Assmann

  • 12.12.92

    „Die Götterwelt fungiert als eine völkerrechtliche Instanz, die auf die Einhaltung der Verträge achtet.“ (Assmann, S. 256)
    Vertragsbruch als Urmodell der Sünde. (ebd.)
    In welchem Zusammenhang stehen im Christentum Kanonbildung und Dogmatisierungsprozeß?
    „Das Problem ist für die Wissenschaft das, was die „Mythomotorik“ für die Gesellschaft im Ganzen ist. Das Problem enthält ein Moment dynamischer Beunruhigung. Die Wahrheit ist einerseits problematisch, andererseits wenigstens theoretisch lösbar geworden.“ (S. 288)
    Im Kontext des „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ gibt es den anderen, an die Pharisäer gerichteten Satz, wonach sie durch Wissen schuldig werden. Dieser Satz, der auf den Rat hinausläuft, dumm zu bleiben, denn „Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß“, ist böse. Hier liegt der Grund der Verdrängungsmechanismen, der Verdummungsautomatik, die ihre schlimme Wirksamkeit dann entfaltet hat. Hier werden die Dummen heiliggesprochen.
    Die systematische Stelle des Naturbegriffs im Stern der Erlösung macht deutlich, welchen Bann er begründet, und daß er nur durch Umkehr, in der der Bann sich löst, auf die Idee der Wahrheit zu beziehen ist.
    „Gehet hin in alle Welt“, dieser Auftrag ist nicht nur geographisch, sondern auch begrifflich zu verstehen. Er bezieht sich auch auf die Apperzeption und vollständige Durchdringung der weltkonstituierenden Philosophie.
    Staub, Schmutz und Abfall sind Kategorien der Xenophobie. (Hat der Name der Hebräer etwas mit dem Fluch über Adam und die Schlange, mit dem Staub, zum dem Adam wird und den die Schlange frißt, zu tun? Wird nicht die Erinnerung an das „Staub bist du, und zu Staub wirst du wieder werden“ zur Selbstbezeichnung? Als Hebräer aber sind sie Nahrung der Schlange. Ist in diesem Licht nicht die Schlange des Moses, ihr Kampf mit den Schlangen der Zauberer des Pharao, die erhöhte Schlange, zu sehen? Wann wurde die Schlange aus dem Tempel entfernt? – Wird im Christentum der Benennende und Fressende: Ägypten, die Philister, auch Holofernes ins hebräische Subjekt mit hereingenommen; ist das der Kelch, von dem Jesus wünschte, er möge vorübergehen; und drückt sich das im Kreuzestod, dem ambivalentesten Symbol des Christentums, für das das „Ein Gehenkter ist ein Fluch Gottes“ – 5 Mos 2123, Gal 313 – weiterhin gilt, aus? – Vgl. auch Hebr 1126, 122, 1313)
    Der Weltbegriff macht die Schande (das Aufdecken der Blöße) allgemein, das Christentum macht sie reflexionsfähig: es relativiert die Schande, die Schmach, befreit die Menschen von ihrer Gewalt (das Kreuz ist Grund der Ästhetik, aber selbst kein ästhetisches Objekt; Beziehung der Schande zur Sexualmoral): Schande wird reflexionsfähig durch Übernahme der Sünde der Welt.
    Hat der Name des Petrus etwas mit den drei Leugnungen zu tun, mit dem „Von allen Seiten von außen“ und der Hilflosigkeit dagegen, (Genesis der Verdinglichung, Versteinerung)?
    Gethsemane, und nicht die Todesangst, wäre der Anfang einer christlichen Theologie, die dem mit dem Stern der Erlösung gesetzten Anspruchsniveau genügt.
    Vorweihnachtliche Unzufriedenheit: omna animal post coitum triste.
    Der Begriff unterscheidet sich vom Namen wie das Zeitlose vom Ewigen. Das Zeitlose gilt zu aller Zeit, das Ewige besteht zu keiner Zeit, außer „Heute, wenn ihr meine Stimme hört“. Das Zeitlose ist bis zur Strangulierung verstrickt in die Zeit, nur das Ewige bringt die Luft zum Atmen.
    Das jesuanische „Die Blinden sehend machen“ sollte nicht verwechselt werden mit dem „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“. Gegenstand der erlösten Erkenntnis ist nicht die Nacktheit, sondern das Angesicht.
    Es gibt eine Vergöttlichung Jesu, die ihn gleichsam stillstellt, unschädlich macht. Sie hat mehr mit dem Binden zu tun als mit dem, was in seinem Munde Bekenntnis hieß.
    Gehört es mit zum Providentiellen in der deutschen Sprache, daß in ihr der Name der Taube an den der Taubheit anklingt (mit der Konnotation des Doven)?
    Mit scheint, die Abtreibungsdiskussion hängt strukturell mit der Xenophobie zusammen. Innerkirchlich implodiert in der Abtreibungsdiskussion die Sexualmoral, Folge ihrer unaufgeklärten Beziehung zum theologischen Weltbegriff und seiner Verflochtenheit in die reale Geschichte (Zusammenhang mit der unaufgearbeiteten Frauenfeindschaft und dem Zölibatsproblem und mit den drei ungelösten Vergangenheitsproblemen: Antisemitismus, Ketzer- und Hexenverfolgung).
    Lippen und Zunge, Phallus und Vagina: Weshalb heißt das Lippenbekenntnis Lippenbekenntnis?
    Ist nicht heute die Nutzung der Welt als Exkulpationsmaschine die Wand, die uns von Auschwitz trennt, und der Grund der Unfähigkeit, Auschwitz und seine gegenwärtigen Metastasen wirklich wahrzunehmen?
    Zu Metz am 11.12.: Die Verwechslung der Empfindlichkeit mit der Sensibilität beharrt auf der unzivilisierten Verletzbarkeit, während die Sensibilität ihrer selbst auch nach Verletzungen noch mächtig bleibt. Die Sensibilität unterscheidet sich von der Empfindlichkeit durch ihr parakletisches Element.
    Errettung der vergangenen Zukunft: Siehe hierzu das Gleichnis vom armen Lazarus, der den Reichen darauf hinweist: deine Brüder haben Moses und die Propheten; an die sollen sie sich halten.

