre zu zeigen, daß heute jede Front eine verkehrte Front ist. Die Fronten der Naturwissenschaften heute: Mikrophysik, Weltraumforschung, Genforschung?
    Augenlust: Die „nackten Tatsachen“ sind das Alibi der Gemeinheit. Sie bedürfen der Feigenblätter, aber Gott hat ihnen einen Rock aus Fellen gemacht. Wäre es nicht unsere Sache, ihnen das Kleid zu fertigen? Das Wort von der Bedeckung der Sünden bezieht sich auf die nackten Tatsachen. Die Nackten bekleiden, das gehört zu den Werken der Barmherzigkeit. Die nackten Tatsachen korrespondieren dem Begriff der rohen, unbearbeiteten Natur und dem Namen der Wilden. Die nackten Tatsachen korrespondieren der Urteils- und Empörungslust: der Augenlust. Es war Ham, der die Brüder auf die Blöße des Vaters hinwies, und es waren Sem und Japhet, die die Blöße bedeckten. – Die Medien vermarkten die Urteils- und Empörungslust, sie bannen ihre Konsumenten in die Augenlust des Zuschauers.
    Fleischeslust: Die Entdeckung und Unterwerfung Amerikas hat den Zusammenhang der Bekehrungs- mit der Mordlust erstmals vor Augen gestellt. Diese Logik ist am Ende im Holocaust explodiert (synthetisches Urteil apriori: in der „Unbekehrbarkeit“ der Juden, die der Rassismus nur begründen sollte, während in ihr in Wahrheit nur die eigene Unbelehrbarkeit der Antisemiten sich widerspiegelte, war die „Endlösung der Judenfrage“, der Genocid, bereits vorentschieden).
    Hoffahrt des Lebens: Die Anschauung, die vom Gegenblick abstrahiert (und so sich selbst blind macht), macht das Objekt zur Folie der Projektion, des Begriffs.
    Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht: Barmherzigkeit, nicht schon die Solidarität.
    Es gibt zwei Begriffe des Verstehens, die deutlich unterschieden sind: Das Verstehen, das vor dem Holocaust versagt, ist eines, das auf die Ethik als prima philosophia sich gründet; dagegen wird der Holocaust verständlich, ja ableitbar, im Kontext der Ontologie als prima philosophia. Diese Unterscheidung korrespondiert der kantischen Unterscheidung des reflektierenden und bestimmenden Urteils.
    Ist die Justiz die Verkörperung des nachtragenden Prinzips? Der Beruf des Staatsanwalts schließt jeden Gedanken an eine Vergebung der Schuld aus. Ein Staatsanwalt würde seine Pflicht verletzen, wenn er eine ermittelte Verletzung des Gesetzes nicht einem Verfahren zuleiten würde, das darauf abzielt, die im Gesetz für diese Verletzung vorgesehenen Folgen eintreten zu lassen. Der Staatsanwalt ist der Anwalt eines Staates, der – wie der Rachetrieb, aus dem er sich speist – nicht vergißt, weil er der Erinnerung nicht fähig ist. Dem Nicht-Vergessen entspricht eine Verdrängung, dessen institutionelle Verkörperung der Knast ist. Das Strafrecht ist eine Verdrängungsmaschine.

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