Auschwitz

  • 22.03.93

    Ist der deutsche „Ernst“ (K.-H. Bohrer in der taz) nicht der tierische Ernst, und hängt er nicht mit der Bindung des Nationbegriffs an das Blut (mit der deutschen Staatsmetaphysik) zusammen?
    „Jede Schuld rächt sich auf Erden“ (an wem?). Diese mythische Beziehung von Schuld und Rache ist die Geschäftsgrundlage des Strafrechts, gewinnt ihre volle mythischen Gewalt aber nur unter den Prämissen der deutschen Staatsmetaphysik, die glaubt, die Politik von der Politik erlösen, befreien zu können, die den Schein erzeugt, Politik könne durch Verwaltung ersetzt werden (durch den Rechtsstaat), und der Schein der Unschuld reiche aus, die politische Qualifikation zu beweisen. Sie ist eine Folge der unaufgearbeiteten Vergangenheit. Zu dieser nicht aufgearbeiteten Vergangenheit gehört auch das Fehlen eines Friedensvertrages: die Krisen der „Wiedervereinigung“, aber auch die Krisen in der dritten Welt, die nach dem Zusammenbruch der staatskapitalistischen Länder des Ostens (nach dem Ende der direkten Bedrohung) auf andere Weise nach Europa zurückkehren, sich in Jugoslawien und jetzt in den aus der Sowjet-Union hervorgegangenen Staaten reproduzieren, lassen das Versäumnis spürbar werden: Es ist nicht gelungen, reale Grundlagen für die veränderten Verhältnisse zu schaffen, ja, der Mangel wird nicht einmal gefühlt. Und niemand scheint in der Lage zu sein, die Dinge vom Grunde her zu bereinigen: Aber ist das nicht vielleicht sogar objektiv unmöglich geworden? Alle schlittern in Katastrophen hinein und niemand weiß, weshalb.
    Ist nicht der Satz, der Staat sei der Schöpfer der Welt, insoweit umkehrbar (und auch umzukehren), als sich jetzt herausstellt, daß die Welt Schöpferin des Staates ist, die in ihm nur den Schein eines Herrn erzeugt, den sie aber dann in ihren Orkus mit hereinreißen wird, wenn die Dinge endlich selber Herr des Prozesses werden, in dem sie einmal entsprungen sind.
    Die jüngstvergangene Mode ist das Längstvergangene.
    Engholms Satz, daß man vor dem Einsatz der Bundeswehr außerhalb der NATO „die Familien befragen“ müsse, ist so brav, so privatistisch und so unpolitisch wie dieser ganze Mann. Hier läuft wieder einer in die Exkulpationsfallen hinein, in denen die Politik heute verkommt. Zu fragen wäre,
    – ob es überhaupt sinnvoll ist, in diesem Weltzustand (der zugleich keine andere Alternative zuzulassen scheint) noch Politik auf militärische Gewalt zu gründen,
    – ob den objektiven Aufgaben des Militärs (Sicherung der Einrichtungen und der Versorgung der Metropolen) das Institut einer allgemeinen Wehrpflicht noch gerecht werden kann, ob nicht eine Freiwilligen-Armee (eine Art Fremdenlegion der NATO) den Aufgaben besser gerecht würde.
    – Die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht aus anderen (staatspolitischen, „erzieherischen“) Gründen, zum Zweck der „inneren Stabilisierung“ des Gemeinwesens, ist objektiv nicht zu begründen, es sei denn, man würde offen für einen faschistischen Staat votieren.
    Es sind offensichtlich die naheliegendsten Gedanken, die keiner mehr offen auszusprechen (und in der Folge keiner mehr zu denken) wagt: Jeder hat Angst, von der Schubkraft des Bestehenden fortgespült zu werden. Das Denkbare ist zum Undenkbaren geworden. Aber sind die Probleme, die jetzt an allen Ecken und Enden der Welt aufbrechen, noch mit den Kurzschluß-Methoden einer Politik zu lösen, in der durch die wechselseitige Kontrolle aller sichergestellt wird, daß keiner mehr politisch zu denken wagt.
    Ist das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ (sic, B.H.) nicht das Gegenteil des Denkens: eine exkulpierende Instanz? Ist hier nicht die Leerstelle, in der dann die Nationalismen und die Bekenntnisse sich ansiedeln? Das Kind der illegitimen Beziehung beider ist der Faschismus.
    In der Studie über den autoritären Charakter gibt es einen Abschnitt mit dem Titel „no pity for the poor“; und die Studie insgesamt ist eine Studie über Xenophobie.
    Schlimm und verhängnisvoll, und ein Teil jenes Ärgernisses, von dem Jesus gesagt hat, es müsse kommen: „aber wehe denen, durch die es kommt“, ist das opfertheologische Konzept einer „Entsühnung der Welt“, die Lehre von der „Hinwegnahme der Sünden der Welt“.
    Die Philosophie oder das Herrendenken ist der Grund der Selbstzerstörung des Antlitzes.
    Sind die staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltungshierarchien, und in ihnen das Prinzip der Delegation der Verantwortung, nicht Formen der Säkularisation der andern Hierarchien, ihrer endgültigen Subsumtion unters Herrschaftsdenken. Die Vergesellschaftung von Herrschaft hat den Engeln den Existenzgrund entzogen, sie durch Regierungs- und Amtsräte ersetzt. Ist nicht die Verwaltung der Inbegriff der sieben unreinen Geister? Es käme in der Tat heute darauf an, die Theologie auf dem eigenen Rücken weiterzubefördern, anstatt sie weiterhin seßhaft zu verwalten.
    Hat der gordische Knoten, der Joch und Deichsel des Ochsenkarrens verbindet, etwas mit dem Ursprung der Schrift zu tun (des Aleph, Bet): Alexander hat diesen Knoten nicht gelöst, nur durchschlagen. Der Weltbegriff ist der durchschlagene Knoten (der den Objektivations- mit dem Vergesellschaftungsprozeß verknüpft). Im Kern dieses Knotens stecken die subjektiven Formen der Anschauung Kants.
    Durch die subjektiven Formen der Anschauung sind wir gleichsam exzentrisch an den Weltprozeß gefesselt.
    Für Israel war die Schrift die hebräische Schrift: Ausdruck der Fremdheit, die im Namen des Hebräischen anklingt. Ist nicht die Lösung des Rätsels des Namens der Hebräer ein Anfang der Lösung des Rätsels des Ursprungs der Schrift?
    Der Weg zu den Enden der Welt, die Bekehrung der Welt, bezeichnen einen Vorgang, der in der äußeren und inneren Welt zugleich sich abspielt.
    „Muß in einer historischen Welt nicht jemand genau so alt sein wie die Welt?“ (Levinas: Schwierige Freiheit, S. 164)
    S. 167 nennt Levinas das Bekenntnis ein „Beiwerk des bürgerlichen Komforts“.
    Der Weltbegriff unterwirft auch die Vergangenheit dem Bann der Herrschaft: er begründet und stabilisiert ein gleichsam kolonialistisches Verhältnis zur Vegangenheit. Hier werden Vergangenheiten immer nur überwunden; der Ausschluß der Trauerarbeit (des Eingedenkens) ersetzt das Sich-Hinein-Versetzen durch die Einfühlung in die Vergangenheit (den Historismus). Der Weltbegriff versiegelt das Grab, in dem die Toten auf die Erweckung warten.
    War nicht die Hexenfurcht auch die Furcht vor der Auferstehung der Toten (abzulesen an den Projektionen der Inquisitoren)? Aber die Alternative ist nicht die Leugnung der Auferstehung, die sich die Physik als Instrument geschaffen hat, sondern ein Verständnis, das die Erweckung der Toten Gott vorbehält. War die Hexenverfolgung von der Furcht vor den Toten bestimmt, dann war Auschwitz der Testfall (der Testfall des perfekten Verbrechens): der experimentelle Beweis dafür, daß es keinen Grund gibt, die Toten zu fürchten. Aber wie die Gräberschändungen beweisen, können die Rechten doch nicht so recht an das Ergebnis des Experiments glauben.
    Ist nicht die Schrift der Friedhof, auf dem die Toten der Auferweckung harren?
    „Name ist nicht Schall und Rauch.“ Ist nicht der Stern der Erlösung ein Versuch, in dieses Buch den eigenen Namen (Ich, mit Vor- und Zunamen) einzuschreiben?
    Die Anonymität des Apokalyptikers, sein Versuch, sich in fremde Namen einzuschreiben: Sind das nicht auch Versuche, im andern sich der der eigenen Auferstehung zu versichern? Und bezieht sich das „Wenn ich will, daß er bleibt, was geht’s dich an“ nicht auf den Namen des Johannes, des Apokalyptikers?
    Der Begriff der Erbsünde verweist auf den Zusammenhang des Weltbegriffs mit dem des Erbes; Zwischenglied ist das Wort von den Sünden der Welt.
    Muß man sich die Sätze, mit denen die Philosophie die Logik demonstriert hat, nicht doch ein wenig genauer ansehen:
    Alle Menschen sind sterblich.
    Sokrates ist ein Mensch.
    Also ist Sokrates sterblich.
    Der Prämisse hat die Theologie seit je mit der Lehre von der Auferstehung wiedersprochen. Dem Schluß, daß Sokrates sterblich sei, wäre anzumerken, daß er nicht gestorben ist, sondern einem durch Rechtsspruch verordneten Selbstmord aus freiem Willen sich gefügt hat. Hat nicht dieser Tod, das dem Staat freiwillig dargebrachte Selbstopfer, mehr mit dem Ursprung und Charakter der Philosophie, auch mit dem sokratischen Daimon, zu tun, als bisher angenommen wurde? Zum Kreuzestod Jesu gehören die Worte „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ und „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“. Ist nicht der Selbstmord des Sokrates ein Paradigma der Philosophie seitdem, bis hin zum „Vorlaufen in den Tod“ Heideggers? Die affirmative Beziehung zum Tod gehört zu den Grundlagen des philosophischen Welt- und Selbstverständnisses.
    Die säuberliche Trennung der Seele vom Leib die dem christlichen Unsterblichkeitsverständnis zugrunde liegt, raubt ihm zugleich seinen Existenzgrund.
    Ist nicht das Geld der Goldgrund des Staates, politisch-ökonomischer Reflex des Sonnensystems, die säkularisierte Sonne selbst? Und sind nicht die Ministerien und die Verwaltung ein Abbild des Planetensystems? Die Geschichte der Vergesellschaftung von Herrschaft, die Geschichte des Vergesellschaftungsprozesses insgesamt, hat in den Subjekten das Chaos hinterlassen, dessen Opfer sie zugleich geworden sind, weil sie es in den Ordnungen, die das Chaos produzieren, nicht erkennen können.
    Dorn, Horn, Zorn, Korn, vorn: Sind das Wörter, die sich nur zufällig reimen?
    Werden die verschiedenen Hörner (Ochs und Widder, Schofarhorn, Hörner des Altars, Hörner des Drachen) auch im Hebräischen durch das gleiche Wort bezeichnet?
    In welcher Relation stehen die Massen, die Entfernungen von der Sonne und die Geschwindigkeiten der Planeten?