  • 10.12.92

    Der Andere ist – wie das Objekt auf den Begriff – auf das Selbst bezogen und gehört zur Stabilität des Selbst dazu; es ist die Rückseite des Eigenen, zu dem es wie das Vorhandene zum Zuhandenen gehört. Der Fremde ist auf die kollektive Identität bezogen und stellt diese in Frage. Kollektive Identität ist die kollektive Form der Objektbeziehungen, die Identität des Einen und des Anderen: der Fremde ist anders als das Anderssein, mit dem man sich selbst identifiziert, und löst deshalb Identitätsängste aus: Xenophobie.
    Der Andere ist ein Teil der Welt, der Fremde ist der Feind der Welt.
    In Assmanns Hinweis darauf, daß der Tempel in Ägypten ein kulturhistorisches Äquivalent des Buches war, klingt mit an, welcher Sinn hinter den Tempelbeschreibungen in Prophetie und Apokalypse sich verbirgt. – Welche Bedeutung haben Tempel und Opfer für die Entstehung, den Ursprung der Schrift (Phonologische Analyse des Wortes, projektive Reflexion in der Schreibebene)? (Vgl. S. 177ff)
    Hinweis, daß der Tempel „bis zu sieben ineinander geschachtelte Portale“ besaß. (S. 179)
    Hinweis auf die ausgeprägte Xenophobie der Ägypter! (S. 180)
    Der ägyptische Spätzeittempel ist gebaute Erinnerung.“ (S. 181)
    Der ägyptische Spätzeittempel umfaßt aber nicht nur in der Art einer Enzyklopädie die Menge des Wißbaren, sondern wirklich die Welt. Wir befinden uns – Gegensatz zu den monotheistischen Religionen – im Kontext des „Kosmotheismus“. … Die Welt ist ein sinnerfülltes und daher göttliches Ganzes. Dies versucht der Spätzeittempel abzubilden.“ (S. 182f)
    „… die ägyptischen Tempel waren die Zentren, in denen die Welt in Gang gehalten wurde.“ (S. 194)
    Zu Petrus vgl. Jos 2427: „Dabei sagte er zu dem ganzen Volke: Seht her, dieser Stein wird ein Zeuge sein gegen uns; denn er hat alle Worte des Herrn gehört, die er zu uns gesprochen hat. Er soll ein Zeuge sein gegen euch, damit ihr euren Gott nicht verleugnet.“
    „Die Bindungen, denen die Menschen mit der Herausbildung staatlich organisierter Gemeinwesen nach innen und außen untrworfen wurden, nahmen die Zukunft in Anspruch und schufen, zusammen mit dem sich herausbildenden Handlungsspielraum „Welt“, auch die sozial verfaßte Zeit, in der sich erinnerte Geschichte ereignet.“ (S. 231)
    „Diese „Fluchformeln“ (sc. auf Verträgen, H.H.) brachte am deutlichsten zum Ausdruck, was man sich (sc. in Mesopotamien, H.H.) von den Göttern erwartete: die Gewährleistung der konnektiven Gerechtigkeit.“ (S. 234f)
    Das paulinische „Kauft die Zeit aus“ schließt die Kritik des Dogmas mit ein.
    Zum Begriff des Angesichts: Er ist ein angesehener Mann.
    Der Begriff der Trauerarbeit ist auf die Zeit des Nationalsozialismus nur bedingt anwendbar: Es gibt keine Trauer über den Tod Hitlers, nur eine über das eigene Versagen.
    Die Differenz von Theorie und Praxis am Beispiel der Sexualmoral erläutern. Aber das gilt dann für den Gesamtbereich der Moral; es gibt keinen bruchlosen Übergang von der Richtschnur des eigenen Handelns zum Maßstab für das Urteil über andere. Die Moral als Richtschnur des Handelns ist die Quelle der Gottesfurcht, die Moral als Maß das Urteils über andere ein Teil der Dynamik der Rechtfertigung (Ideologie und Vorurteil).
    Hat nicht die Kirche mit den sieben Sakramenten selber die sieben apokalyptischen Siegel gesetzt, und war das nicht das Binden (auf Erden wie im Himmel)?
    Die Kirche hat es nie gelernt, ihr eigenes Konfliktpotential aufzuarbeiten (siehe die Geschichte der Auseinandersetzung mit den Häresien). Damit hängt es zusammen, daß sie heute nur noch Mechanismen der Verdrängung und des Vergessens produziert.
    Der Taumelkelch: Ist das nicht die Welt (und der Alkohol die Zivilisationsdroge)?
    Gibt es in der Schrift außer den Geschichten von Ham und Noe und von Lot und seinen Töchtern noch andere zum Thema Trunkenheit?

