Auschwitz

  • 14.1.96

    Privateigentum ist durch Raub, Erbschaft oder Tausch erworbenes fremdes Eigentum. Die Urform der Aneignung ist der Raub, der durch den Tausch nur reversibel gemacht worden ist. Diese Reversibilität ist das logische Fundament des Privateigentums, der Säkularisationsprozeß der Prozeß der Herstellung und universalen Durchsetzung dieser Reversibilität (Grund des Weltbegriffs). Das Armutsgebot (in der Fassung der indischen Mystik: Mein ist dein, und Dein ist dein) gründet in der (nicht moralischen, sondern logischen) Kritik dieser Reversibilität und hält die Einsicht in die Asymmetrie des Eigentumsbegriffs fest: Eigentum gründet nicht in der Unmittelbarkeit des Besitzens, sondern in der Anerkennung durch andere (seit dem Ursprung der Zivilisation in der staatlich organisierten Anerkennung des Privateigentums durchs Recht).
    Das Armutsgebot rührt an die Ursprungsgeschichte des Weltbegriffs, hält diese Ursprungsgeschichte und damit den Weltbegriff selber (die „Sünde der Welt“) reflexionsfähig.
    Die staatlich organisierte Anerkennung des Privateigentums ist der logische Grund der Entfaltung der Raumvorstellung, der „subjektiven Formen der Anschauung“. Der Ursprung und die Entfaltung der mathematischen Naturwissenschaft sind in die Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der staatlichen Institutionen verflochten.
    Der Levinassche Satz über die Attribute Gottes, die nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, gilt auch in der umgekehrten Anwendung (als Grundlage der Kritik der Idolatrie): Der Gott des Anklägers ist der Ankläger, der des Richters ist der Richter. Der Götzendienst war die erste projektive Verkörperung des Rechtfertigungszwangs – sein Preis war die Schicksalsidee -, das begriffliche Denken die zweite.
    Isolationshaft: Mit der Vergesellschaftung von Herschaft ist der horror vacui zu einem Instrument des Terrors geworden.
    Der Name der Barbaren gehört zur Präventivideologie des antiken Imperialismus, der der Wilden zur Präventivideologie des modernen Kolonialismus.
    Die Habermassche Intersubjektivität gründet in der Abstraktion vom Gesicht, sie sperrt das Subjekt ein ins Für-sich-Sein des Nebeneinander, in dem alle nur Objekte für einander sind. Darin gründet sein Universalismus, ein Universalismus der Theorie, gegen den die Theologie den Universalismus der Lehre setzt.
    Die Leugnung des Gesichts ist der Preis für die Anerkennung der schlechten Unendlichkeiten der subjektiven Formen der Anschauung.
    Hat der Rock aus Fellen, den Gott den ersten Menschen zur Bedeckung ihrer Blöße gab, etwas mit den Schuppen der Fische zu tun, die gegessen werden dürfen? Wie wird die Haut des Leviatan und des Behemoth im Buch Hiob beschrieben?
    Zum Menschensohn auf den Wolken:
    – Erscheint der Menschensohn nicht an der Stelle, an der bei Noe der Bogen in den Wolken stand?
    – Sind die Wolken nicht die Manifestation der Herrlichkeit Gottes am Tag (die in der Nacht als Feuersäule erscheint)?
    Hat Adornos „Eingedenken der Natur im Subjekt“ etwas mit dem zu tun, was Schelling in den Weltaltern die „Demut der Materie“ genannt hat?
    Himmel und Erde: Bäume ziehen ihre Lebenskräfte nicht nur aus der Erde, sondern ebenso auch aus dem Himmel.
    Was dem Bischof sein Kreuz, ist dem Arzt sein Stethoskop. Und warum müssen Richter und Priester bei ihrer Tätigkeit sich verkleiden?
    GSG 9: Die Autonomen des Staates.
    Sollte nicht auch die raf einmal überlegen, ob und in welchem Maße sie zum Lehrmeister dieses Staates geworden ist? Die einzige Waffe, gegen die der Staat ohnmächtig ist, ist die der Reflexion.
    Es sollte nicht vergessen werden, daß das Recht (wie im Auschwitz-Prozeß) auch als Instrument der Aufklärung genutzt werden kann. In Staatsschutzprozessen ist es zu einem Instrument der Gegenaufklärung geworden. Die Gründe sind analysierbar.
    In jeder Verurteilung steckt ein Keim der Paranoia, der nur durch Reflexion unschädlich zu machen ist. So wie ein Gericht keinen Beschluß fassen dürfte, bevor es nicht der Selbstaufklärungspflicht nachgekommen ist (einer Pflicht, die der 5. Senat nachweislich verletzt hat, als es Hubertus Janssen als einen, „der sich selbst als Pfarrer bezeichnet“, bezeichnete). Zur Selbstaufklärungspflicht eines Gerichts, scheint mir, gehört auch der erkennbare Wille und die Fähigkeit, sich in den Angeklagten hineinzuversetzen. Wer das vorab verdrängt, macht den Angeklagten zum Feind und begibt sich selbst der Möglichkeit, zu einem objektiven Urteil zu gelangen. Würde es nicht auch zu den Selbstaufklärungspflichten des Gerichts gehören, wenn es schon eine Anklage zuläßt, die den Vorwurf des Mords und des versuchten Mords (an Newrzella u.a.) mit beinhaltet, daß die Umstände der Todesschüsse in Bad Kleinen insgesamt aufgeklärt werden? Wenn ein wesentlicher Teil des Geschehens durch Gerichtsbeschluß von der Beweiserhebung ausgeschlossen wird, heißt das nicht, daß das Gericht sich selbst von seiner Aufklärungspflicht entbindet? Erklärt hiermit nicht das Gericht, daß es in diesem Punkte an der Wahrheitsfindung nicht interessiert ist?

  • 29.12.95

    Bekenntnislogik ist Stellvertreter-Logik (mit der Opfertheologie als Schuldverschubsystem). Hierzu ist Joh 129 in der Tat ein Schlüsseltext (Ersetzung des Nachfolgegebots durch das theologische Konstrukt der „Entsühnung der Welt“).
    In den gleichen Zusammenhang gehört das Paulus-Wort, daß durch das Gesetz die Sünde gekommen sei, das nur durch die Bekenntnislogik zur Grundlage der Rechtfertigungslehre geworden ist. Bezieht es sich nicht auf die vorausliegende Transformation des Gebots ins Gesetz, in der die Bekenntnislogik gründet (auf das gemeinsame Pflügen von Ochs und Esel)?
    Die Transformation des Gebots „Du sollst nicht töten“ in ein Gesetz läuft auf die Verurteilung des Mörders hinaus.
    Hegel hat einmal auf die Veränderung des Krieges (und in der Konsequenz dieser Veränderung auf die des Staates) durch die Erfindung der Fernwaffen (die technische Perfektionierung von Pfeil und Bogen durch die Erfindung des Pulvers: durch Kanone und Gewehr) hingewiesen, die den Feind endgültig aus der Konstellation des Angesichts herausgenommen, das Töten im Krieg zu einem abstrakten Vorgang gemacht hat: Das Töten ist zu einem technischen Vorgang geworden. Die Erfindung des Schießpulvers hat den realen Feind durch das Feindbild (und die Barbaren durch die Wilden) ersetzt. Die gleiche Logik (die Logik der Verdrängung des Angesichts und des Schreckens) liegt der „Erfindung“ der Gefängnisse, der Irrenanstalten und der Schlachthäuser zugrunde.
    In Auschwitz wurde sowohl technisch-industriell als auch von Angesicht zu Angesicht getötet. Himmler: „… und dabei anständig geblieben zu sein“.
    Ist der „Hinterhalt“ (die strategische Form der List) zusammen mit Pfeil und Bogen (und sind beide zusammen mit dem Staat) erfunden worden? Gibt es nicht biblische Geschichten, die diese Beziehung dokumentieren (Zusammenhang mit dem „Bogen in den Wolken“)?
    Nach 2 Sam 1 läßt David den Amalekiter töten, der (im Widerspruch zu der Darstellung in 1 Sam 31) bekannte, er habe Saul getötet. „Dein Blut über dein Haupt! Denn dein eigner Mund hat wider dich gezeugt, da du sprachst: Ich habe den Gesalbten des Herrn getötet.“ (Vgl auch 2 Sam 4: Die Ermordung Isbaals durch Baana und Rechab, die Söhne Rimmons aus Beeroth, und deren Tötung durch David.)
    In 2 Sam 5 übersetzt nur Riesler mit „die Dunklen und die Blonden“, während die Zürcher Bibel, aber auch Zunz mit „die Blinden und die Lahmen“ (und Buber mit „die Blinden und die Hinkenden“) übersetzen.
    Steht nicht das Prophetenwort „Mein ist die Rache, spricht der Herr“ gegen die Instrumentalisierung der Rache durch den Staat, durchs Recht? (Und ist nicht die Diskriminierung dieses Worts, die es als Beweis für einen „altorientalischen Rachegott“ nimmt, nur ein Mittel, die Erinnerung an die staatskritischen Elemente der Prophetie zu verdrängen: Die Rache soll das Monopol des Staates bleiben. Aber genau das ist das Ursprungsmotiv der Judenfeindschaft und des Antisemitismus.)
    Was geht in den Köpfen vor sich, wenn die Polizei Bewohner der Slums in Montevideo festnimmt und zwingt, durch den Slum zu laufen und zu rufen „Hoch lebe die Polizei“?
    Oder: Was ist in der Ursprungsgeschichte der Kirche passiert, als sie den Kreuzestod Jesu instrumentalisiert, ihn zur Grundlage der Opfer- und Sakramententheologie gemacht hat?
    Und was geht hier vor, wenn in deutschen Staatsschutz-Verfahren die Angeklagten generell zu Feinden werden?
    Muß nicht jeder Befreiungskampf heute auch ein Kampf gegen bestimmte Formen der Logik sein: gegen jene Formen der Logik, die verhindern sollen, die Folgen des eigenen Tuns noch wahrzunehmen?
    Die Grenze zwischen Offenbarung und Mythos ist identisch mit der Grenze, die die Schuld von der Sünde trennt. Jesus hat „die Sünde der Welt“ auf sich genommen, nicht die „Schuld der Welt“ hinweggenommen. Die Bemerkung Emmanuel Levinas‘, daß alle Gewissensprobleme (man könnte auch sagen: alle Schuldprobleme) apriorische Probleme sind, hängt hiermit zusammen.
    Die subjektiven Formen der Anschauung haben die Welt „verurteilt“ (dadurch ist die Welt zur Welt geworden). Sie haben die Logik des kopernikanischen Systems zu einer apriorischen Logik gemacht. Die Bedeutung der speziellen Relativitatstheorie Einsteins liegt darin, daß sie die verurteilende Gewalt des Systems auf das System selber angewandt hat: daß sie es verurteilt hat.
    Gegenständlich, stillgestellt, ist das Vergangene nicht an sich, sondern nur für den, für den es vergangen ist. Die Objektivität der Vergangenheit ist in sich selber subjektiv vermittelt, zu ihren Konstituentien gehört der Akt der Objektivierung (wie die Geschichtsschreibung zur Geschichte). Mit dem Fortschreiten der Geschichte ändert sich nicht nur unser Blick auf die Vergangenheit, sondern es ändert sich die Vergangenheit selber (die allein durch unsern Blick, durch unsere Erinnerung, Sein gewinnt). Der Weltbegriff und die ihn konstituierenden subjektiven Formen der Anschauung leugnen diese Veränderung. Wirkliche Objektivität gewinnt die Vergangenheit nur im Licht der Erlösung, der Idee der Auferstehung.
    Das Ideal einer objektiven, die Tatsachen ein für allemal feststellenden Geschichtsschreibung leugnet die Hoffnung, die auch die Toten mit umfaßt.