  • 11.03.93

    Ist es eigentlich so ganz abwegig, wenn man den Begriff der Totalität mit dem des Tötens in Verbindung bringt?
    Ist nicht der Komparativ der Hebel der Neutralisierung, und der Superlativ Ausdruck der Idolatrie: der Instrumentalisierung des Göttlichen?
    Der Komparativ und der Ursprung des Sports (höher, schneller, weiter).
    Das „Richtet nicht“, das „Liebet eure Feinde“ und das „Seid arglos wie die Tauben“ gehören zusammen und bilden ein System. Sie sind Teil der negativen Trinitätslehre: Der Richtende leugnet den Vater, der Hassende den Sohn und der Paranoide den Heiligen Geist.
    – Richtet nicht: Kritik des Geldes,
    – Liebet eure Feinde: Kritik des Bekenntnisses, und
    – Seid arglos wie die Tauben: Kritik des Raumes.
    Ist nicht das Problem des Ursprungs der Schrift noch rätselhafter als das des Ursprungs des Geldes? Waren die Keilschrift-Schuldscheine in den altorientalischen Tempeln nur Schuldscheine? Ist die Verflechtung des Ursprungs der Schrift mit dem Ursprung des Geldes, beide vermittelt durch das Realsymbol des Opfers, nicht doch enger? Krankt nicht das Heinsohn-Illingsche Konzept an der Unfähigkeit zur Reflexion von Sprache und Schrift (an der Verwechslung gesellschaftlicher und realer Naturkatastrophen), oder an der Verdrängung des Problems des Ursprungs von Sprache und Schrift (Beziehung der sumerischen zur hethitischen Sprache, Ursprung der indogermanischen Sprachen und der Buchstabenschrift)?
    Theologie ist Sprachphilosophie, die die Dinge wieder zum Sprechen bringen will, indem sie den Bann des Verstummens löst. Die Todesgrenze ist eine Sprachgrenze (und die Existenz der Sprache die Widerlegung des Wahrheitsanspruchs der Physik).
    Die Opfertheologie hat den Tod, den die Welt uns auferlegt, instrumentalisiert. Wenn der Begriff der Todsünde ein gegenständliches Korrelat hat, dann ist es die Opfertheologie (als Kern der Sünde der Welt). War nicht die Todesangst in Getsemane die Angst vor der Instrumentalisierung des Todes (und so die Angst vor dem Grund der Todesangst).
    Hegels Wort von der „falschen Zärtlichkeit für die Welt“ ist projektiver Natur: es verbirgt Hegels eigene falsche Zärtlichkeit für den Geist. Zwar vermag nur der Geist den Widerspruch zu ertragen, aber dieser Widerspruch ist der Widerspruch der Welt, und: wer angesichts von Auschwitz den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.
    Die Sprache, die aus dem Leiden Literatur macht, versündigt sich am Leiden (und nur dem Dichter gab ein Gott zu sagen, was er leidet). Aber gibt es eine Alternative?
    Während Jesus einzig die Nachfolge fordert, begnügt sich die Kirche (im Auftrage der Welt) mit dem Bekenntnis.
    Hängt die 3. Pers.-Endung -nd (sind) mit der Partizip-Endung -nd (seiend) zusammen?
    Haben Infinitiv und Neutrum einen gemeinsamen Ursprung?
    Öffentlichkeit, Medien und die Denunziation: Vor dem Gericht der Öffentlichkeit reicht jeder Verdacht aus, während Verteidigung keine Chance hat (Prinzip Drachenfutter). Man darf keine Fehler mehr machen, aber das zerstört die Phantasie und die Kreativität. Heute beherrschen die Medien die Phantasie, besetzen die letzten Schlupflöcher und lassen keine freie Phantasie mehr zu.