  • 09.12.92

    „Den „Sozialkörper“ gibt es nicht im Sinne sichtbarer, greifbarer Wirklichkeit. Er ist eine Metapher, eine imaginäre Größe, ein soziales Konstrukt. Als solches aber gehört es durchaus der Wirklichkeit an.“ (S. 132) Und ich kann mir gleichwohl an ihm den Kopf einrennen: Er ist durchaus ein mechanisches Objekt (Frage: wie unterscheidet sich diese Materialität von der einer Wand?).
    „Kulturelle Identität ist … die reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur.“ (S. 134) (Problem: Teilhabe und Bekenntnis.)
    Hier scheint es wirklich schlimm zu werden: wenn er als Kardinalsünde die „Habgier“ notiert und dazu die gesellschaftliche Wirkung der Unmoral mit dem Krebs vergleicht: „Der Habgierige ist gewissermaßen die „Krebszelle“ der Gesellschaft“ (unter dem Titel „Zirkulation“, S. 140f)
    „Sprichwörter haben es vornehmlich mit Gemeinsinn als Common Sense zu tun.“ Z.B. „Gutheit ist Dummheit“ (vgl. auch Adornos Bemerkung über Sprichwörter). Vielleicht ist hier der Begriff „Gemeinsinn“ durchaus wörtlich zu nehmen. Aber das Zitat geht weiter: „Ihr zentrales Anliegen ist die Einübung von Solidarität, so „daß sich jede Zelle im Einklang mit dem Gesamtorganismus befindet.““ (S. 141f)
    Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann hat er auch die Hölle erschaffen. Aber keine Auferstehung ohne den Abstieg zur Hölle!
    Zu S. 150: Ich befürchte, auch Jan Assmann hat den Begriff der „Volksgenossenschaft“ nicht (oder doch zu gut?) verstanden.
    Zum Ursprung der Sprache: Daß Gott die Seele liebt, muß ein Stück paradiesischer Welterfahrung, mit enthalten. Diese Liebe kann nicht nur die einer intimen Zweierbeziehung (eine „echte Begegnung“) sein, sie muß den Status der Erlösung der ganzen Welt als Vorbegriff mit enthalten.
    Ist die zweite Schöpfungsgeschichte die nachgetragene Begründung der ersten (liegt der Sündenfall vor der Schöpfung)?
    Die Vernunft hat das Maß ihrer Erkenntnis an der Idee des Paradieses (an der Idee des seligen Lebens).
    Stehen Ziel und Maß nicht in Opposition zu einander? Konstituiert sich das Maß nicht erst im Untergang des Ziels, zusammen mit der Subjektivierung der Zwecke und der Instrumentalisierung der Dinge (Baum der Erkenntnis)? War die Entdeckung des Winkels (eines der Momente im Prozeß des Ursprungs der Philosophie) die erste Entdeckung einer selbstreferentiellen Maßbeziehung (Kreiszahl Pi)?
    Sind die Gesten bei Kafka nicht Teil einer Sprache, die ihr Objekt verloren hat?
    Das „ad litteram“ in dem augustinischen Titel „de genesi ad litteram“ bezeichnet schon das Inertialsystem in nuce. Es steht unter dem Verdikt des Pauluswortes, nach dem der Buchstabe tötet, während es der Geist ist, der lebendig macht. (Steckt darin nicht die ganze Lehre von Tod und Auferstehung?)
    Erinnert die Geschichte der Bekehrung des äthiopischen Eunuchen in der Apostelgeschichte nicht an eine Begebenheit, eine Konstellation, einen Namen oder etwas ähnliches im AT?
    Ist nicht der kirchliche Konfessionsstreit vorgebildet in dem Streit der Soldaten um den Rock Jesu, der keine Naht hat? Und hat dieser Rock etwas mit den Rücken aus Fell, die nach dem Sündenfall den Schurz aus Feigenblättern ersetzen, und dem bunten Rock des Josef zu tun?
    Zu dem Schild am Kreuz:
    – Heißt es Jesus Nazarenus oder Jesus, der Nazoräer?
    – Weshalb fordern „die Juden“ von Pilatus, er solle nicht schreiben: der König der Juden, sondern: er habe gesagt, er sei der König der Juden; darauf antwortet Pilatus: Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.
    Die Phänomenologie des Geistes ist das Werk Hegels, das der Sache am nächsten kommt: Mit diesem Werk hat sich Hegel vorm Wahnsinn gerettet.
    Der Sieg über den Nationalsozialismus hat dem Geist eine Ruhepause verschafft, die er nicht genutzt hat. Anstatt das Paradigmatische am Nationalsozialismus zu begreifen und aufzuarbeiten, hat er geglaubt, sich in den beruhigten Verhältnissen danach gemächlich einrichten zu können; er hat versäumt, die vor Augen liegenden Bedingungen gesellschaftlicher Naturkatastrophen zu studieren.
    Hängen nicht Xenophobie und Abtreibungsdebatte auf eine sehr subtile Weise zusammen?