  • 19.12.95

    Jede Wunde ist eine Widerlegung der Geometrie.
    Das Absterben des Staates, der Organisation einer Gesellschaft von Privateigentümern, ist konkret das Absterben des Nationalstaates. Das aber verweist auf einen Vorgang, der identisch ist mit einem Prozeß im Kern der Erkenntnis, der Vernunft, des Wissens. Der Fokus, in dem das Bewußtsein und die Wirklichkeit auf einander sich beziehen, ist der Staat, der nur als Nationalstaat sich begreifen läßt, und auf den Hegels Wort von der Natur, die den Begriff nicht halten kann, sich beziehen läßt, wenn es nicht überhaupt hier seinen Ursprung hat. Die anorganische Natur, auf die der Staat als organische Lebensform, als Organismus, sich bezieht, ist die Ökonomie.
    Das Absterben des Staates ist der Grund des Absterbens der Vernunft. So hängt die Fundamentalontologie mit dem Faschismus zusammen.
    Der biblische Schöpfungsbericht läßt auch als Ursprungsgeschichte der der staatlich organisierten Objektivität sich begreifen (ist nicht die erste Natur durch die zweite vermittelt?). Zum dritten Schöpfungstag: Das Land (auch ein Synonym für den Staat), der feste Boden unter den Füßen, hängt mit dem Grund der Ökonomie, der Währungshoheit und dem Gewaltmonopol des Staates zusammen. Blut und Boden war nicht zufällig eine faschistische Parole. Das Land ist die Nation, das Meer der Inbegriff dessen, was draußen ist, des Fremden. Was bedeuten in diesem Kontext die biblischen Hinweise auf die „Inseln“ (im Kontext der Genealogie Japhets), und hängt hiermit das apokalyptische Wort, daß das Meer am Ende nicht mehr sein wird, zusammen?
    Das „Gegebene“ und das „Es gibt“: Ist nicht der Gebende, das Subjekt des Gebens, der Staat: der Staat, der die Welt eigentumsfähig macht (vgl. die Beziehung von Sein und Meinen)?
    Zur Kritik der Deutschlehrer-Frage „Was hat der Dichter damit gemeint?“: Die Objektivität der Wahrheit ist eine durch die Reflexion der Sprache vermittelte; deshalb ist sie niemals Gegenstand des Meinens.
    Wenn die Ökonomie das Meer ist (vgl. Apk), hat dann das Recht etwas sowohl mit dem Sand am Meer als auch mit den Sternen des Himmels zu tun?
    Während die Bäume die Erkenntnis repräsentieren, repräsentieren die Tiere die Stämme, Völker, Sprachen und Nationen.
    Was passiert in einer Welt, in der die Nation ihre identitätskonstituierende Kraft verliert (vgl. Bosnien)?
    Herrschaftskritik und Fähigkeit zur Schuldreflexion gehören zusammen; ihre Trennung begründet das Schuldverschubsystem, den (nationalen ebenso wie den individuellen) Egozentrismuis. Nur in diesem Kontext läßt der Verblendungszusammenhang, der im Rechtfertigungszwang gründet, sich auflösen.
    Das Bekenntnis ist die durch den Rechtfertigungszwang vermittelter (und entstellte) Gestalt der Wahrheit.
    Turmbau zu Babel: Die Sprachen wurden verwirrt, als die Nation als Exkulpationsagentur sich konstituierte. Diese Exkulpationsagentur (und ihre Logik, die Bekenntnislogik) trägt patriarchale (phallische) Züge; ihr Bild ist der Turm.
    Rohe Natur: Daß die Natur den Begriff nicht halten kann, heißt u.a., daß sie im Kontext des Begriffs als verurteilte erscheint, daß sie ähnlich wie der Verbrecher, der in den Knast gesteckt wird, aus der Herrschaftsordnung des Begriffs herausfällt, zum reinen Objekt der Gewalt wird.
    Die Empfindlichkeit, mit der Politiker heute auf den Satz „Soldaten sind Mörder“ (oder auch, was damit zusammenhängt, auf das Kruzifix-Urteil des BVG) reagieren, rührt daher, daß nicht die „Ehre der Soldaten“ angegriffen wird, sondern der Staat als die das Tun der Soldaten (oder auch der Staatsanwälte, der Richter) exkulpierende Macht. Der Staat ist eine Mordmaschine.
    Geld macht sinnlich: Diese Sinnlichkeit ist das den Organismus des Staates belebende und dirigierende Prinzip. Dem Bilde der „rohen Natur“ liegt die Logik des Geldes zugrunde.
    Die Konstellation „Völker, Stämme, Sprachen und Nationen“ taucht in der Johannes-Apokalypse auf; sie zitiert eine Stelle aus den toledot, den Genealogien Japhets, Hams und Sems (Gen 10). Im Falle Japhets, mit dem Hinweis auf die „Inseln“, in abweichender Reihenfolge. Bei Daniel (und an einigen Stellen in der Apk) fehlen die Stämme? Wie sieht das bei den Apokryphen aus?
    Das Gelächter Pharaos: Der ungeheuerliche, blasphemische Zynismus des antisemitischen Liedverses „die Wellen schlagen zu, die Welt hat Ruh“. Hier wird der Exodus widerrufen; den Beweis des Widerrufs hat Auschwitz geführt.
    „Der Mensch“ (der Jude, der Asylant, der Ausländer): Der Kollektivsingular ist ein Produkt des Schuldverschubsystems. Indem es die Gattung schuldig spricht, sie in Kollektivhaft nimmt, meint sie den Inbegriff des Andersseins, der alle anderen mit einschließt, den Sprechenden aber ausnimmt; die gleiche Logik liegt dem Massenbegriff zugrunde.
    Das Geld als Instrument der Vergesellschaftung von Herrschaft und sein genetischer Zusammenhang mit dem Phänomen der Schuldknechtschaft.
    Das Gefühl, daß die Theologie mit den Naturwissenschaften nicht koexistieren kann, findet eine Bestätigung in dem „tu es Petrus, et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam“, das mit der Verheißung verknüpft ist: „und die Pforten der Unterwelt werden sie (sc. die ecclesia) nicht überwältigen“ (Mt 1618). Die Unterwelt, das Totenreich, das wäre die vollendete Vergangenheit, der Grund einer Gegenwart, die als Präsens auf der Grundlage der verdrängten Vergangenheit sich konstituiert. In den Naturwissenschaften nimmt der Prozeß dieser Verdrängung (die Hegelsche Arbeit des Begriffs) den Schein einer bestehenden Welt an. Dieser Schein ist das Produkt einer unvermeidbaren kollektiven Verdrängung, deren Agent in den Subjekten die Bekenntnislogik ist (und erst daraus abgeleitet die subjektiven Formen der Anschauung, mit der Form des Raumes im Kern: die Bekenntnislogik geht der Ausbildung und Entfaltung der subjektiven Formen der Anschauung voraus, sie bleibt in ihnen erhalten, wird durch sie automatisiert und ist in ihnen bewußtlos wirksam und tätig). Die Konstituierung des Inertialsystems, in dem die subjektiven Formen der Anschauung sich vergegenständlichen, ist der Versuch, die Pforten der Unterwelt zu schließen.
    „Was bedeutet dieses Leid der Unschuldigen? Zeugt es nicht von einer Welt ohne Gott, von einer Erde, auf der allein der Mensch das Gute und das Böse mißt? Die einfachste Reaktion wäre, auf Atheismus zu erkennen. … Doch mit welch borniertem Dämon, welch merkwürdigem Zauberer habt ihr denn euren Himmel bevölkert, ihr, die ihr ihn heute für verödet erklärt? Und weshalb sucht ihr unter einem leeren Himmel noch eine vernünftige und gute Welt?“ (Levinas: Die Thora mehr lieben als Gott, in Schwierige Freiheit, S. 110)