  • 14.02.93

    Es gibt eine Steigerung, die verharmlost. Dazu gehört das Dogma von der Göttlichkeit Jesu.
    Falsch ist im Anblick von Auschwitz die Identifikation mit den Opfern; wichtig ist sie allein im Kontext der Selbstreflexion der Täter. Gilt das nicht auch für den Kreuzestod Jesu?
    Ist nicht die Dogmatik ein falsches (verdinglichtes) Metaphern-Konstrukt?
    Die Entdeckung der sogenannten Tiefenzeit, die Verlängerung der Chronologien, zerstört den Gegenstand der Erinnerung: falsche Zärtlichkeit für die Welt.
    Wer unfähig ist zur Schuldreflexion, muß alles, was von außen an Schuld erinnert, als Angriff, als Beleidigung erfahren. Deshalb sucht er es zu beseitigen, bis hin zu Vernichtung. Das hat insbesondere den Charakter des Wiederaufbau der deutschen Städte, in denen nichts mehr an die Vergangenheit erinnern durfte, bestimmt, es erscheint aber auch in den Gräberschändungen der Rechten nach Auschwitz.
    Die Kirche bekennt mit den Lippen, Jesus sitze zur Rechten des Vaters. Sie handelt so, als säße er zur Linken: sie hält den umgestülpten Handschuh für den richtigen.
    Das Buch Jona bezieht sich auf den Anfang der Kirche: Ninive wird nicht zerstört (angesichts der 120000, die rechts und links nicht unterscheiden können, und so viel Vieh). Aber daneben steht (im katholischen Kanon) das Buch Tobit, und da wird der Fisch erlegt, Sara vom Dämonen Asmodai befreit, das Symbolum eingelöst, Tobit von der Blindheit geheilt und am Ende Ninive doch zerstört. Wird hier nicht das Ende der Kirche beschrieben?
    Der Weltbegriff stammt aus der Geschichte der Idolatrie, das Inertialsystem aus der der Inquisition.
    Was die Philosophie mit dem Mythos gemacht hat, hat die christliche Theologie (und zwar schon die Vätertheologie, mit Hilfe des Dogmas und der Orthodoxie) mit der Prophetie gemacht. Die Theologie hat die Philosophie gerettet, aber die Prophetie verraten. Die Orthodoxie war ein Mittel, gegen den Einspruch der Prophetie den Objekt- und Realitätsbezug der Philosophie zu retten. Aber er wurde nicht nur gerettet: Durch ihre Beziehung zur Prophetie hat sich mit der Theologie (im Kontext der Verinnerlichung des Opfers) der Objektbegriff so geändert, daß erst danach der Ursprung des Kapitalismus und des Inertialsystems möglich war.
    Ist nicht Sebastian ein griechischer Augustinus?

  • 13.02.93

    Der Weltbegriff bewirkt, daß wir uns selbst im blinden Fleck stehen; diesen blinden Fleck projizieren wir zugleich nach draußen: als Natur. Um diesen blinden Fleck zu erhalten, bedarf es der Opfertheologie; und zwar der Opfertheologie als Nachfolge-und Gottesfurcht-Vermeidungs-Strategie, die das Schuldverschubsystem begründet, dessen diverse Auskristallisationen wir Welt nennen.
    Sind nicht die Gräberschändungen symbolische Handlungen: hilflose Abwehrreaktionen gegen die als reale Gefahr erfahrene Wiederkehr des Verdrängten? Haben diese Gräberschändungen, durch die rechte Aktionen sich von linken unterscheiden, nicht erst nach dem Kriege, genauer: nach Auschwitz, und hier als Zeichen nicht geleisteter Erinnerungsarbeit eingesetzt? Ist hier nicht eine neue Qualität in der Geschichte des Antisemitismus, und rührt diese neue Qualität nicht auch an die Grenze theologischer Sachverhalte? In den Evangelien waren es (neben Petrus) die Dämonen, die das Messiasbekenntnis abgelegt haben.
    Das Reich der Erscheinungen schließt das Was der Erscheinungen von sich aus, bleibt äußerlich dagegen, macht es unkenntlich. Diese Äußerlichkeit drückt sich in den Totalitätsbegriffen Natur und Welt aus. Die Welt ist das Subjekt des Subjektlosen; sie konstituiert sich als Inbegriff des gleichen, durch die Institution des Opfers begründeten Vakuum, in das zuvor die Idolatrie die Götter hineinprojiziert hatte.
    Ist nicht die Übernahme der Sünden der Welt die Restituierung der Gottesfurcht unter den Bedingungen des neuen Äons? Und haben wir nicht mit der Vergöttlichung Jesu ihn mit dieser Gottesfurcht allein gelassen? Und in welcher Beziehung steht die Gottverlassenheit des Gekreuzigten zu der Verlassenheit, in die wir ihn gestürzt haben?
    Die bloße Verwerfung der Dogmen, der Orthodoxie, der Sakramente, des Priestertums und der Hierarchie gehört in den Zusammenhang des erinnerungslosen Abschieds: sie wiederholt zwangshaft das Ursprungsgesetz der Dogmen, der Orthodoxie und der anderen dazugehörenden Dinge. Es gibt eine Art des Umgangs mit der Vergangenheit – und fast unsere ganze Geschichtsschreibung gehört hierher -, die darauf hinausläuft, die in der Befassung mit dem Vergangenen aufbrechenden Erinnerungen unschädlich zu machen, das Verstörende gleichsam zu domestizieren. Die Schrift nicht nach Belieben (nach den Gesetzen unserer Verdrängungsmechanismen) auswerten, sondern als Rätselschrift lesen lernen, das ist die Voraussetzung dafür, daß sein Wort nicht leer zu ihm zurückkehrt.
    Die höhnische (oder ironische) Verdoppelung im Namen der Barbaren, ist das nicht auch ein Hinweis auf den Grund der Reversibilität aller Richtungen im Raum und der Irreversibilität der Vorstellung einer homogenen Zeit (der Verknüpfungsbegriffe von Welt und Natur): des Ausschlusses der nur in Identifikation mit dem Fremden sich begreifenden Idee der Gegenwart? Ist das nicht m.a.W. ein Hinweis auf das projektive Moment in aller Objekterkenntnis? Und ist dann nicht die Geschichte der Naturwissenschaften die Geschichte der Barbarisierung der Welt?
    Gibt es eigentlich einen sprachlichen Zusammenhang zwischen dem melech und dem maleach, dem König und dem Boten, dem Engel, und ist es nicht eine Verharmlosung des Boten, des Engels, wenn man glaubt, seinen Namen fein säuberlich von dem des Gottessohns trennen zu können? Ist nicht auch der Sohn ein Bote?
    Der Horkheimer-Satz „Es gibt keine menschenfreundlichere Religion als das Christentum, aber es gibt auch keine Religion, in deren Namen solche Untaten begangen worden sind“ bezieht sich nicht auf die beiden Seiten eines Blattes, sondern auf die beiden Seiten eines Handschuhs. Beim Umstülpen ist die Mahnung aus dem Märchen zu beachten: Vergiß das Beste nicht!
    Woher kommt das Wort Mal; gibt es einen Zusammenhang zwischen Denkmal, Wundmal, einmal, nochmal, malnehmen, Maler (der Anstreicher wie der Künstler)?
    Hegels Satz, daß die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug sei, der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern, bewahrheitet sich heute global aufs ungeheuerlichste. Hegel hat nur den zusätzlichen Hinweis vergessen, daß die bürgerliche Gesellschaft zugleich den blinden Fleck erzeugt, der die Wahrnehmung dieses Sachverhalts fast unmöglich macht.
    Ist nicht das Lamm in Joh 129 identisch mit dem Lamm der Apokalypse, das allein berufen ist, die sieben Siegel zu lösen?
    Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht: Deshalb fällt der Kreuzestod nicht unter die Blutschuld (Ex 22). Aber hat dieser Dieb etwas mit Hermes/Merkur zu tun?