  • 08.12.92

    „Tradition ist für ihn (sc. Halbwachs, H.H.) keine Form, sondern eine Verformung der Erinnerung. Dies ist der Punkt, an dem wir Halbwachs nicht folgen können.“ (Assmann, S. 45)
    „Die Tatsache, daß nur Individuen auf Grund ihrer neuronalen Ausstattung ein Gedächtnis haben können, …“ (S. 47)
    „Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich, sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer normativen und formativen Kraft.“ (S. 52)
    Das „gemeinschaftsstiftende und stabilisierende Totengedenken“ (S. 63) erinnert eher an die obszöne „Versöhnung über Gräbern“ (Kohl in Bitburg und Verdun) und an rechtsradikale Gräberschändungen als an das wirkliche Gedenken der Toten, das an der Idee der Auferstehung sich orientiert (der uneingelösten vergangenen Hoffnung). Der Hinweis auf Mao Tse Tung sollte an den Ursprung und die konkrete gesellschaftlich-politische Bedeutung von Mausoleen erinnern.
    Im Zentrum der Vorstellung des „kulturellen Gedächtnisses“ scheint wirklich die Idee einer Vergangenheit zu stehen, an die man sich halten kann. Und genau diese Vergangenheit gibt es nicht, es sei denn als Deckbild objektiver Verzweiflung.
    Wer die Beziehung zur Vergangenheit im Alten Ägypten und im mittelalterlichen Judentum so vergleicht wie Assmann (S. 69), hat wirklich nichts begriffen.
    Interessant und weitreichend der Hinweis, daß der Staat zu den Bedingungen der Unsterblichkeitslehre im Alten Ägypten gehörte: „Ohne den Staat zerfallen die Rahmenbedingungen sozialer Erinnerungen; damit sind auch die Wege zur Unsterblichkeit blockiert.“ (S. 71)
    „Nichts liegt näher, als die Annahme, daß die Ägypter als das Volk mit dem (nächst den Sumerern) längsten Gedächtnis aufgrund ihrer lückenlosen(!), in die Jahrtausende zurückreichenden(!) Tradition ein ganz besonders differenziertes und ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein entwickelt hätten.“ (S. 73) Fallen wir nicht mit dem angeblich langen Gedächtnis der Ägypter auf ein Konstrukt herein, das auch unserem Naturbegriff zugrundeliegt. Die Entdeckung der Tiefenzeit war zweifellos auch ein Versuch, den gegenwärtigen Zustand durch Einbindung in eine möglichst unendliche Vergangenheit zu stabilieren (zu „entzweifeln“). Von der Vergangenheit (von den Toten) soll keine Beunruhigung mehr ausgehen (das wäre der Sieg der Welt).
    „Vergangenheit, die zur fundierenden Geschichte verfestigt und verinnerlicht wird, ist Mythos, unabhängig davon, ob sie fiktiv oder faktisch ist.“ (S. 76) Das ist Ausdruck und Folge der Verinnerlichung des Opfers.
    Die Bemerkung, daß die Vernichtung des europäischen Judentums unter der Bezeichnung Holocaust Mythos geworden sei (S. 76), wird vor dem Hintergrund seiner Mythos-Definition endgültig böse.
    Im Kontext „Historikerstreit“: „Man muß sich nur darüber klar werden, daß Erinnerung nichts mit Geschichtswissenschaft zu tun hat.“ (S. 77)