  • 26.11.95

    Gegen Derrida: Der Benjaminsche Text bietet keinen realen Anlaß, im Begriff der „göttlichen Gewalt“ die Endlösung, den Holocaust, Auschwitz wiederzuerkennen. Diese Assoziation wird im Gegenteil durch eine genaue Lektüre des Textes definitiv ausgeschlossen. Was die Beziehung herstellt, ist ein Verfahren, zu dessen Kritik Levinas das durchschlagende Stichwort gegeben hat, als er bemerkte, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen. Die Kontamination der göttlichen mit der mythischen Gewalt, die der Derridaschen Assoziation die Basis liefert, ist das Werk Derridas, nicht Benjamins (in dessen Text er sein Verfahren dann hineinprojiziert), wenn er explizit theologische Texte Benjamins, die der Levinasschen Forderung genügen, zurückübersetzt in den Indikativ (das gleiche Verfahren gehört übrigens zur christlichen Begründung und Ausgestaltung des Dogmas, der Orthodoxie, und markiert deren Differenz zur Wahrheit).
    Hilfreich zum Verständnis ist die Benjaminsche Unterscheidung von Ausdruck und Mitteilung. Wenn man sie auf die Derridasche Interpretation des Benjaminschen Textes anwendet, wird man schnell gewahr, daß mit der Übersetzung in den Indikativ das, was bei Benjamin sich ausdrückt, in eine Mitteilung umgeformt wird. Diese Umformung ist eine der Instrumentalisierung, die Rückübersetzung der Offenbarung in den Mythos (eine Übersetzung, die der Weltbegriff gleichsam automatisch leistet: der Weltbegriff ist der Inbegriff der transzendentalen Logik der Instrumentalisierung der Wahrheit und selber das Instrument der Zerstörung des Namens).
    Wenn Derrida dem Benjaminschen Text hätte gerecht werden wollen, hätte er zumindest auf die zentrale Rolle des Satzes „Du sollst nicht töten“ in diesem Text eingehen müssen sowie darauf, daß die Idee der göttlichen Gewalt deren Instrumentalisierung schon im Ansatz ausschließt. „Mein ist die Rache, spricht der Herr“, und die einzig legitime Konsequenz aus der Idee der göttlichen Gewalt wäre es gewesen, sie auf die Täter des Holocausts, in keinem Falle aber auf ihre Tat zu beziehen. Zu den letzten Manifestationen des katholischen Volksglaubens in Deutschland, bevor er endgültig ins Blasphemische sich aufgelöst hat, gehörte unmittelbar nach dem Krieg die Angst: Das wird sich einmal rächen.
    Wenn Auschwitz eine theologische Bedeutung hat, dann die, daß es der Instrumentalisierung des Kreuzestodes Jesu, und damit der Opfertheologie, der Bekenntnislogik, dem Dogma und der verdinglichten Orthodoxie (der Konfundierung der Theologie mit dem Weltbegriff), endgültig den Boden entzogen hat.
    Die Benjaminsche Unterscheidung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt rührt an den Grund der Unterscheidung von Natur und Welt, die als Totalitätsbegriffe im Erkenntnisprozeß genau diese Funktionen: die Bindung der Erkenntnis ans Urteil, abdecken. (Die Geschichte der Naturerkenntnis ist die ins Innere transformierte Fortsetzung der heroischen Gründungsgeschichte des Staates und der Zivilisation, und der Naturbegriff selber das Korrelat und die Stütze des Gewaltmonopols des Staates.)
    Die Polizei ist das Paradigma des Hoheitlichen (der Repräsentation der staatlichen Gewalt). Sie gehört zur staatlichen Verwaltung wie das Militär zur Nationalökonomie. Stammt nicht der Name der Polizei aus den Anfängen der Verwaltungswissenschaft?
    Rührt nicht Walter Benjamins These vom mythischen Charakter des Rechts an den Grund des Prinzips, demzufolge Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist? Die Aufnahme der Gemeinheit in den Kanon strafrechtlicher Tatbestande hätte die Selbstauflösung des Rechts zur Folge. Genau hier wird deutlich, weshalb der Benjaminsche Begriff der göttlichen Gewalt niemals auf die Endlösung Anwendung finden kann. Auschwitz hat das Recht durch Reduktion auf ihren Gemeinheitskern (auf den Kern der rechtsbegründenden und -erhaltenden mythischen Gewalt) zerstört, der Begriff der göttlichen Gewalt hingegen zielt auf die Auflösung des Rechts durch Zerstörung seines Gemeinheitskerns. (Das Jüngste Gericht ist der Widerpart des Hegelschen Weltgerichts: das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht.)
    Aus dem gleichen Grunde wäre abzuleiten, daß der Antisemitismus niemals als Anwendungsfall des Rassismus oder des Vorurteils sich begreifen läßt, sondern nur als deren Wurzel.
    Das Obszöne an den raf-Prozessen ist der offene Gebrauch, den Gericht und Bundesanwaltschaft vom Gewaltmonopol des Staates machen. In der Konsequenz dieses Verfahrens liegt es, daß die Angeklagte nur noch als Feind wahrgenommen wird. (Die Verteidung wird im Lichte des Grundsatzes wahrgenommen: Wer sich verteidigt, klagt sich an.) Hier gibts nicht nur keine „Waffengleichheit“ mehr, sondern hier geht die Vorverurteilung soweit, daß Verteidung und Besucher apriori zur Sympathisanten-Szene gezählt werden.
    Gehören nicht die drei Formen des gewaltsamen Todes im Neuen Testament zusammen: die Enthauptung des Täufers, die Kreuzigung Jesu und die Steinigung des Stephanus?
    Sind der Orion und die Plejaden die Repräsentanten des Tierkreises und der Planeten am Fixsternhimmel? Und auf wen bezieht sich das Binden, und auf wen das Lösen (vgl. Hiob 3831 und 99)?
    Kinder haften für ihre Eltern: Der biblische Satz „Wenn dein Sohn dich fragt …“ bezieht sich auf die Weitergabe der Lehre vom Vater auf den Sohn, der 68er Satz „Wenn meine Kinder mich einmal fragen …“ dagegen auf den Rechtfertigungszwang, unter dem das Bewußtsein in Deutschland seit dem Ende des Faschismus steht. Dieser Satz gehört zu dem Schwarzen Loch, das der Faschismus erzeugt hat, das die Lehre nur noch in sich hereinsaugt und ihre Vernichtung befördert, aber nicht mehr ausstrahlt.
    Holgers Waschsalon: Sind heute nicht alle religiösen Positionen besetzt von Gruppen, die die Religion als Exkulpationsmaschine (als Hilfe, ihre Schuldgefühle loszuwerden, als synthetische Kuschelecke) brauchen? Dem hat die Theologie schon seit der Zeit der Kirchenväter vorgearbeitet. Aber konvergiert nicht dieser Exkulpationstrieb auf eine ebenso erschreckende wie verhängnisvolle Weise mit der Tendenz, die Religion zugleich in eine Religion für andere umzuformen: in ein Instrument der Vergesellschaftung von Herrschaft?
    Creatio mundi ex nihilo: Produkt einer projektiven Erkenntnislogik, die eigentlich auf ein Stück Urgeschichte des Kapitalismus sich bezieht, auf die Vorgeschichte der Kreditschöpfung der Banken? Die Risiken der Banken sind die Risiken der Sparer, die Risiken der Unternehmer sind die Arbeitnehmer, deren Arbeitsplatz auf dem Spiel steht, und die Risiken des Krieges sind die der Bevölkerungen, deren Anteil an den Opfern der Kriege den des Militärs inzwischen weit übersteigen. Die Risiken der Entscheidungen haben heute nicht mehr die zu tragen, die sie treffen, sondern die, für die sie getroffen werden (Anmerkung zu den Begriffen Verantwortung und Repräsentation).
    „Soll aber der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden, dann muß er zuvor lernen, im Namenlosen zu existieren“ (Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 150, zitiert nach Derrida, Die Schrift und die Differenz, S. 208). Die Begründung ist einfach: Weil das Sein den Namen löscht, alles gleichnamig macht. Wenn Derrida in diesem Zusammenhang auf die Kabbala verweist (auf die „unaussprechbare Möglichkeit des Namens“), so weiß er nicht, wovon er redet. Das Ziel der Kabbala war die Heiligung des Gottesnamens, während die Ontologie seit je darauf abzielte, den Gottesnamen zu tilgen.
    War die Ontologie (das „Sein“: die Installierung des Urteils) das Schwert, mit dem Alexander den gordischen Knoten durchschlagen hat?