  • 10.02.93

    „Haus des Urteils“ und „letztes Gericht“ (Eisenmann/Wise, S. 241): Bezeichnen diese Begriffe nicht den Raum (als Form und Symbol der Verstockung gegen die Umkehr)?
    Zu Young, Beschreiben des Holocaust: Die Kritik an Peter Weiss (S. 118ff, wo er den marxistischen Ansatz von Peter Weiss kritisiert) und an Tadeusz Borowski (S. 170ff) bezeichnet genau die Grenzen des Youngschen Versuchs. Zu der folgenden Textpassage (von Tadeusz Borowski): „Erst jetzt erkenne ich, welcher Preis für die Errichtung der alten Kulturen bezahlt wurde. Die ägyptischen Pyramiden, die Tempel und die griechischen Statuen -welch ein abscheuliches Verbrechen! … Die Antike, das gewaltige Konzentrationslager, …“ schreibt Young: „So hat sich im Kopf des Schriftstellers nicht allein die Zukunft (!), sondern auch die Vergangenheit, sein kulturelles Erbe, in ein großes KZ verwandelt“. Wäre etwa die Verwandlung der Zukunft in ein großes KZ nicht so schlimm wie der verzweifelte Blick auf die Entstehungsbedingungen des „kulturellen Erbes“? Und spielt sich der beschriebene Sachverhalt nur „im Kopf des Schriftstellers“ ab? Ist der Begriff der Normalität, der dem Werk Youngs zugrundezuliegen scheint, überhaupt noch zu halten? Und trennt nicht Auschwitz in der Tat das „kulturelle Erbe“ von der Wahrheit?
    Der christliche Begriff der Buße konnte sich von dem der Umkehr ablösen und gegen ihn verselbständigen nur dadurch, daß die Welt (in der Konsequenz der Opfertheologie und unter Verletzung des Nachfolgegebots) als entsühnt begriffen und damit die Sünde entpolitisiert, privatisiert wurde. Dem theologischen Begriff der Rechtfertigung (der an die Stelle der Forderung, gerecht zu werden, tritt) setzt die vorhergehende Rechtfertigung der Welt -Grund des Bekenntnisbegriffs und dann jeder Ideologie – voraus. Und dieser Begriff des Bekenntnisses verewigt den ungerechten Zustand der Welt und macht ihn unkenntlich.
    Mit der Vorstellung des unendlichen Raumes schützt sich die Subjektivität gegen die Reflexion des sie begründenden Herrschaftsmoments. Ebenso wie die Vorstellung des Raumes sind auch die Begriffe Natur und Welt, die sich im Medium des mathematisierten Raumes überhaupt erst konstituieren, selbstreferentiell und damit fast unreflektierbar.
    Wäre das Rosenzweigsche Konstrukt nicht doch einmal anhand folgender Thesen zu überprüfen:
    – Der Weltbegriff leugnet die Schöpfung,
    – der Begriff des Wissens die Offenbarung und
    – Naturbegriff die Erlösung?
    In welcher Beziehung stehen dazu:
    – Adornos Kritik der Verdinglichung,
    – sein Konzept des Eingedenkens der Natur im Subjekt und
    – das auf Benjamin sich berufende Konzept der vollständigen Säkularisation aller theologischen Gehalte?
    Zur Jotam-Fabel (Ri 97ff): Der König steht in der Figur des Dornbuschs (und, nach Jürgen Ebach, Kains). Ist darin nicht auch ein Stück Messias-Kritik enthalten, die das kritische Element in den Evangelien (die Unkraut- und Kain-Tradition in ihm) antizipiert? Welche Bewandnis hat es dann mit dem Ölbaum, dem Feigenbaum und dem Weinstock? Ist nicht die Jotam-Fabel mehr als nur eine moralische Fabel: eine prophetische Fabel?
    Sind die Entdeckung des Winkel und die Entfaltung der Geometrie der Fläche bei den Griechen nicht ein Abfallprodukt der Entdeckung der Schrift, die ebenfalls auf die Fläche sich bezieht (Zusammenhang mit der Schrift als verstummte und deshalb tradierbare Sprache)?
    Gott will nicht, daß sein Wort leer zu ihm zurückkommt: Die in der Schrift verstummte Sprache will wieder laut werden.
    Ist nicht die christliche Theologie in ihrer dogmatischen Gestalt mehr als Hurerei: die Vergewaltigung der Schrift?

  • 05.02.93

    Das reale gegenständliche Korrelat der christlichen Theologie ist nicht der Himmel mit seinen Engeln und Heiligen, sondern -und darauf weist schon die bekannte augustinische Bemerkung hin, wonach zum Glück der Seligen im Himmel der Anblick der Leiden der Verdammten in der Hölle gehört – Auschwitz. Hierin erfüllt sich die Realitätssucht, von der die katholische Theologie nicht lassen kann. Deshalb gewinnt das Ereignis Auschwitz eine Qualität, die sonst nur der Heiligen Schrift eignet.
    Drei Dinge von Rosenzweig: die Umkehr, der Name und das Angesicht. (Und drei Dinge für Adorno: daß es im Zustand der Befreigung des Ich nicht mehr bedarf, daß die Natur noch unter einem Bann steht, und daß der Ursprung der Philosophie der Verinnerlichung des Schicksals sich verdankt. Nachtrag: Ist das Recht das vergesellschaftete Schicksal, und liegt hier der Grund dafür, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand sein kann?)
    Ist nicht der Dekalog erst im Christentum vergesetzlicht worden? Mit der Folge, daß insbesondere das zweite, das vierte und das achte Gebot (die Heiligung des Gottesnamens, die Ehrung der Eltern und das Verbot des falschen Zeugnisses wider den Nächsten) nie verstanden worden sind (nicht gemeint sind: „du sollst nicht fluchen“, „de mortuis nihil nisi bene“ und „du sollst nicht lügen“).
    De mortuis nihil nisi bene: die Begründung der Raumvorstellung, mit der die Auseinandersetzung mit den Eltern stillgestellt worden ist.
    Wo kommen (außer bei Susanna, im Jesus-Prozeß und bei Stephanus) falsche Zeugen vor?
    Der Weltbegriff verhindert die sich mit dem andern identifizierende Erkenntnis, indem er den Objektivationsprozeß, die Vergegenständlichung sanktioniert und seine Folgen zugleich ausblendet.
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit korrigiert das Inertialsystem als Referenzsystem des naturwissenschaftlichen Objektivationsprozesses, indem es zugleich das Wissen von der Erkenntnis trennt, den Schein der Konvergenz beider destruiert.
    Hängt der Name des Pharao nicht mit dem des Sklavenhauses zusammen: Sklaven sind Sklaven des Hauses; in Ägypten aber ist das ganze Land das Haus. Die Josefsgeschichte beschreibt die Ursprungsgeschichte der Einheit und des ökonomisch-politischen Kontextes dieses „Hauses“.
    Die Vergesellschaftung von Herrschaft hat mit der griechischen Philosophie, mit der Überwindung des Mythos durch Verinnerlichung ihres logischen Kerns, des Schicksals, begonnen: Hier haben erstmals alle von dem Kelch getrunken. Bezieht sich nicht darauf das Jesus-Wort in Gethsemane: Wenn es möglich ist, laß diesen Kelch an mir vorübergehen.
    Ist es nicht die Orthodoxie, die bewirkt, daß wir Rechts und Links nicht mehr unterscheiden können?