    „Mythos ist die zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit.“ (S. 78)
    Zur Vorstellung einer homogenen Zeit gehört die andere Vorstellung, daß die Welt zu jeder Zeit den gleichen Gesetzen unterworfen ist. Diese in die Vergangenheit projizierte Voraussetzung hat Lyell in geologischem und paläontologischem Zusammenhang erstmals ausformuliert (vgl. St. J. Gould: Die Entdeckung der Tiefenzeit). Die gleichen Zusammenhänge machen die althistorischen Untersuchungen gelegentlich so unerträglich. In weltgeschichtlichem Kontext wird vergessen, daß die die Welt beherrschenden Gesetze nicht einfach nur gegeben, sondern auch von Menschen gemacht sind, und daß es nicht die gleiche Welt ist, die Homer mit Abraham und beide mit uns verbindet.
    Ist nicht der „Kanon“ eine Art Referenzsystem, aber eines mit der Tendenz zur Verkörperung: zur Inkarnation.
    Der methodologische Hauptteil beim Assmann dient nicht der Explikation des Problems, sondern seiner Verwischung, Verdrängung. Professoren-Wissenschaft: Er lebt und denkt in einer Welt, deren Grenzen von jenen bestimmt wird, die zugleich die Fachkarrieren bestimmen. So werden Außenseiter apriori ausgeschlossen (und nicht einmal mehr erwähnt: das betrifft sowohl Velikovsky und seine Nachfolger als auch Rosenzweig, Lukacz, Benjamin).
    War die griechische Philosophie die Ausbreitung des Denkens nach allen Seiten und das Christentum der Versuch, die Höhen und Tiefen zu vermessen (Verwechslung von Gottesfurcht und Herrenfurcht als Folge der theologischen Rezeption des Weltbegriffs, abzusichern nur durch Trinitätslehre und Opfertheologie)?
    Hegel hat die Opfertheologie verdrängt und ist an der Trinitätslehre erstickt. So war die Hegelsche Philosophie nicht das „Auto da Fe“ (Baader), sondern bloß der Selbstmord der bisherigen Philosophie. Allerdings – im gleichen Sinne, wie man von einem perfekten Mord spricht – ein perfekter Selbstmord.
    Die christliche Sexualmoral, mit der Veurteilung der sexuellen Lust, entspringt genau an der Stelle, wo die Urteilslust aus dem Kontext des Sündenfalls herausgenommen und neutralisiert wird: im Ursprung des Weltbegriffs (in seiner theologischen Rezeption).
    Das Rätsel Heidegger und die Lösung der sieben Siegel der Sakramente (Taufe, Firmung, Buße, Eucharistie, Priesterweihe, Ehe, letzte Ölung).
    Die Vorstellung, daß kanonische Werke bestimmte „Werte verkörpern“ (Assmann), ist eine ausgesprochen autoritäre Vorstellung.
    Hat der musikalische Begriff des Kanon etwas mit dem literarisch-„kulturellen“ zu tun?
    Ist nicht der „Komplexitätsschub“ im griechischen fünften Jahrhundert (S. 123) eine Verharmlosung eines weit ausgreifenderen Sachverhalts (Krise des Mythos, Ursprung der Philosophie und des Weltbegriffs)?
    Identität als kulturelle Identität, Ich-Identität, kollektive Identität (S. 127).