  • 22.10.95

    Der Ursprung des (prosaischen) Handels ist das Ende der (heroischen) Tat. Im Handel durchdringen sich Aktiv und Passiv, Handeln und Erleiden: Sie neutralisieren sich wechselseitig, der Handelnde wird gehandelt. Zu den ersten Handelswaren gehörte der Sklave (Ursprung des Handels im Raub, der Eroberungspolitik in den nomadischen Razzien, des Tauschprinzips in der Schuldknechtschaft).
    Das pragma bezeichnet das Objekt des Handelns, das Ding ist das Objekt des Gerichts. Was bedeutet und auf welchen Ursprung verweist der Begriff der res (wie ist die polis zur res publica geworden)?
    Im Übergang von der griechischen zur lateinischen Sprache haben – wie vor allem am Begriff der Natur sich nachweisen läßt – die Bedeutungen, die Konnotationen der Begriffe sich verändert. Deshalb ist die lateinische Theologie der griechischen weder sprachlich noch inhaltlich kompatibel. Tertullian, der die Begriffe der lateinischen Theologie geschaffen hat, hat diese Begriffe der griechischen Metaphysik entnommen und in die Sprache der lateinischen Rechts übersetzt. Waren Tertullian und Augustinus die ersten Scholastiker?
    In der griechischen Sprache war die Erinnerung noch präsent, daß die Natur, ihre Gegenständlichkeit, nicht einfach nur vorgefunden, sondern auch sprachlich erzeugt wird, erst im Lateinischen, in dem die Bedeutung des Naturbegriffs von der Zeugung auf die Geburt sich verschiebt, tritt der Staat als zeugende (als rechtsetzende und -garantierende) Gewalt zwischen die Natur und das erkennende Subjekt, das sie dann nur noch passiv hinnehmen kann, zur reinen Rezeptivität (die in der augustinischen Gnadenlehre ihren theologischen Ausdruck findet) erstarrt. Mit der Übersetzung aus der griechischen in die lateinische Sprache wird das symbolische Element fortschreitend neutralisiert, aus der theologischen Erkenntnis eliminiert; es wird durch eine „Wörtlichkeit“ ersetzt (vgl. Augustinus: „De Genesi ad Litteram“), die am Ende zur sprachlogischen Quelle des Fundamentalismus geworden ist.
    Der Ursprung der Sexualmoral, ihrer Privatisierung, ist eine Folge der Änderung im Naturbegriff: Mit der Verdrängung des Zeugungsbegriffs, der nicht zufällig in der Trinitätslehre wiederkehrt, wird das politische, herrschaftskritische Moment aus dem biblischen Begriff der Unzucht herausgebrochen, zugleich theologisch neutralisiert; seitdem ist die Sexualmoral zu einem nützlichen Instrument der Herrschaftssicherung geworden. (Vgl. die kirchliche Entfaltung der lateinischen Theologie in der devotio moderna, in der Ursprungsgeschichte von Zölibat, Ohrenbeichte und Fegfeuermythos, in der Scholastik.)
    Kirchengeschichtlich fallen die Anfänge dieser Geschichte mit dem Ende der Märtyrerzeit zusammen: Die geschlechtsspezifische Aufteilung der Heiligen in confessor und virgo (in den Bekenner, der die Schuld der Zeugung verdrängt, und die Jungfrau, die sich von der Befleckung durch die Zeugung rein erhält) war die erste Manifestation der Bekenntnislogik, die in der Dogmenentwicklung sich entfaltet hat. Seitdem kann das Symbolische mit dem Wörtlichen nicht mehr zusammengebracht werden, wird der Indikativ zu Lasten des imperativen Gehalts der Attribute Gottes zum Medium der Theologie, wird die Theologie zur Theologie hinter dem Rücken Gottes: Ursprung des Nominalismus.
    Hatte die Schlange nicht recht, als die sagte: Wenn ihr von diesem Baum essen werdet, werdet ihr sein wie Gott? Sie sagte „wie Gott (Elohim)“, nicht „wie der HERR (JHWH)“. Drückt nicht in der Beziehung der Gottesnamen Elohim und JHWH die Beziehung von Katastrophe und Rettung (oder das Gereuen und die Umkehr Gottes) sich aus? Aber sind nicht im Werk der Elohim die Elemente der Rettung vorgebildet (deren Erkenntnis erst mit Auschwitz sich uns endgültig verschlossen hat)?
    Der Rachetrieb entspringt nicht unmittelbar am Unrecht, das mir selbst widerfährt, sondern in erster Linie an dem Unrecht, das mein Kind, meine Eltern, meine Frau, meine Geschwistern trifft. Im Nationalismus wird dieser Rachetrieb vergesellschaftet, das Volk („wir Deutsche“) zur Schicksalsgemeinschaft, an der er sich entzündet. Die Delegation dieses Rachetriebs an den Staat löst ihn nur zum Schein, macht ihn in Wahrheit unauslöschbar, zum Wurm, der nicht stirbt. Der Rachetrieb begründet das Gewaltmonopol des Staates, das die Geschichte der Aufklärung seit ihren Anfängen verhext.
    Die Personalisierung, das Sündenbockdenken, das nach den Schuldigen sucht, um sich zu entlasten, opfert die Masse, die sie zu vertreten vorgibt.
    Theologie im Angesicht Gottes sprengt mit den subjektiven Formen der Anschauung die Fesseln der Ästhetik: die Gewalt des Mythos.
    Wer meint, ein Rechtsanwalt sei dem Recht des Angeklagten verpflichtet, ist durch den Stammheim-Prozeß eines Schlechteren belehrt worden: Durch die Verpflichtung als „Organ der Rechtspflege“ ist er zu einem Hilfsorgan des Staatsanwalts geworden. Seitdem erwecken Staatsschutz-Verfahren den Eindruck, das in dubio pro reo gelte nur noch fürs Gericht, nicht mehr für die Angeklagten. Seitdem finden diese Prozesse kein ernsthaftes öffentliches Interesse mehr.