  • 04.02.93

    Erinnert das im zweiten Kapitel des ersten Teils des „Beschreiben …“ angesprochene Problem nicht an das Problem der Autorenschaft insbesondere in der apokalyptischen Literatur (aber auch beim Pseudo-Dionysius und beim Sohar), das sich, wie vielleicht das Fälschungs-Problem im Mittelalter und das Chronologie-Problem insgesamt, nicht mehr unter dem Titel Fälschung erledigen läßt? Die Authentizität eines Werks kann nicht immer daran gemessen werden, ob sich der Autor zu seinem Werk „bekennt“. Umgekehrt: Setzt dieses „Bekenntnis“ nicht eine Identität der Person voraus, die an die der subjektiven Formen der Anschauung (an die Einheit des Ich denke, bei der heute zu fragen ist, ob sie der Idee der Wahrheit noch standhält) gebunden ist und mit dieser steht und fällt.
    Reproduzieren sich nicht angesichts von Auschwitz die theologischen Probleme, in die sich die christliche Theologie nach der Vergegenständlichung und Instrumentalisierung des Kreuzestodes verstrickt hat?
    Zeitunglesen: das allmorgendliche Drachenfutter, weltlicher Exorzismus gegen die Gewalt der nächtlichen Träume.
    Ist die Befreiung der Maria Magdalena von den sieben unreinen Geistern nicht auch eine Form des Erkanntwerdens in dem Sinne, in dem es heißt, daß Adam sein Weib erkannte?
    Die Auflösung des Banns der Vergangenheit ist die Auflösung des Wissens durch erinnerndes Erkennen. (Hat das Prädix er- etwas mit der dritten Person sing. masc. zu tun?)
    Zum „Laß den Kelch an mir vorübergehen“: heißt das, er möge es mir ersparen, ihn trinken zu müssen? Und wie heißt das Vorübergehen im Griechischen?
    Die affirmative Rezeption des Weltbegriffs war erkauft mit der Versteinerung der Kirche. Und war das nicht vorbezeichnet im Namen des Kephas?
    Motive, die Adornos Interesse geweckt haben, waren wohl:
    – daß die Verwirklichung der Utopie sich daran messen läßt, daß es des Ich nicht mehr bedarf;
    – daß die gesamte Natur noch unter einem Bann steht; und
    – daß der Ursprung der Philosophie der Verinnerlichung des Schicksals sich verdankt.
    Hat sich nicht das gesamte Realitätsverständnis verändert, als physis mit natura und kosmos mit mundus übersetzt wurde?
    Wenn Prophetie Herrschaftskritik ist, dann ist – nach der Vergesellschaftung von Herrschaft – Erkenntniskritik die letzte Gestalt ihrer Verkörperung.
    Welchen Wert hat die Taufe, wenn sie nicht die Erinnerung an den Täufer in sich enthält: an das „Kehret um, denn das Himmelreich ist nahe“ und das „Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt“

  • 03.02.93

    Wozu benötigt die Sprache das Futur II? Hat das Futur II (als sprachlicher Kern des Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhangs) etwas mit dem babylonischen Turm, der bis zum Himmel reichen sollte, zu tun? Ist sie der Ursprung des Falls (die Antizipation des Selbstmords)? Das „Es wird gewesen sein“, die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, begründet mit dem Selbsterhaltungsprinzip die wechselseitige Äußerlichkeit der Dinge im Raum, sie konstituiert damit die Raumvorstellung selber: die die Orthogonalität und die Reversibilität der Richtungen im Raum begründenden Logik. Sie begründet das abschlußhafte, die Dinge wie die Vergangenheit abschließende Wissen, seine vergegenständlichende Kraft, die in der Trennung und wechselseitigen Konstituierung von Natur und Welt sich manifestiert.
    Das Futur II neutralisiert den Wunsch und das Gebot; es ist der Grund des Gesetzes, ein Graecum, kein Hebraicum. Es hat mit dem Orakel und mit den Auguren zu tun, nichts hingegen mit der Prophetie. Es ist der sprachliche Grund und Reflex der Subjektivierung des Schicksals (der Philosophie und des Weltbegriffs) und insoweit das reale Korrelat der Geschichte des Turmbaus zu Babel.
    Zielt nicht der katholische Gebrauch des Begriff des Fundamentalismus heute auf die Wahrheit selbst: sich selbst erfüllende Projektion?
    taz, 03.02.93 („Unterm Strich“): Die Redensart „Aus Saulus wird
    Paulus“, aus einem schlechten Mensch wird ein guter Mensch, fußt nach neuesten Bibelforschungen auf falschen Voraussetzungen. Der Apostel habe seinen ursprünglichen Namen niemals abgelegt, sei zeitlebens Jude geblieben und gelte fälschlicherweise als Mitbegründer des Christentums, erklärte der jüdische Neutestamentler Pinchas Lapide in einem AP-Gespräch. Saulus, der später als zweiten, römischen Namen Paulus angenommen habe, habe sich nie zum Christentum bekehrt. „Das Wort Bekehrung kommt in der sogenannten Damaskus-Vision überhaupt nicht vor, sondern es heiße dort Berufung zum Apostolat“, erläutert der in Frankfurt am Main lebende Religionswissenschaftler. Nach der Überlieferung hatte Paulus auf dem Weg von Arabien nach Damaskus die Vision, daß Jesus ihn zum Apostel berufen wolle. Mit dem Menschen Jesus ist Paulus jedoch nie zusammengetroffen. Zu Petrus und Jakobus soll Paulus einmal gesagt haben: „Meine Vision der Auferstehung war wichtiger als eure Begegnung mit dem irdischen Zimmermannssohn.“ Als ein wesentliches Forschungsergebnis bezeichnet es Lapide, daß sich Paulus entgegen der Überlieferung im Galater-Brief niemals in Arabien aufgehalten habe. Vielmehr sei er von Arawah (hebräisch Steppe) nach Qumran gegangen, die beide am Toten Meer liegen. Den Weg habe Paulus zu Fuß oder auf dem Esel in etwa einer halben Stunde bewältigt. Qumran, wo im Jahre 1947 die berühmten Schriftrollen gefunden wurden, habe früher den Beinamen „Damaskus in der Wüste“ getragen, erläutert Lapide. So sei fälschlicherweise überliefert worden, Paulus sei von Arabien nach Damaskus in Syrien gegangen. Gegen die klassische Überlieferung spreche auch, daß es damals etwa von Riad nach Damaskus eine Achttagereise gewesen wäre, erklärte der Neutestamentler. Die berühmten Qumran-Rollen, Handschriften vor allem aus Büchern des Alten Testaments, wurden 1947 in einer Höhle von Beduinen entdeckt, die auf der Suche nach einer entlaufenen Ziege waren. „Die meisten Rollen sind aus Leder, wenige aus Papyrus und nur zwei aus Kupfer“, erläutert der Neutestamentler. Da Wissenschaftler noch heute dabei seien, die Rollen auszuwerten, werde spekuliert, daß mit einer Gesamtveröffentlichung „die Einzigartigkeit von Jesus und seiner Botschaft geschmälert“ werden könnte. (Zusatz taz: Oh weh, oh weh.)