  • 07.12.92

    Zu Kant:
    – In der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft nennt Kant Natur den „Inbegriff der Gegenstände der Erfahrung“ (S. 18). Damit erläutert er selber den Definitionsversuch in der Antinomie der reinen Vernunft (S. 334)
    – Im II. Teil der Einleitung findet sich eine Stelle, an der er in zwei auf einander folgenden Sätzen den Begriff der Erkenntnis einmal als Femininum (die Erkenntnis), das andere Mal als Neutrum (das Erkenntnis) verwendet. Das eine Mal handelt es sich um eine vergegenständlichte Erkenntnis („Kennzeichen einer Erkenntnis apriori“), das andere Mal um das „Vermögen des Erkenntnisses apriori“. Im Gebrauch (als Handeln, als Tätigkeit) ist Erkenntnis ein Neutrum (die neutralisierende Gewalt), als Ergebnis (in seiner vergegenständlichten, der Anschauung vorgegebenen Gestalt), ein Femininum. Bemerkenswert die Genauigkeit des noch nicht durch Regeln verdinglichten Grammatikgebrauchs.
    Das Erkenntnis ist die erkennende Kraft, die Erkenntnis der erkannte Inhalt: an dieser Differenz arbeitet sich die Dialektik ab (das polymorph-perverse Resultat).
    Das Erkenntnis als Neutrum, als tätige handelnde Kraft konstituiert sich durch Abstraktion von der Schuld, durch Unterdrückung und Verdrängung des moralischen Moments im erkennenden Subjekt.
    Ist die Sexuallust ein Reflex der Urteilslust im Objekt (seine Materialität)? Ihr Repräsentant in der Philosophie ist das Sein.
    Die Kirche verbietet Inzest, Homosexualität, Onanie und vor- und außerehelichen Verkehr, aber nicht die Vergewaltigung. Grund ist das Theologumenon von der Erschaffung der Welt (und ihrer Entsühnung durch den Opfertod des Gottessohnes).
    Verhalten sich König und Priester wie Welt (Geschichte) und Natur? Aber nur der König ist der Gesalbte (der Priester wird gesalbt).
    Die assoziative Verknüpfung von Geschäfts- und Sexualmoral wird erkennbar am Bild des ehrbaren Kaufmanns und des anständigen Beamten: Wer betrügt oder sich bestechen läßt, treibt es auch anderswo. Aber rutscht die Wirtschaft nicht immer tiefer und immer deutlicher in Verhältnisse hinein, in denen sich mafiose Praktiken aus Selbsterhaltungsgründen nicht mehr ausschließen lassen?
    Verhält sich die Zeugung zur Schwangerschaft wie die Erkenntnis zur Umkehr? Und sind die Wehen der Geburt die Folgeschmerzen der Umkehr? Und ist nicht die Abtreibung ein Realsymbol der bei der Erkenntnis verweigerten Umkehr: des Positivismus (und wird sie nicht deshalb so wütend verfolgt)? Ist (in der Natur) das Licht der Beginn der Umkehr (Grund des Satzes: Stark wie der Tod ist die Liebe)?
    Heidegger hat den Geburtsfehler der Philosophie zu ihrem einzigen Inhalt gemacht: Dieser Geburtsfehler war die projektive Verarbeitung der Schuld, erkennbar an der Zwangslogik der Xenophobie.
    Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 16: Die Definition der Gerechtigkeit durch ihre Beziehung zum „gemeinsamen Erfahrungs-, Erwartungs- und Handlungsraum“ kürzt sie gegen ihr Wesen: Hier sucht jemand eine bindende Tradition (seine kulturelle Identität), die „Bindung des Gestern ans Heute“ (nicht die des Heute ans Gestern?), die „prägenden Erfahrungen und Erinnerungen“.
    Ursprung der persona in den Masken der Toten (in den Familienprozessionen)? (S. 33f)
    Der Begriff der „Erinnerungsfigur“ scheint das mythische Element in dem Konstrukt Assmanns genau zu bezeichnen (Hinweis, daß sie sich nicht nur auf ikonische, sondern auch auf narrative Formen bezieht, S. 38, Anm. 19).
    Kann es sein, daß der Karls-Mythos nicht in einer Fälschung, sondern in einer zwangshaften Vergangenheitsbildung gründet (einer Vergangenheitsbildung, die mit dem Ursprung der Universitäten, der Struktur und dem Fortgang der scholastischen Theologie und ihrer Beziehung zum Ursprung der modernen Naturwissenschaften zusammenhängt)?
    Bezeichnen nicht der Titel Assmanns (Das kulturelle Gedächtnis) und dessen Gegenstand einen Teil des gegenwärtigen, aus Exkulpationsgründen gespeisten „kulturellen Gedächtnisses“. Ist nicht auch hier, was man im Hinblick aufs Mittelalter heute Fälschungen nennt, als Produkt einer Zwangslogik erkennbar?
    Ist das Moment der Kollektivität in Halbwachs‘ Begriff des kollektiven Gedächtnisses nicht der Repräsentant des Weltbegriffs (und unter diesem Begriff zu bestimmen)?
    „Die neue Idee, die sich mit dem Konzil von Nicäa als verbindlich durchsetzt, ist die Entsühnung der Welt durch den Opfertod des menschgewordenen Gottes.“ (S. 41)
    Die Vergangenheit vermag sich in ihm (sc. im Gedächtnis, H.H.) nicht als solche zu bewahren. Sie wird fortwährend von dem sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her reorganisiert.“ (S. 41f)

  • 07.06.92

    Zusammenhang von: Übernahme der Sünde der Welt, Feindesliebe, Arglosigkeit, Verzicht auf Projektion und Hypostasierung. Aufklärung wäre heute die Aufklärung der Herrschenden und ihrer Anhänger darüber, was sie sich selbst antun.
    Grund des evangelischen Rates der Armut: Grund des Hasses sind das hypostasierte Eigentum und seine gesellschaftlichen Derivate.
    Wie hängt Adam Smith mit Newton zusammen, die „invisible hand“ mit der dynamischen „Begründung“ des kopernikanischen Weltsystems durch die Gravitationstheorie?
    Naturwissenschaft, Kapitalismus, Bekenntnis: hängen diese drei in dieser Reihenfolge nicht mit Vorn und Hinten, Rechts und Links und Oben und Unten zusammen?
    Mit Kopernikus und mit dem Ursprung des Kapitalismus ist der Teufelspakt in die Konstruktion der gesellschaftlichen Realität mit eingegangen. (Kopernikus und Kolumbus arbeiteten am gleichen Projekt, und die Postmoderne ist nur durch ein Geringes von der Wahrheit noch getrennt.)
    Assmann: Götze Markt, S. 17: die „permanente diffuse Katechese“ reicht weit tiefer, als Assmann begreift, sie reicht in den Prozeß und das historisch sich fortschreibende und akkumulierende Ergebnis der naturwissenschaftlichen Aufklärung zurück.

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