  • 2.10.1995

    Männlich und weiblich schuf er sie: Die Beziehung der Herrschaftsgeschichte zu Geschichte der Beziehungen von Männern und Frauen wird in der Erzählung vom Sündenfall symbolisiert: als Beziehung der Schlange zu den Menschen, zu Adam und Eva (als Beziehung des Neutrum zum Männlichen und Weiblichen). Die Identifikation des Männlichen mit der Herrschaft (die im Deutschen schon im Namen der „Herr“schaft sich ausdrückt, der auf den herrschenden Mann zurückweist, während im Lateinischen der dominus von dominare, der „Herr“ von seiner Tätigkeit, vom Herrschen, sich herleitet) hat ihren Ursprung in der verhängnisvollen Herrschaftsgeschichte der Moderne, zu der die Entfaltung der subjektiven Formen der Anschauung gehören wie auch die hierdurch vermittelte neue Beziehung von Begriff und Objekt. Durch die subjektiven Formen der Anschauung ist der Kelch zum Unzuchtsbecher geworden: die Beziehung von Begriff und Objekt, von Welt und Natur zu einem Bild der Geschlechterbeziehung. Die intentio recta ist ein phallisches Symbol (und der Turm von Babel, der „bis an den Himmel reicht“ ein Symbol der Religion als Instrument der Vergewaltigung des Himmels). Weshalb ist im Deutschen die Sonne weiblich und der Mond männlich? Löst sich das Problem des grammatischen Geschlechts im Zusammenhang mit der Lösung des Problems von Herrschaft und Geschlecht?
    Die intentio recta und die begriffliche Erkenntnis bedurften der Sexualmoral, um sie gegen ihre herrschaftskritische Reflexion abzuschirmen. Die Probleme dieses Verfahrens wurden übers Vorurteil abgefertigt: von der Ketzer- über die Hexenverfolgung bis Auschwitz.
    Der Indikativ, das Hinter-dem-Rücken, die Definitionsmacht, das Durch-die-Blume-Sprechen: Wie hängt das mit einander zusammen? Sind sie nicht Teil einer Kommunikation, die unter dem Bann der Herrschaft steht: Kommunikation als Gewinner-/Verlierer-Spiel. Dieses Spiel macht süchtig.
    Heute erhebt auch der Staat seinen Anspruch auf eine Privatsphäre, die die Öffentlichkeit nichts angeht. Nur, was einmal aus außenpolitischen Gründen notwendig war (im Kontext der nicht mehr rechtlich, sondern nur noch durch Diplomatie oder Krieg zu regelnden zwischenstaatlichen Beziehungen), ist heute zu einem Teil der inneren Organisation der Staaten geworden, als Mittel der Vermeidung und Abwehr der Entstehung naturhafter Verhältnisse im Innern. Schließt sich hier nicht der Kreis, der den Naturbereich des Privaten, die Sexualität, und den des Staates, sein Gewaltmonopol und dessen Institutionen, mit einander verbindet?
    Stammen nicht die Phantasien, die einmal in der Alchemie sich entfaltet hatten, aus dem Unzuchtsbecher?
    Die Pornokratie gehört (wie z.B. auch die Geschichte der Fälschungen im Mittelalter) zur Ursprungsgeschichte der kirchlichen Privatsphäre (zu der das Dogma und die Orthodoxie als Feigenblatt, hinter dem die Kirche seitdem ihre Nacktheit verbirgt, dazugehören). Die kirchliche Sexualmoral war seit je ein Mittel der präventiven und projektiven Abwehr.
    Der Kleinglaube ist der Glaube nach Abzug all dessen, woran die Kirche heute nicht mehr glauben kann, wenn sie als Herrschaftsinstrument überleben will.
    Was hat der gordische Knoten mit Rind und Esel zu tun? Hat nicht die Durchschlagung dieses Knotens (der Joch und Deichsel eines Ochsenkarrens miteinander verband) das Rind zum Esel gemacht, das Joch zur Last? Seit dem Ursprung der Großreiche haben alle das Joch, das ihnen mit der Reichsbildung auferlegt wurde, als Last zu übernehmen. Die Lösung des Knotens wäre die Befreiung vom Joch gewesen, mit seiner Durchschlagung (die den Weltbegriff begründete) wurde es verinnerlicht.
    Zur Fremdenfeindlichkeit heute: Handelt es sich vielleicht um die Umkehrung eines alten Verfahrens: innenpolitische Probleme mit Hilfe außenpolitischer (nationalistischer) Aktivitäten wenn nicht zu lösen, so doch zu verdrängen? Werden hier nicht Außenprobleme (das Ausland als Maßstab politischen Handelns) innenpolitisch abgeleitet? Verfassungsschutz, Staatsschutzverfahren, die neue Asylgesetzgebung gehören in diesen Zusammenhang.
    Das Recht insgesamt, insbesondere aber das Staatsschutzrecht, ist ein Instrument der gesellschaftlichen Naturbeherrschung.
    Die Kronzeugenregelung, die in Deutschland einmal mit dem Hinweis auf die organisierte Kriminalität eingeführt worden ist, wird nur in „Terroristen“-Prozessen, im Bereich des Staatsschutzrechts, angewandt. Der Übergang von § 129 zu § 129a war die Schiene, auf der das gelaufen ist. Er war nicht harmlos.
    Zeit ist’s: Die Thora wird als Lehre verfälscht, wenn das prophetische (und auch das typologische) Element herausgebrochen, unterdrückt wird.

  • 29.9.1995

    Wodurch unterscheidet sich die Tatsache vom Faktum? Das Faktum ist das Gemachte (factum), es verweist auf des Machen Gottes, einen Aspekt seines Schöpfungshandelns. Die Tatsache ist gleichsam eine hybride Form der res factae, das mythische Gegenstück hierzu: In der unerschaffenen Welt, die außerhalb jeder Beziehung zum Handeln Gottes sich konstituiert, gibt es nur noch die weltkonstituierenden Taten der Heroen (die Taten des Herakles).
    Tatsachen konstituieren sich in einer atheistischen Welt.
    Der Tempel unterscheidet sich von der Kirche dadurch, daß er nicht das Haus Gottes, sondern das Haus seines Namens ist, während die Kirche, die den verdinglichten Gott in ihren Mauern zu besitzen glaubt, sich selbst einen Namen machen muß, So ist sie zum „Turm, der bis an den Himmel reicht“, geworden. Der Pomp (die Adaptation der Herrlichkeit) ist das zwangsläufige Korrelat des eigenen Namens.
    Ist nicht die Herrlichkeit Gottes der Schrecken Isaaks? Isaak, Samuel und Johannes dem Täufer ist es gemeinsam, daß sie Kinder der Unfruchtbarkeit (Kinder, die ihren Eltern im Alter geboren wurden) sind. Isaak ist das aufgehobene Opfer, Samuel der Eröffner des Königtums in Israel und Johannes das Opfer des letzten Königs und der Vorläufer des Messias.
    Geschichtsphilosophie ist das Produkt der Übersetzung der Schrift in den Indikativ: Ihr entspricht die Zwangsvorstellung, es gebe einen Plan der Geschichte, eine „Heilsgeschichte“ (eine „Vorsehung“, die, indem sie das Prinzip der Geschichtsschreibung gleichsam nur umkehrt das Unglück der Geschichte nicht aufhebt, sondern es perpetuiert). Aber die Geschichte hat keinen Plan, zu ihren Elementen gehört der Zufall. Auschwitz war nicht „notwendig“, kein Teil eines „göttlichen Heilsplans“, sondern ein Werk des „Zufalls“ in der Geschichte, dessen Kräfte allerdings selber bestimmter geschichtlicher Bedingungen zu ihrer „Freisetzung“ bedürfen. Zu diesen Bedingungen gehören insbesondere Formen des Handelns, die von der inneren Notwendigkeit des Handelns (von der Verantwortung, von der Moral, die sich von selbst versteht) sich emanzipiert haben, die sich selbst zu einem Instrument des Zufalls gemacht haben. In die christliche Tradition ist der Zufall unter dem Namen des liberum arbitrium (der Wahlfreiheit) eingangen.
    Der Sabbat wird mit dem siebten Schöpfungstag und dem Exodus begründet: Bezieht sich der Satz, daß der Menschensohn „Herr des Sabbat“ ist, auch auf diesen Begründungszusammenhang?
    Der Bogen in den Wolken setzt den Wassern eine Grenze und eröffnet dem Feuer den Weg (vom brennenden Dornbusch über das Feuer vom Himmel zu den Feuerzungen des Geistes).
    Was haben die Wolken (in denen nach der Sintflut der Bogen erscheint) mit den Wolken, auf denen der Menschensohn erscheinen wird, und mit den Wolken der Zeugen zu tun (oder was haben der Bogen, der Menschensohn und die Zeugen miteinander zu tun)?
    Bezeugen kann man nur Vergangenes, eine Tat, eine Handlung, ein Geschehen. Hat die „Wolke der Zeugen“ (Hebr 121) etwas mit dem Begriff der Geschichte zu tun? Ist die im Spiegel ihrer Zeugnisse vergegenständlichte Geschichte die Wolke, in die nach der Sintflut der Bogen gesetzt ward und auf der der Menschensohn am Ende erscheinen wird?
    Haben die Wolken des Himmels etwas mit dem Geist über den Wassern zu tun?
    Haben die Donner (deren Stimme in der Apokalypse nicht ins Buch mit aufgenommen werden soll, aber auch die „Donnersöhne“, die Zebedäus-Söhne) etwas mit dem Brüllen JHWHs zu tun?