    Die „Beschreibung des Holocaust“ von James E. Young rührt an einen zentralen Punkt: an das Problem des Schreibens heute überhaupt und an das Verständnis der Schrift. Nähe zur „Grammatologie“ von Derrida und zum „Widerstreit“ von Lyotard. Erinnerung an die Selbstmorde von Jean Amery, Primo Levi und Paul Celan (unsere Mitschuld daran, weil wir nicht bereit waren, den Schrei aufzunehmen). Lyotards Reflexionen über das vollkomene Verbrechen rühren an ein Problem der Sprache, für das Auschwitz auch steht: an die Unfähigkeit, den Bann der Gemeinheit zu sprengen und zugleich die rechtlichen Kriterien der Zeugenschaft zu erfüllen. Dazu ist an den Kontext des Logos-Begriffs und das „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, …“ zu erinnern, die das Problem in einen realen theologischen Zusammenhang rückt. Läßt sich über Auschwitz erst im Kontext der Idee der Auferstehung (oder erst nach der Auferstehung der Toten) schreiben? Rückt das die deutsche Abwehr der Postmoderne nicht doch in ein anderes Licht? Und hat es nicht doch verhängnisvolle Folgen, wenn dieser Diskurs in Deutschland fast nur abgewehrt und die Postmoderne wie eine Häresie verfolgt wird?
    In Auschwitz ist der Weltbegriff mit untergegangen, er ist seitdem für die Theologie nicht mehr brauchbar. Auschwitz ist der Maelstrom, dessen Poe’sche Beschreibung Adorno als Motto vor seine Kierkegaard-Arbeit gesetzt hatte: der Wirbel, der die Sprache ihrer benennenden Kraft beraubt. Wir leben in diesem Wirbel und halten ihn immer noch – unter dem Bann der subjektiven Form der äußeren Anschauung, des Raumes – für eine ruhende Welt. Auschwitz ist der Beweis dafür, daß der Logos die Last, die wir ihm aufbürden, indem wir die Nachfolge verweigern (und die Erscheinungen für die Dinge an sich halten), nicht zu tragen vermag. Die Last ist endgültig auf uns übergegangen.
    Erinnerungsarbeit und Vergangenheitskolonialismus: Solange wir glauben, die Richter der Toten sein zu können, richten sie uns.
    Zeugenschaft und Eingedenken: Dieses „Das darf nicht vergessen werden“ ist das zentrale Motiv, nicht die Widerlegung der Leugner.
    Zu Otto F. Best (FR von heute): Die Deutschen haben keinen Witz, weil sie Witze machen. Dadurch unterscheiden sie sich u.a. von den Franzosen. Witz ist die Fähigkeit zur Sprachreflexion, die das Witze-Machen durch seine verdinglichende, vergegenständlichende Gewalt (durch Gelächter) zerstört. Der deutsche Witz ist eine xenophobe und paranoide Notwehraktion (Indiz der verfolgenden Unschuld). Karl Kraus hat einmal darauf hingewiesen, daß die Deutschgesinnten in der Regel des Deutschen nicht mächtig sind. (Vgl. Adenauers Wort: „Je einfacher Denken ist eine guten Gabe Gottes“. Einschlägig scheinen auch die Satzeinschübe Kohls zu sein, wie z.B.: „das werde ich an dieser Stelle sagen dürfen“, mit denen Kohl seine Rede unterbricht, um sein Erstaunen darüber auszudrücken, was er hier wieder einmal sagt, und mit denen er zugleich sich selbst ermächtigt, es zu sagen. Das liegt auf der gleichen Ebene wie seine eigene Unfähigkeit und die anderer Mitglieder seines Kabinetts, zu den xenophoben und antisemitischen Ausschreitungen der letzten Zeit überhaupt auch nur einen vernünftigen Satz zu sagen. Zugrunde liegt die allgemeine Erleichterung darüber, daß wir nach der wiedergewonnenen Einheit uns keine Zurückhaltung mehr auferzulegen brauchen und endlich wieder sagen dürfen, was wir denken; die Irritation durch die ausländerfeindlichen Ausschreitungen wird real verdrängt und verschoben auf das bedauernswerte Unverständnis des Auslands für diese deutsche Eigenart, auf die wir leider noch Rücksicht nehmen müssen.)
    Die verandernde Kraft des Seins ist der Grund des Weltbegriffs, sie wird durch durch die Gewalt des Weltbegriffs unumkehrbar. Der Weltbegriff ist die verandernde Kraft des Seins als Totalität.
    Ist nicht der augustinische Satz, daß zum Glück der Seligen im Himmel der Anblick der Qualen der Verdammten in der Hölle gehört, eine direkte Konsequenz aus dem Kernkonstrukt der dogmatischen Theologie: der Opfertheologie. Hier liegt der Grund, daß in der kirchlichen Tradition die Buße nur noch als Leiden verstanden wird, und nicht als Tun: die Umkehr ist gegenstandslos geworden. War nicht das Bild der Hölle ohnehin das Produkt einer projektiven Verarbeitung des Bewußtseins, daß die Gläubigen selber für sich und für die anderen die Hölle sind (mit der Exkulpierung von Herrschaft, der Legitimierung des staatlichen Gewaltmonopols, und einem Begriff der Sexualität, in dem die politische Ohnmacht bewußtlos sich reflektierte, als dem Herd des ewigen Feuers)?
    Das Wort von den Pforten der Hölle (Mt 1618): ou katischysousin autäs, sie werden sie nicht überwältigen.
    Die Rehabilitierung Galileis durch Johannes Paul II scheint mir auf den Versuch hinauszulaufen, den Kloß im Hals der Theologie, zu dem die Naturwissenschaften geworden sind, jetzt endlich zu schlucken: aber wird die Kirche nicht daran ersticken?
    Das Dogma war der Preis, den der Staat und die Philosophie für die Rettung des Welt- und des Objektbegriffs zahlen mußten.
    Hegels Satz, daß die Idee die Natur frei aus sich entläßt, müßte eigentlich unters kirchliche Abtreibungsverbot fallen (durch den affirmativen Weltbegriff hat die Theologie sich selbst abgetrieben).
    Zur deutschen Staatsmetaphysik gehören neben dem Gewaltmonopol des Staates und dem Staatsanwalt auch das deutsche Staatsexamen.

