Barth

  • 31.07.92

    Jacques Derrida rührt in seinen Erörterungen über den „mystischen Grund der Autorität“ („mystisch“ im Sinne Wittgensteins) an den Grund des Dezisionismus („Gesetzeskraft“, S. 53ff), dessen Folgen Christian Graf Krockow schon vor Jahren anhand der Texte von Heidegger, Schmitt und Jünger genauestens beschrieben hat.
    Nachdem er vorher sich auf Wittgenstein bezieht, benutzt D. den Begriff des Mystischen später (S. 77ff) zur Bestimmung des Grundes der Gewalt. Darin manifestiert sich eine zentrale logische Konsequenz. Mystisch heißt der Bereich, in den die Argumentation nicht mehr hereinreicht: der gemeinsame Ursprung des Dezisionismus und der Gewalt. Das reale Thema ist nicht der „mystische Grund der Autorität“, sondern der mythische Grund der Gewalt; und vor diesem Hintergrund ließe sich vielleicht die „göttliche Gewalt“ tatsächlich anders – und möglicherweise genauer – bestimmen.
    Erstaunlich, daß bei dem erreichten Stand der Benjamin-Philologie niemand bereit oder in der Lage ist, den Grund der mit Händen zu greifende Fehlinterpretation der Benjaminschen Untersuchung „Zur Kritik der Gewalt“ durch Derrida zu benennen. Er liegt an dem gleichen Punkt, an dem Derrida am Begriff der Entscheidung (s.o.) seinen „Vorbehalt gegen alle Horizonte“ erläutert, „etwa gegen den der regulativen Idee Kants oder gegen den des messianischen Ereignisses, des messianischen Kommens“ (S. 53). Dieser Vorbehalt ist einer gegen die Idee der Geistesgegenwart, die in der Tat nicht zu halten ist, solange Philosophie zurückschreckt vor der Selbstreinigung, der sie zwangsläufig sich unterwerfen muß, wenn sie sich auf die Kritik der Naturwissenschaften einläßt. Ohne die Kritik der Naturwissenschaften ist aber die (messianische) Kritik der Vorstellung einer homogenen Zeit nicht mehr zu leisten. Es beweist das Ingenium Derridas, wenn er mit dem Hinweis auf die regulative Idee Kants und das messianische Element in Benjamins Werk genau die Punkte benennt, an denen es sich entscheidet, ob Geistesgegenwart noch denkbar und möglich ist.
    „Als Erfahrung der absoluten Andersheit ist die Gerechtigkeit undarstellbar“ (S. 57): Dieser Satz, der die Postmoderne mit so unterschiedlichen Denkern wie Horkheimer und Karl Barth verbindet, verdankt sich der Verwechslung des Andern mit dem Fremden. Das (und auch der) Andere ist Teil (wenn nicht Grund) des Systems (vgl. den für die gesamte Philosophie zentralen Satz der hegelschen Logik: das Eine ist das Andere des Anderen, und Rosenzweigs Hinweis auf die „verandernde Kraft des Seins“), erst der Fremde (der unaufgelöste Name der Barbaren und die Erinnerung an die Herbräer) sprengt das System (sprengt die erkenntnisbindende Gewalt des Natur- und Weltbegriffs), er ist ohne Rückgriff auf die Theologie: ohne die Idee der Schöpfung (Kritik des Weltbegriffs) und der Auferstehung der Toten (Kritik des Naturbegriffs) nicht zu halten. Und „billiger“ ist auch der Begriff der Geistesgegenwart nicht mehr zu haben (Zusammenhang mit Benjamins Definition des Kapitalismus als „Kult ohne Dogma“).
    Der Andere ist nicht der Fremde (zur Prophetie gehört neben dem Votum für die Armen das für den Fremden, nicht jedoch das für den Anderen; die Hebräer lebten als „Fremde im Lande“), das Andere ist systemimmanent, der Fremde (wie der Arme und das Antlitz) transzendent.
    D. setzt die Differenz zwischen „dem Nationalen und dem Internationalen, dem Öffentlichen und dem Privaten“ (S. 58) auf eine Stufe (nach dem Außen-/Innen-Pardigma, zu dem die Kategorie des Anderen gehört); er hat die Bedeutung des Antlitzes bei Levinas offensichtlich nicht verstanden (allerdings scheint auch Levinas die Differenz des Antlitzes zum Außen/Innen-Schema nicht realisiert zu haben: zum Antlitz gehört als Korrelat nicht das Außen, sondern das Hinter dem Rücken; erst diese Unterscheidung begründet die Ethik als prima philosophia).

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