  • 26.9.1995

    Wie die subjektiven Formen der Anschauung, die persönliche Meinung, insbesondere aber wie die Gemeinheit konstituiert sich das Vorurteil im Kontext einer Logik, die die Kriterien der Beweisbarkeit durch die der Unwiderlegbarkeit ersetzt. Wer dieser Logik mächtig ist, gilt als schlau (oder auch als intelligent).
    Die subjektiven Formen der Anschauung haben sich hinter dem Rücken des Anschauens, als Referenzsystem der intentio recta, gebildet: Sie sind die Bewußtseinsspuren des Abstraktionsverfahrens, in dem der Begriff der Natur und der Objektbegriff sich bildeten. Das Abstraktionsverfahren selber ist ein gesellschaftliches: Sein Ursprung und sein Motor ist die Herrschaftsgeschichte, deren Beziehung zur Vergangenheit in ihm sich spiegelt. Die Distanz zum Objekt aber gründet in der Beziehung des Herrn zum Beherrschten; der Objektbegriff entspringt mit dem Für-anderes-Sein, in dem die Beziehung des Herrn zum Beherrschten als universale Reflexionsbeziehung sich entfaltet. Die Allgemeinheit dieser Reflexionsbeziehung wird im Weltbegriff zusammengefaßt.
    Die Differenz und die Beziehungen zwischen Mechanik, Gravitation und Elektrodynamik reflektieren das Verhältnis und die Beziehungen der drei Dimensionen des Raumes.
    Zum Bereich der Elektrodynamik gehört der Generator und die Fortpflanzung.
    Unser Verhältnis zur Krankheit ist wie das zur Armut von Elementen des Neids und der Schuldverschiebung durchsetzt. Keiner erträgt mehr, daß hier jemand Mitleid von uns fordert. Wir sind vom Selbstmitleid so besessen, daß wir kein anderes Mitleidsverlangen daneben mehr ertragen.
    Die Frage: Wo waren die Schutzengel der Kinder in Auschwitz, läßt sich mit dem Hinweis auf die Racheengel beantworten, von denen die Welt heute besessen ist. Wie anders wäre der unendliche Rachetrieb zu erklären, dem die Menschen heute sich ausliefern?
    Ist der Widersacher im Hofstaat Gottes der Engel der Geopferten?
    Als umgekehrtes Schuldbekenntnis ist das Glaubensbekenntnis die säkularisierte Sündenvergebung; nur so ist die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben zu begründen. Aber sind damit der Glaube und sein (durchaus apriorischer, aus seinen eigenen Prämissen ableitbarer) Inhalt nicht erst wirklich böse geworden? Die Logik dieser Lehre ist nur aufzubrechen durch die Aufnahme von Joh 129 ins Nachfolgegebot, zu der es keine Alternative mehr gibt.
    War nicht die katholische Eucharistielehre eine Gestalt der projektiven Verarbeitung dieses Nachfolgegebots? Die erste Gestalt dieser Verarbeitung war das Dogma, die Bekenntnislogik.
    Nicht den Zölibat „abschaffen“, sondern das Problem, das ihm zugrundeliegt reflektieren, es auflösen ins Weltproblem.
    Die Bemerkung, daß man sich zur Prophetie nur auf zwei Weisen verhalten kann: Entweder man ist selber Prophet, oder man ist ihr Objekt, gilt auch für die Historisierung der Prophetie, ihre Vergegenständlichung: Durch sie wird die Theologie, ohne es selbst wahrzunehmen, selber zum Objekt des prophetischen Urteils. Zur Aufforderung, selber Prophet zu werden, gibt es keine Alternative.
    Die benennende Kraft der Sprache ist von der Erkenntnis des Namens zu unterscheiden. Erst in der Erkenntnis des Namens löst der Name sich aus dem Schuldzusammenhang, in den das Benennen sich verstrickt. Das Benennen der Tiere durch Adam war durchaus ambivalent: „Aber für den Menschen fand er keine Hilfe, gegen ihn“ (Gen 220).
    Hat das Benennen der Tiere etwas mit dem Tierkreis zu tun, und das kreisende Flammenschwert des Kerubs mit dem Planetensystem? Liegt zwischen Tierkreis und Planetensystem die Vertreibung aus dem Paradies?
    Ist das Planetensystem das Prisma, das das Bild des Tierkreises erzeugt?
    Der astrologische Zusammenhang der Zeichen des Tierkreises mit den Namen der Planeten war das erste weltkonstituierende Kategoriensystem, das im ersten weltkonstituierenden Großreich, in Babylon, sich gebildet hat.
    Hat das Schwert des Alexander, mit dem er den gordischen Knoten durchschlagen hat, etwas mit dem kreisenden Flammenschwert des Kerubs zu tun?
    Babylon hat das Exil der Schechina begründet, und die Geschichte dieses Exils ist noch nicht zu Ende. Babylon lebt fort in Rom, in jeder Form des Caesarismus, im Dogma, in der Kirche.
    Welchen Stellenwert haben die exterritorialen Geschichten der Bibel: Das Buch Hiob ist nicht zu lokalisieren (es spielt irgendwo im Eroberungsbereich der Chaldäer), zu Jona gehört Ninive, zu Daniel Babylon (und Susa), zu Ester Susa?
    Abraham, der aus Ur in Chaldäa kommt, ist auf eine Weise mit Babylon verbunden, die sich invers auf das Verhältnis Josephs zu Ägypten bezieht. Hängt das Rätselwort Jesu: „Bevor Abraham ward, bin ich“, hiermit zusammen?
    Waigel: Wie hängt das Kruzifix mit der Währungsstabilität (mit der positiven Außenhandelsbilanz: dem Export der Armut in die Dritte Welt) zusammen?
    Apokalyptische Mittelstandspolitik: Der Staat füttert die Kuh, die er melken will, er schlachtet sie nicht. (Gibt es einen Zusammenhang mit dem hebräischen Opfer, liegt hier der Schlüssel fürs Verständnis der Opfertiere: Rind, Widder, Lamm, Taube?)
    Der Indikativ ist das Instrument der Verinnerlichung des Opfers und der Vergesellschaftung von Herrschaft. Das Opfer war seit je herrschafts- und somit weltbegründend.

  • 9.9.1995

    Ist das Licht ein Tunnel-Effekt und die endliche Lichtgeschwindigkeit eine Folge der Beziehung der Fortpflanzungsrichtung zu den orthogonal zugehörigen („raumzeitlichen“) Richtungen im Inertialsystem? Wird man nicht davon ausgehen müssen, daß der Blick von außen, seine verandernde Kraft, die Struktur der elektrodynamischen Gleichungen überhaupt erst konstituiert, daß diese nicht unabhängig davon bestehen (wobei dieses „von außen“ selber durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit vermittelt ist)? Oder anders formuliert: Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit erweist sich in diesem Kontext als konstitutiv für die Objektivität und die Realität der Elektrodynamik (und der dadurch vermittelten Mikrophysik) insgesamt: Übernimmt es im Hinblick auf diesen Objektbereich nicht die Funktion der subjektiven Formen der Anschauung, des Mediums, in dem auch das Inertialsystem sich noch gegen das Anschauen vergegenständlicht, verdinglicht, zu einem Objekt der Anschauung wird? Ist nicht mit der Lichtgeschwindigkeit (und den Konstanten der Mikrophysik: dem Planckschen Wirkungsquantum und der elektrischen Elementarladung) das Feuer zu einer Form der Anschauung geworden, zum objektivierenden Prinzip, aber zu einem, in dem die Beziehung zur Sprache verbrennt (die Sprache erlischt)?
    Enthält nicht die spezielle Relativitätstheorie den Beweis des Satzes, daß Rind und Esel nicht gemeinsam vor den Pflug gespannt werden dürfen? Hier (und nicht in der Mikrophysik) stößt die Physik erstmals auf einen Sachverhalt, der auch einer moralischen Anwendung fähig ist.
    Gründet der Korpuskel-Welle-Dualismus darin, daß es zu jeder Richtung im Raum zwei orthogonale Richtungen, und d.h. daß es zum „Licht“ einen doppelten Seiten-Anblick gibt? Hat nicht unter diesem Aspekt die Mikrophysik in der Tat etwas mit der Trinitätslehre (mit dem „doppelten Seitenblick“ als Bedingung der Vergegenständlichung Gottes) zu tun? Diese Beziehung aber ist für apologetische Zwecke nicht mehr verwendbar.
    Hat der Begriff der Zeugung in der Trinitätslehre etwas mit dem der Fortpflanzung des Lichts im Raum zu tun? Ist nicht der Sohn „Licht vom Licht“, zu dem das ungeheure Wort gehört: Das Licht kam in die Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht erkannt (Joh 15, vgl. auch 19f)?
    Die Physik bildet die Welt vor dem ersten Schöpfungstag ab: sie ist wüst und leer, und Finsternis liegt über dem Abgrund. So ist sie ein Beleg für den Satz: Ich bilde das Licht und schaffe die Finsternis. Aber ist nicht der erste Schöpfungsbericht die Umkehrung des zweiten: Was im ersten der Anfang ist: das Chaos und die Finsternis, ist im zweiten das Resultat: die gefallene Natur, die im historischen Objektivationsprozeß bewußtlos sich selbst begreift. Und sind nicht die beiden Elemente des Himmels (das Feuer und das Wasser) Reflexe dieser Beziehung von Anfang und Resultat, von Katastrophe und Rettung? Hat der Kerub mit dem Flammenschwert etwas hiermit zu tun?
    Die Beziehung der Begriffe Natur und Welt hängt mit der Trennung von Geschichte und Natur zusammen. Die objektivierte Natur ist der Boden, auf dem der Begriff der Geschichte sich entfaltet, sie ist zugleich der Riesen-Leichenberg, zu dem die Frage gehört, ob in seinem Anblick die richtige Gesellschaft überhaupt noch denkbar ist? Walter Benjamins Engel der Geschichte ist das Bild dieser Frage und das Gegenbild des Kerubs mit dem Flammenschwert.
    Kommunikationstheorie und Unzuchtsbecher: Heute vergewaltigt die Realität die Sprache.

  • 1.9.1995

    Haben die Pforten der Hölle etwas mit dem Tor, dem Ort der Versammlung und des Gerichts (mit der ecclesia), zu tun? War die agora das ins Innere der polis verlegte Tor, und entspringt der Handel dem Bereich des Gerichts?
    Die ecclesia, die Kirche, war eine säkulare, keine religiöse Institution, die Nachfolgerin der Versammlung am Tor. Wie weit klingt das im neutestamentlichen Gebrauch des Begriffs der ecclesia noch nach (insbesondere bei Mt, in der Apg und in der Off)? Das mulier taceat in ecclesia wäre dann nicht auf den sakralen Ort, sondern auf diese „Versammlung“ zu beziehen. Daß die Kirche dann Nachfolgerin des Tempels (mit Opfer und Allerheiligstem) geworden ist, läßt sich aus ihrem Ursprungsbegriff nur im Kontext ihrer kosmologischen (weltkonstituierenden) Funktion ableiten. Die Resakralisierung der Kirche, der neue Opferbegriff, war das Korrelat der Verzauberung der Welt, die das Objekt und die Voraussetzung der modernen Aufklärung war.
    Ecclesia wird in der Regel in der Apostelgeschichte mit Kirche, in der Johannes-Apokalypse hingegen mit Gemeinde übersetzt. Werden hier nicht Spuren verwischt? Seit diesem Präzendenzfall glauben Theologen und andere kirchliche Autoritäten (seit dem Ende des Faschismus auch Laien, an denen Adorno schon wahrgenommen hat, daß sie heute bereits so schlau sind wie früher nur ein Kardinal) den Autoren der Schrift vorschreiben zu können, was sie „eigentlich“ gemeint haben.
    Der Protestantismus hat aus der zum Tempel gewordenen Kirche eine Synagoge (den Ort einer neuen Nationalreligion) gemacht.
    Wann und auf welche Weise ist aus der Versammlung am Tor das synhedrion, der Hohe Rat, geworden? Hat nicht Pilatus wieder am Tor gesessen, mit der Versammlung als Chor? War das der Gründungsakt der Kirche?
    Der Weltbegriff begründet und sanktioniert den Konkretismus und die Personalisierung (Personalisierung und Konkretismus sind die Verführungen zur Sünde der Welt: die Kehrseite der Instrumentalisierung). Deren Kritik setzt die kritische Reflexion des Weltbegriffs voraus. Aber ist diese Kritik heute nicht versperrt? Was die Reflexion des Weltbegriffs verhindert, ist die Grenze zur Vergangenheit, die der Faschismus (als Instrument der Vergesellschaftung der Naturwissenschaften), der die Zukunft ausgelöscht hat, in Deutschland neu definiert hat. Dem Fluch der „Gnade der späten Geburt“ vermag keiner der Nachgeborenen zu entrinnen: gemeinsam mit der ebenso ungeheuerlichen Bekenntnislogik, die nur noch verurteilt, nicht mehr begreift, schirmt die Ungeheuerlichkeit dessen, was geschehen ist, diese Vergangenheit gegen jede Reflexion ab; diese Vergangenheit ist nur noch vergangen, der sich identifizierenden Erinnerung nicht mehr zugänglich. Das ist der letzte Sieg Hitlers.
    Die intentio recta ist in ihrem Ursprung durch die Internalisierung der Schicksalsidee, in ihrer modernen Gestalt durch die Ohrenbeichte, das Zölibat und das Konstrukt des Fegfeuers (die verzauberte Welt als Ursprungsort des Inertialsystems) vermittelt.
    Der Sabbat als Symbol der Lehre: Hat nicht der Sabbat (wie dann auch der Indikativ der Lehre) Gott von der Last des Imperativs befreit? Die Ruhe des Sabbats ist das Gegenteil der Friedhofsruhe (und der Indikativ der Lehre das Gegenteil des historischen Indikativs). Sind nicht die antisemitischen Grabschändungen ein apokalyptisches Symbol? Grabschändungen sind Mutproben im Anblick der Idee der Auferstehung der Toten, an die keiner mehr glaubt.
    Die kopernikanische Wende hat in der Natur die Friehofsruhe hergestellt (und mit dem Himmel die Erinnerung an den Sabbat zerstört).
    Kommt die Wendung „unter der Sonne“ noch an anderer Stelle, außerhalb des Buches Kohelet, vor, und was bedeutet sie (dazu gehört das „nichts Neues“, die Leugnung der Zukunft)?
    Haben die Sterne des Himmels etwas mit den himmlischen Heerscharen zu tun, und sind die Planeten die Wächter dieser Heerscharen (die Versiegelung des Abgrunds, aber auch der Schlüssel zum Abgrund)?
    Beerscheba: Schwurbrunnen und Siebenerbrunnen. Hat das etwas mit den Planeten zu tun?
    Ist der Bogen eine Spiegelung des Gewölbes an den Wolken?
    Das Moment der asymmetrischen Spiegelung aus seiner trinitarischen Gefangenschaft befreien. Ist die Trinitätslehre der Bogen in den Wolken am Himmel der Geschichte, der das Ende der Sintflut des mythischen Zeitalters anzeigt?
    Franz Rosenzweig hat einmal die Vermutung geäußert, daß, wenn ein Christ den Stern der Erlösung geschrieben hätte, er ihn in der Sprache des Neuen Testaments geschrieben hätte. Hier irrte R.: Das Neue Testament hat keine eigene Sprache, seine Sprache ist die des Alten Testaments, und nur wer diese wiedererweckt, bringt das Neue Testament zum Sprechen. Das Neue Testament ist kein Problem der Sprache, sondern eines der Logik der Schrift; deshalb ist es bis Hegel als Offenbarung der Trinitätslehre begriffen und erfahren worden.
    Die Trinitätslehre ist die Endlösung eines logischen Problems, aus dessen Bann wir nur mit Hilfe von Joh 129 werden heraustreten können. Voraussetzung wäre, daß Joh 129 ins Nachfolgegebot mit hereingenommen wird. Die Trinitätslehre ist die Ursprungsgestalt der Idee des Absoluten, und diese das Produkt der Selbstreflexion der Subjektivität im Unendlichen. Die Einheit des Absoluten (die in der Trinitätslehre durch die homousia garantiert wird) ist das Bild der Einheit des Subjekts (und deren erster Repräsentant der Monarch, der Kaiser Konstantin).
    Wenn die Beziehung von Vater und Sohn die einer asymmetrischen Spiegelung ist, welche Bewandnis hat es dann mit der Beziehung von Vater und Tochter, von Mutter und Sohn? Gibt es so etwas wie eine doppelt asymmetrische Spiegelung (Ergänzung der genealogischen durch die Geschlechterspiegelung)? Und liegt hier nicht das Problem und die Kraft der feministischen Theologie?
    Die Psychoanalyse war der erste Versuch, das Problem der doppelt asymmetrischen Spiegelung (am Beispiel der Hysterie) zu lösen.
    Verweist nicht der apokalyptische Unzuchtsbecher auf dieses Problem der doppelten Spiegelung, liegt hierin nicht die Differenz zum Zornes- und Taumelbecher (männlich und weiblich schuf er sie)?
    Liegt hier der Grund, weshalb die Frage des sexuellen Mißbrauchs von Kindern (real und in der öffentlichen Aufmerksamkeit) nach dem Krieg öffentlich geworden ist, öffentliche Relevanz gewonnen hat?
    Die Vater-Sohn-Beziehung (die Genealogie) war ein Konstrukt zur Stabilisierung des Zeitkontinuums (der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit), die Vater-Tochter-Beziehung sprengt das Zeitkontinuum. War die Tochter Zion die erste Reflexionsgestalt dieses Problems (und das Hohelied der Focus)? Vgl. die übrigen Tochter-Stellen (von den Töchtern Adams, den Menschentöchtern, über die Töchter Noes bis zu den Töchtern Jerusalems und Zions; vgl. auch den „einzigen Sohn einer Witwe“ und die Tochter des Jaïrus). Wann hat in der biblischen Symbolik die Tochter (Jerusalems oder Zions) die Gattin (JHWHs) ersetzt? Rührt das nicht an das Wer im Namen des Himmels, das Feuer?
    Waren nicht die Kirchenväter in der Regel die Söhne frommer Mütter (Basilius und Gregeor, Augustinus, auch Konstantin), während die Ordensgründer fromme Schwestern hatten (Benedikt, Franziskus)?
    Zu Basilius: Der Regenbogen ist auf die Vater-Sohn-Beziehung anwendbar, nicht auf die Vater-Tochter-Beziehung. Ist der Bogen ein Symbol des Patriarchats?
    Zur Trinitätslehre: Hat der Vater im Himmel und der Geist auf Erden den Sohn gezeugt? Wie aber kann dann der Geist „aus dem Vater und dem Sohne“ hervorgehen. Steckt darin nicht das Problem der doppelt asymmetrischen Reflexion, das Rätsel des Raumes, auf das die Trinitätslehre versiegelt ist? Die Form des Raumes ist das Instrument des Bildes, der Grund der Logik der Instrumentalisierung.
    Das tohu wa bohu (wüst und leer) ist eine asymmetrische Spiegelung, ein Bild der Vater-Sohn-Beziehung, während die Logik der Tochter-Beziehung auf den Geist verweist. Gibt es eine Hilfe zur Auflösung dieses Strukturproblems in der Apokalypse? Hängt die Rezeption der Opfertiere mit diesem Strukturproblem zusammen: Ist die Verdrängung des Stieres, des Rindes, eine Folge der Ersetzung des Namens durch die Vater-Sohn-Beziehung? Verweist nicht das Spottbild vom gekreuzigten Esel auf die Esel-Lamm-Beziehung, und kehrt nicht die Taube in der Gestalt des Geistes wieder?
    Das Tor/der Tor: Die Versammlung im Tor ist durch die Herrschaft Babylons zu einer Versammlung von Toren (idiotes) geworden.
    Gehört nicht zur Vorgeschichte des Buches Rut (Rut war eine Moabiterin) die Geschichte von den Töchtern Lots (die ihren Vater trunken machen, um die Generationenfolge sicherzustellen) und von Lots Weib (die im Anblick der Katastrophe zur Salzsäule erstarrt)?
    Ist die Magd des Herrn nicht die Gottesknechtin (ein Übersetzungsproblem ähnlich den sieben „Gemeinden“ in Asien, die eigentlich Kirchen sind)?
    Als Juda von der Schwangerschaft seiner Schwiegertochter Tamar erfuhr, sollte sie verbrannt werden (1 Mos 3824). Warum nicht gesteinigt? – Die Thora sieht in der Regel die Steinigung als Todesstrafe vor, nur in 3 Mos 2014 (wenn ein Mann eine Frau heiratet und ihre Mutter dazu, so ist das eine Schandtat), ebd. 219 (wenn sich die Tochter eines Priesters durch Unzucht entweiht: sie entweiht ihren Vater) und Jos 715 (wer im Besitze des Gebannten betroffen wird, den soll man verbrennen samt allem, was er hat) ist das Verbrennen vorgesehen.
    Die physikalische Unsterblichkeit, auf die selbst die Herder-Korrespondenz jetzt hinzuweisen sich gedrängt fühlt, wirft endlich das nötige Licht auf eine Idee des Absoluten, die an dieser Art der Aufhebung, der subjektlosen Erinnerung, der Ästhetisierung ihre Substanz hat. Die Idee der Unsterblichkeit bezieht sich nicht auf das mediale Überleben in einem Buch oder in einem Computer (die ebenso zerstörbar sind wie die physische Existenz der Menschen).
    Der Urknall hat mehr mit Auschwitz und mit Hiroshima (mit der Apokalypse) zu tun als mit dem Schöpfungsbegriff. Zu den Konstituentien der Vorstellung vom Urknall gehört die Logik der Spiegelung, die die virtuelle Zeitumkehr (als Grund der transzendentalen Ästhetik) mit einschließt: Der Urknall projiziert das Ende in den Anfang.
    Hat nicht das Vater-Sohn-Problem etwas mit der Gravitation, das Vater-Tochter-Problem mit der Elektrodynamik zu tun? Das würde ein Licht auf die Bedeutung der speziellen Relativitätstheorie werfen.
    Die „liebende Zustimmung Marias“ zum Foltertod ihres Sohnes am Kreuz (sh. Weltkatechismus) erinnert an den verordneten Stolz der Mütter, die beim „Heldentod“ ihrer Söhne im letzten Krieg nicht einmal mehr trauern durften. Das Vaterland erträgt keine Trauer über das, was es anrichtet.
    Wie würden wir diese Welt wahrnehmen, wenn es kein Fernsehen gäbe? Wer könnte sie ohne diese Dauerablenkung, diese organisierte Dauerverdrängung, noch ertragen?

  • 17.8.1995

    Last und Joch: Eine Differenzierung im Begriff des Begriffs. Wie hängen Last und Joch mit Hören und Sehen zusammen (mit Wort und Schrift)?
    Zur Prophetie gibt es nur zwei Positionen: Man ist entweder selbst Prophet, oder man wird zu ihrem Objekt. Die gegenständliche, historische Beziehung zur Prophetie führt in einen logischen Zwang, durch den man selber zum bewußtlosen (zum blinden und lahmen) Objekt der Prophetie wird.
    Von den biblischen Opfertieren ist das Rind in den Kernbestand der Evangelien nicht mit eingegangen, während Lamm und Taube zu innertrinitarischen Symbolen, zu Symbolen des Sohnes und des Geistes, geworden sind (die Erstgeburt des Menschen wird durchs Opfer des Lammes, nur bei den Armen durch das Opfer der Taube ausgelöst; nach Mt und Mk treibt Jesus die Wechsler und die Taubenverkäufer, nur nach Joh auch die Verkäufer von Ochsen und Schafen aus dem Tempel).
    Ist nicht die Geschichte vom reichen Jüngling eine parakletische Geschichte? Die Aufgabe des Reichtums sollte er nicht nur für den Moment den Armen helfen (Maurer: „die Urgemeinde ist am Kommunismus gescheitert“), sondern die Ursache der Armut, ihren Zusammenhang mit dem Reichtum, reflexionsfähig machen.
    Es ist so leicht, die Worte Jesu durch Übersetzung in den Indikativ unsinnig und die Nachfolge unmöglich erscheinen zu lassen.
    Eine Sprache, die nur Imperfekt und Perfekt kennt, kennt eigentlich keine (abgeschlossene) Vergangenheit, sie kennt insbesondere keine Herrschaftslogik, die den Sprechenden selber in die Vergangenheit versetzt und als Ersatz das Präsens (eine in die Vergangenheit eingetauchte Gegenwart) braucht. Realsymbol dieser Herrschaftslogik in der Schrift ist das Sklavenhaus Ägypten, dann die babylonische Gefangenschaft.
    Die Verlagerung des Perfekt in die Vergangenheit begründet die Ontologie. Zugleich wird die Erinnerung an die Zukunft (und mit ihr der Kern der theologischen Tradition) ausgeschieden.
    Die Trinitätslehre entlastet die Theologie von der Last der Apokalypse, der Parusie-Erwartung.
    Schuldverschubsystem: Heute wird das Wort Goethes noch überboten: Wir lassen nicht mehr nur die Armen, sondern auch die Opfer schuldig werden: So werden sie wirklich zu Vertretern des Gekreuzigten. (Die Vergebungsbereitschaft der Kirche geht heute soweit, daß sie auch den Juden Auschwitz vergeben würde, wenn sie ihre Halsstarrigkeit aufgeben und die immer ausgestreckte Hand der Versöhnung endlich ergreifen würden.)
    Der Versuch, die ganze Mikrophysik aus der speziellen Relativitätstheorie, aus dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, abzuleiten, hatte bereits als bewußtloses Modell die Vorstellung, daß die Wahrheit der Trinitätslehre erst in ihrer Konfrontation mit der jüdischen Tradition hervortreten wird. War nicht die Physik Einsteins in der Tat, nur anders als es die Vertreter der „Deutschen Physik“ sich vorstellten, eine „jüdische Physik“?
    Die Welt ist (wie auch ihre Emanationen) die Totalität des Feigenblattes.
    Was in der Trinitätslehre mit Gott begonnen hat und über die Welt fortgesetzt wurde, die Gewalt der Vergegenständlichung, ergreift am Ende unser Herz (das Herz der Kirche).

  • 11.7.1995

    Religion für andere, das ist die Religion der leeren Köpfe, in die die Religion von außen eingefüllt werden muß. Aber sind nicht alle Religionen unterm Bann des Weltbegriffs Religionen für andere, und ist nicht deshalb die Religion, der man angehört, „ohnehin die falsche“?
    Durch die Verdrängung der Parusie-Erwartung (durch Anpassung an die Welt) ist die Religion zwangsläufig zur Religion für andere geworden. Diese Bemerkung gilt generell, insbesondere und konkret aber für die Geschichte der Dogmenentwicklung (Martin Werner). Eine Religion, die sich in der Welt einrichtet, wird zur Religion für andere.
    Die Kritik der Trennung von Natur und Welt gründet in dem Satz: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.
    Ist nicht das Buch Kohelet der Beweis dafür, daß der Weltbegriff das Erbe des Götzendiensts, der Idolatrie, angetreten hat? Das „Alles ist eitel“ gründet in der Nichtigkeit der Götzen.
    Sind nicht die biblischen Xenophobie-Geschichten (Sodom, Jericho und Gibea) allesamt antimessianische Geschichten?
    Zum Begriff einer Theologie im Angesicht Gottes: Das Reich der Erscheinungen ist das Reich der Unerkennbarkeit der Dinge, wie sie an sich sind; nur Gott sieht ins Herz der Dinge.
    Das Paradigma der Kommunikation im Reich der Erscheinungen ist der Stoßprozeß: der Zusammenstoß zweier Köpfe. Bezieht sich hierauf das biblische Symbol des Horns?
    „Allein den Betern …“ (Reinhold Schneider): Die Frage, wie (und nicht ob) Beten nach Auschwitz noch möglich ist, hängt zusammen mit dem, was Habermas „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ genannt hat: mit Veränderungen im Begriff der Öffentlichkeit, die insbesondere am Problem des öffentlichen Gebets (an der Beziehung des Gebets zur Öffentlichkeit) sich demonstrieren lassen. Sie rührt an den Kern der Frage nach der Möglichkeit einer Theologie im Angesicht Gottes, sie rührt an den Grund des Weltbegriffs.
    Das Dogma ist die Narbe an der Stelle, an der Alexander den gordischen Knoten durchschlagen hat. War die Tat des Alexander, an die das Versprechen der Herrschaft über Asien geknüpft war, nicht eine sprachgeschichtliche Tat: War das Neutrum das Schwert, das Objekt und Begriff, Natur und Welt getrennt (und sie in dieser Trennung konstituiert) hat. In der Bibel wird das Neutrum durch die Schlange, das Durchschlagen des Knotens durch den Baum der Erkenntnis (seine Trennung vom Baum des Lebens) und den Sündenfall symbolisiert. Die indoeuropäischen Sprachen entspringen mit der Erfindung des Wissens (des Gesehenhabens, Kristallisationskern des Neutrum und Urform der Anschauung, unter deren Gesetz diese Sprachen seitdem stehen), Zentrum der gemeinsamen Grammatik (und ihrer Sprachlogik). Das Dogma war der paradoxe Versuch, die Offenbarung, zum Gegenstand der Anschauung zu machen (sie ins Präsens zu übersetzen, den Imperativ in den Indikativ zu transformieren); in Wahrheit hat es sie neutralisiert.

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