  • 14.12.92

    Ist die mittelalterliche Dämonenlehre nicht eine entfremdete und verdinglichte Erkenntnis- und Gesellschaftskritik, der notwendige Schatten der Aufklärung: der mit ihr dogmatisierten Form der Objektbeziehung? So ließe sich der Hexenwahn, auch seine inhaltliche Bestimmung (sh. u.a. Carlo Ginzburg: Hexensabbath), als Deckbild der beginnenden naturwissenschaftlichen Aufklärung begreifen, der Antisemitismus und Auschwitz als Widerspiegelung des Endes der Aufklärung.
    „In der griechischen und in der von ihr herstammenden russisch-orthodoxen Kirche gab es keine Hexenverfolgung, keine Inquisition, keine Massenabschlachtungen.“ (Rudolf Krämer-Badoni, S. 180) Weil es dort den Ursprung der Naturwissenschaften nicht gegeben hat.

  • 12.12.92

    „Die Götterwelt fungiert als eine völkerrechtliche Instanz, die auf die Einhaltung der Verträge achtet.“ (Assmann, S. 256)
    Vertragsbruch als Urmodell der Sünde. (ebd.)
    In welchem Zusammenhang stehen im Christentum Kanonbildung und Dogmatisierungsprozeß?
    „Das Problem ist für die Wissenschaft das, was die „Mythomotorik“ für die Gesellschaft im Ganzen ist. Das Problem enthält ein Moment dynamischer Beunruhigung. Die Wahrheit ist einerseits problematisch, andererseits wenigstens theoretisch lösbar geworden.“ (S. 288)
    Im Kontext des „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ gibt es den anderen, an die Pharisäer gerichteten Satz, wonach sie durch Wissen schuldig werden. Dieser Satz, der auf den Rat hinausläuft, dumm zu bleiben, denn „Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß“, ist böse. Hier liegt der Grund der Verdrängungsmechanismen, der Verdummungsautomatik, die ihre schlimme Wirksamkeit dann entfaltet hat. Hier werden die Dummen heiliggesprochen.
    Die systematische Stelle des Naturbegriffs im Stern der Erlösung macht deutlich, welchen Bann er begründet, und daß er nur durch Umkehr, in der der Bann sich löst, auf die Idee der Wahrheit zu beziehen ist.
    „Gehet hin in alle Welt“, dieser Auftrag ist nicht nur geographisch, sondern auch begrifflich zu verstehen. Er bezieht sich auch auf die Apperzeption und vollständige Durchdringung der weltkonstituierenden Philosophie.
    Staub, Schmutz und Abfall sind Kategorien der Xenophobie. (Hat der Name der Hebräer etwas mit dem Fluch über Adam und die Schlange, mit dem Staub, zum dem Adam wird und den die Schlange frißt, zu tun? Wird nicht die Erinnerung an das „Staub bist du, und zu Staub wirst du wieder werden“ zur Selbstbezeichnung? Als Hebräer aber sind sie Nahrung der Schlange. Ist in diesem Licht nicht die Schlange des Moses, ihr Kampf mit den Schlangen der Zauberer des Pharao, die erhöhte Schlange, zu sehen? Wann wurde die Schlange aus dem Tempel entfernt? – Wird im Christentum der Benennende und Fressende: Ägypten, die Philister, auch Holofernes ins hebräische Subjekt mit hereingenommen; ist das der Kelch, von dem Jesus wünschte, er möge vorübergehen; und drückt sich das im Kreuzestod, dem ambivalentesten Symbol des Christentums, für das das „Ein Gehenkter ist ein Fluch Gottes“ – 5 Mos 2123, Gal 313 – weiterhin gilt, aus? – Vgl. auch Hebr 1126, 122, 1313)
    Der Weltbegriff macht die Schande (das Aufdecken der Blöße) allgemein, das Christentum macht sie reflexionsfähig: es relativiert die Schande, die Schmach, befreit die Menschen von ihrer Gewalt (das Kreuz ist Grund der Ästhetik, aber selbst kein ästhetisches Objekt; Beziehung der Schande zur Sexualmoral): Schande wird reflexionsfähig durch Übernahme der Sünde der Welt.
    Hat der Name des Petrus etwas mit den drei Leugnungen zu tun, mit dem „Von allen Seiten von außen“ und der Hilflosigkeit dagegen, (Genesis der Verdinglichung, Versteinerung)?
    Gethsemane, und nicht die Todesangst, wäre der Anfang einer christlichen Theologie, die dem mit dem Stern der Erlösung gesetzten Anspruchsniveau genügt.
    Vorweihnachtliche Unzufriedenheit: omna animal post coitum triste.
    Der Begriff unterscheidet sich vom Namen wie das Zeitlose vom Ewigen. Das Zeitlose gilt zu aller Zeit, das Ewige besteht zu keiner Zeit, außer „Heute, wenn ihr meine Stimme hört“. Das Zeitlose ist bis zur Strangulierung verstrickt in die Zeit, nur das Ewige bringt die Luft zum Atmen.
    Das jesuanische „Die Blinden sehend machen“ sollte nicht verwechselt werden mit dem „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“. Gegenstand der erlösten Erkenntnis ist nicht die Nacktheit, sondern das Angesicht.
    Es gibt eine Vergöttlichung Jesu, die ihn gleichsam stillstellt, unschädlich macht. Sie hat mehr mit dem Binden zu tun als mit dem, was in seinem Munde Bekenntnis hieß.
    Gehört es mit zum Providentiellen in der deutschen Sprache, daß in ihr der Name der Taube an den der Taubheit anklingt (mit der Konnotation des Doven)?
    Mit scheint, die Abtreibungsdiskussion hängt strukturell mit der Xenophobie zusammen. Innerkirchlich implodiert in der Abtreibungsdiskussion die Sexualmoral, Folge ihrer unaufgeklärten Beziehung zum theologischen Weltbegriff und seiner Verflochtenheit in die reale Geschichte (Zusammenhang mit der unaufgearbeiteten Frauenfeindschaft und dem Zölibatsproblem und mit den drei ungelösten Vergangenheitsproblemen: Antisemitismus, Ketzer- und Hexenverfolgung).
    Lippen und Zunge, Phallus und Vagina: Weshalb heißt das Lippenbekenntnis Lippenbekenntnis?
    Ist nicht heute die Nutzung der Welt als Exkulpationsmaschine die Wand, die uns von Auschwitz trennt, und der Grund der Unfähigkeit, Auschwitz und seine gegenwärtigen Metastasen wirklich wahrzunehmen?
    Zu Metz am 11.12.: Die Verwechslung der Empfindlichkeit mit der Sensibilität beharrt auf der unzivilisierten Verletzbarkeit, während die Sensibilität ihrer selbst auch nach Verletzungen noch mächtig bleibt. Die Sensibilität unterscheidet sich von der Empfindlichkeit durch ihr parakletisches Element.
    Errettung der vergangenen Zukunft: Siehe hierzu das Gleichnis vom armen Lazarus, der den Reichen darauf hinweist: deine Brüder haben Moses und die Propheten; an die sollen sie sich halten.

  • 30.11.92

    Der Satz des Thales „Alles ist Wasser“ ist ein prophetischer Satz. Er beschreibt das Schicksal der gesamten Philosophie.
    Mit dem Satz „ens et unum convertuntur“ wurden das Neutrum und der Weltbegriff abgesichert.
    Ist der Dualis die Vorstufe des Neutrum, ist das ne utrum durch Negation aus dem Dualis hervorgegangen? Und kann es sein, daß der Dualis in einer kritischen Beziehung zum Akkusativ steht, daß er das Moment des verteidigenden (gegen die identifizierende Gewalt des Akkusativ gerichtete) Denken noch in sich enthält? Hängt das lateinische Akkusativ-m (-um, -am) mit dem hebräischen Dualis-m (-jim) zusammen? Und ist die Negation, die den Dualis in das Neutrum umgewandelt hat, durch die Futurbildungen (durchs Herrendenken) in die Sprachstruktur hereingekommen: durch das Abschneiden der Utopie, durch die Sünde wider den Heiligen Geist (die Sünden der Welt als Folge der Sünde wider den Heiligen Geist)? Und dieses Negative, diese Negation drückt sich in einer Fülle von Strukturen aus: vom Weltbegriff über den Begriff des Seins bis hin zu den subjektiven Formen der Anschauung; theologisch wird es durch die Schlange und durch die Teufelsnamen, vom Ankläger über den Verwirrer bis zum Dämon, symbolisiert. (Beziehen sich darauf nicht auch die drei Versuchungen Jesu; und sind die drei Leugnungen nicht prophetische Hinweise darauf, daß die Kirche diesen Versuchungen erliegen wird?
    Hängt der Ursprung des Neutrum mit all seinen Konnotationen mit der Geschichte der Entdeckung des Winkels in der Geometrie zusammen? Und steckt nicht in allen mit orthos zusammengesetzten Begriffen, von der Orthogonalität bis hin zur Orthodoxie, etwas von dieser neutralisierenden, verweltlichenden Gewalt (hängen etwa der Turmbau von Babel und der Name des Pharao mit dem Problem der architektonischen Beherrschung der Raumverhältnisse zusammen)?
    Kann es sein, daß der Name des Pharao mit dem Prozeß der Neutrums-Bildung zusammenhängt, so daß es kein Zufall wäre,
    – wenn die Anpassungstheologen wie Küng und Drewermann auf ägyptische Konzepte zurückfallen, und
    – daß die Unsterblichkeitstheologie in Ägypten ihren Ursprung hat.
    Gewinnen vor diesem Hintergrund nicht die Ägypten-Geschichten von Abraham und Sara über den Josefs-Roman bis zu Exodus-Geschichte einen anderen Sinn? Ägypten: das Sklavenhaus mit den Fleischtöpfen.
    Beziehen sich drei inhaltlichen Bestimmungen des Hebräer-Namens: Kleinviehnomaden, Sklaven und Söldner, nicht auf die drei Völker: Babel (Ur in Chaldäa), Ägypten und die Philister?
    Sind Idolatrie, Sternendienst und Opferdienst Hilfsmittel zur Begründung und Durchsetzung indogermanischer Sprachstrukturen, Hilfsmittel zur Durchsetzung jenes hypostasierenden und objektivierenden Denkens, das vermittelt ist über die Bildung des Futur II und des Neutrum, sowie der Kasus Genitiv und Dativ? Das Ganze im Kontext von Herrschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen: Städtegründung, Ursprung der Institutionen des Priester- und Königtums, des Tempels (Religion und Wirtschaft), Ursprung der Schrift und des Geldes.
    Was bedeutet der Wortstamm in dem Volksnamen mizrajim, und woher kommt und was bedeutet der Name der Philister?
    Gegen Velikovsky und seine Nachfolger: Nach Auschwitz sollte es eigentlich möglich sein, auch gesellschaftliche Naturkatastrophen sich vorzustellen. Das Problem und Schwierigkeit scheint nur darin zu liegen, daß unser Bewußtsein mit einer Gewalt von Rechtfertigungszwängen beherrscht und durchdrungen ist, die durch den naiven Gebrauch des Weltbegriffs in den historischen Prozeß verflochten sind, daß es dadurch in einer Weise gehemmt und behindert ist, die es außerordentlich schwer macht, diese Hemmnisse real zu durchschauen. Da ist der Velikovskysche kosmische Konkretismus leichter zu akzeptieren.
    Steckt in dem Benjaminschen Wort, daß heute alle entscheidenden Schläge mit der linken Hand geföhrt werden, ein verstecktes Zitat aus dem Buch der Richter?
    Nochmal Jericho, Sodom und Gibea: Alle drei Städte wurden zerstört, aber auf verschiedene Weise:
    – Jericho durch die Posaunen-Prozession um die Mauern der Stadt,
    – Sodom durch Feuer und Schwefel und
    – Gibea durch die restlichen elf Stämme Israels (mit der Stadt wurden zugleich die Frauen und Kinder der Benjaminiter vernichtet).
    Ähnelt das Ergebnis der Zerstörung Gibeas nicht dem Ursprung Roms: die Bildung einer frauenlosen Männerhorde, die erst durch Frauenraub ihr Fortbestehn sichern können; außerdem ist Benjamin ein reißender Wolf, und Romulus und Remus wurden durch eine Wölfin ernährt.
    Müssen wir nicht in der Begründung des Wortes „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, in diesem Nichtwissen endlich uns selbst wiedererkennen, anstatt dieses Bewußtsein unter den Rechtfertigungszwängen, die dieses Nichtwissen selber begründen, zu verdrängen. Christ kann nur sein, wer das Erschrecken über dieses Nichtwissen erfahren hat. Und ist auf das Wort im letzten Satz des Buches Jona noch Verlaß; sollten wir nicht endlich lernen, rechts und links wieder zu unterscheiden? Wenn man dem Buch Tobias glauben darf, wird Ninive am Ende doch zerstört. Aber zuvor wird Tobias, der die Toten begrub, von der Blindheit geheilt.
    Woher kommt der Name Anatolien (die Weisen haben den Stern in Anatolien gesehen)?

  • 19.11.92

    In Hegels Philosophie vereinigt sich die Klugheit der Schlange mit der Geschichte der drei Leugnungen. Ihr fehlt einzig die Arglosigkeit, um wahr zu sein.
    Hans-Jochen Vogel übersieht, daß Engholm und Rau nur die Konsequenzen aus seinem eigenen politischen Konzept, das auch keins war und nur bis zur Häme reichte, ziehen: sie ziehen den Schmusekurs vor. Sie möchten eine Art der Versöhnung, ein Glück im Winkel, eine Politik des allseitigen Wohlgefallens. Aber so produzieren sie selber die Schallmauern, in die sie eingesperrt sind, und die eigentlich Gummiwände sind, deren Ausdehnung die CDU seit je so bestimmt hat, so daß die Drecksarbeit von der SPD (als „Ehrensache“) übernommen wurde. Die SPD hat als ehrlicher Heizer immer dann Feuer nachgelegt, wenn der konservative Zug in Gefahr geriet, ins Stocken zu geraten.
    Mit der Diffamierung der Kritik an den Godesberger Beschlüssen, sie sei „bösartig“, appelliert Engholm an das Bild des unschuldigen Opfers, in dem er sich gern präsentieren möchte. Dieses Bild mag die Grundlage von (allerdings nicht unbedenklichen) Erlösungskonzepten sein, es ist keine Grundlage für eine eigene inhaltliche Politik. Mit der Geste des Beleidigtseins kann man sich in der Familienbande gegenseitig erpressen, aber man sollte dieses Spielchen aus der Politik heraushalten: Es liegt zu nahe an der Paranoia (die nach der Barschel-Affäre vielleicht in der Tat eine Gefahr Engholms ist); und Verschwörungstheorien sind dann nicht fern.
    Das Bild vom Zug, der auf einen Abgrund zurast, wird immer deutlicher. Die, die heute skandieren: „Wir sind doitsch, wir sind doitsch“, antizipieren den Jubel über den Urknall, der in Wahrheit ein Endknall ist (wie die ganze Physik im Entscheidenden die Zeitrichtungen verwechselt, und die Korrektur dieser Verwechslung durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bis heute nicht begreift), und der der besorgten Heideggerschen Frage: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“, einmal die empirische Grundlage zu verschaffen in der Lage wäre. Es fragt sich dann nur: für wen? Denn man mag es wenden wie man will: Die Selbstzerstörung der Welt wird keine Zuschauer haben (hier endet das Unbeteiligtsein des Zuschauers); aber vielleicht ist gerade das für die gewitzten Urheber (für die Politikerkaste und ihre Claqueure in den Medien und in Wissenschaft und Philosophie) der entscheidende Trost: Es wird keinen Kläger (kein Ausland, keine Geschichte, keine Welt, die dann noch ihr Urteil fällen könnte) mehr geben. So wird das letzte politische Verbrechen unwiderlegbar (und Auschwitz war nur die nicht ganz gelungene Generalprobe).
    Die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele korrespondiert der Vorstellung von der Ewigkeit der Materie; sie ist insoweit eine Gespensterlehre, und der christliche Himmel, das Jenseits über den Wolken, ist nie einer gewesen.
    Das Eingedenken ist etwas anderes als der seis positive, seis negative Totenkult (die Mausoleen des real existierenden Sozialismus oder das Schänden der Gräber durch die Rechten).
    Die Wehen und die Schmerzen der Geburt, die im Fluch über Eva genannt werden, beziehen sich auf den an die Schlange gerichteten Fluch: „Feindschaft will ich setzen zwischen dir und dem Weibe, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf und du triffst ihn an der Ferse.“ Dieser Zusammenhang scheint dem zu korrespondieren, der zwischen der Schlange und Adam im Bilde des Staubs benannt wird.
    Robert von Ranke-Graves weist gelegentlich darauf hin (Die weisse Göttin, S. 417ff), daß der Fisch ein Realsymbol der Auferstehung sei. Das könnte ein Licht darauf werfen, daß neben Himmel und Erde und dem Menschen nur die großen Seeungeheuer, die Fische und die Vögel im strengen Sinne erschaffen sind. Mit der Schöpfung ist auch die Auferstehung erschaffen; das trennt die Schöpfung von der Natur (der Fisch als realsymbolische Präsenz des Rätsels der Auferstehung).
    Ist nicht die Vorstellung, daß die Welt im Bilde der Natur die Menschen überlebt, ein Stück patriarchalische Paranoia? Ein Stück jener Paranoia, die mit dem Objektbegriff und mit der monadologischen Isolationshaft, in die sich das patriarchalische Denken selber versetzt, essentiell verknüpft ist.
    Der Weltbegriff leugnet die Schöpfung: das bereschit, den Anfang und den Himmel und die Erde; der Natubegriff leugnet die Auferstehung: den fünften Schöpfungstag.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie