Benjamin

  • 01.11.87

    Bei der Beurteilung von Metaphern sind mimetische von räumlichen Metaphern streng zu trennen: Letztere sind Teil der Herrschaftslogik. (Frage: trifft das auch auf Relationsmetaphern wie „oben/unten“ bzw. „zentral/peripher“ zu? – Und ist die Herrschaftsmetaphorik ganz zu vermeiden? – Kann man zwischen Ausdrucks- und Herrschaftsmetaphorik unterscheiden? – Vgl. Blumenberg, Habermas, Benjamin, Kraus.)

    Heute kann nur noch normal sein, wer sich innerhalb einer gesellschaftlich vorgegebenen Verrücktheit fest eingerichtet, stabilisiert hat; verrückt werden jene, die hierfür sensibilisiert sind, d.h. eigentlich die Normalen. Ableitung dieses Sachverhalts aus dem Stand der politischen Ökonomie (den Bedingungen der Selbsterhaltung).

  • 28.02.88

    W.Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ges.Schr. Bd. I, S. 305, 306, 308, 333.

    „Notstand und Notwehr“: Dieser Arbeitstitel von Günther Anders geht davon aus, daß eine Einwirkung auf das Zentrum der Verhältnisse außer durch Gewalt nicht mehr möglich ist. Das bedeutet aber, daß eigentlich die Theorie bereits resigniert hat und es nur noch um der Selbsterhaltung willen darauf ankommt, überhaupt etwas zu tun. Der Kern des Ansatzes ist Verzweiflung (allerdings nicht unbegründete).

  • 13.03.88

    Merkwürdig, daß niemand den Benjaminschen Begriff des Mythos (in den frühen Schriften, von „Schicksal und Charakter“ über die „Wahlverwandtschaften“ bis zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“) auch nur wahrnimmt, geschweige denn produktiv weiterführt. Hierzu scheinen den Literaturwissenschaftlern die theologischen und den Theologen die literarischen Voraussetzungen zu fehlen. Damit scheint es andererseits zusammenzuhängen, wenn bis heute niemand – auch Stephan Moses nicht – im „Stern“ von Franz Rosenzweig den Stellenwert und die religions- und geschichtsphilosophische Bedeutung seiner Rekonstruktion des Mythos und der chinesischen und indischen Welt sowie des Islam begriffen hat. (Warum gibt es beim Mythos eine begründete Gestalt – die griechische – und zwei Derivate – die chinesische und die indische -, während es im Bereich der Offenbarung zwei gleichberechtigte historische Gestalten – die jüdische und die christliche – und nur ein Derivat – den Islam – gibt?)

  • 16.07.88

    Die Nazizeit hat bei den Beteiligten (und den Nachfahren) Rechtfertigungszwänge für Tatbestände, die nach den Kriterien persönlicher Schuld kaum noch sich dingfest machen lassen, ausgelöst, die dann in den neuen Schuldzusammenhang (der „zweiten Schuld“) erst hineingeführt haben; insbesondere die Hypostasierung des Rechts (vor dem diese Schuld sich nicht fassen läßt) hängt hiermit aufs folgenträchtigste zusammen. Wenn der Satz „Ideologie ist Rechtfertigung“ stimmt (wie übrigens auch die theologische Umkehrung „Rechtfertigung ist Ideologie“), dann ist ein Zustand erreicht, der droht, reine Ideologie zu werden. Vor dem Recht sind offensichtlich die Beamten (Richter, öffentliche Verwaltung, Polizei), ohne die die Verbrechen nicht möglich gewesen wären, unschuldig, während die, die es wirklich sind, an der Last des Entsetzlichen zerbrechen. Hier läßt sich mit Händen greifen, was Benjamins Hinweise auf den Zusammenhang von Recht, Schicksal und Mythos in der Realität bedeuten. (Luthers Rechtfertigunglehre war die notwendige Folge seiner verzweifelten Anerkennung der „rechtmäßigen Obrigkeit“: das Tor für den Einbruch des Mythos ins Christentum hat Paulus eröffnet; Zusammenhang der Rechtfertigungslehre mit der paulinischen Rechtfertigung der Herrschaft und dem Ausschluß der Frauen! – Gibt es eigentlich ein matriarchalisches Recht? Ist das Recht gleichursprünglich mit dem Patriarchat? Hat es irgendwann einmal Richterinnen gegeben? Sind Recht, Patriarchat und Mythos gleichursprünglich?)

    Barock als Ideologie-Generator: Die Reformation hat die Kirche unter Rechtfertigungszwang gestellt, die Gegenreformation hat das Gesetz der Rechtfertigung rein durchgesetzt.

  • 02.08.88

    Der Materialismus ist weniger die Benjaminsche „Puppe“, die, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, immer gewinnt, er ist vielmehr die Theologie selber in der heute allein noch vertretbaren Gestalt. Ob er „immer gewinnt“, ist mehr als zweifelhaft; eher ist er Ausdruck der Verzweiflung, die dem heutigen Zustand der Welt angemessen ist, und zugleich der ohnmächtige und wütende Schrei nach der Theologie.

    Adornos „Vorrang des Objekts“, auf den bei ihm der Materialismus sich zusammenzieht, drückt das aus: dieses „Objekt“ ist die Leerstelle, die zurückgeblieben ist, nachdem Natur zum Verschwinden/Verstummen gebracht wurde durch den Abstraktions- und Entfremdungsprozeß, durch den Prozeß der Instrumentalisierung, die am Ende auch das Subjekt ergreift.

  • 5.5.1997

    Zur Kritik des Begriffs der Geschichte gehört die Kritik der Vorstellung des Zeitkontinuums, die der Objektivierung der Geschichte zugrunde liegt. Geschichte, wie sie bis heute verstan­den wird, ist das Produkt einer Neutralisierung der Vergangenheit, die verhindert, daß die Gegenwart in ihr sich wiedererkennt. – Enthält nicht Benjamins Hinweis auf die paradoxe Be­ziehung des jüngst Vergangenen zur Gegenwart (nichts ist so veraltet wie die jüngst vergan­gene Mode) einen Fingerzeig?

    Welche Länder werden mit dem bestimmten männlichen Artikel genannt, wie der Irak, der Iran, der Libanon, der Sudan, der Senegal, der Kongo? Was bedeutet und welche Funktion hat hier der bestimmte Artikel? Hat er mit der Substantivierung des Nomen, mit dem Über­gang vom Nomen zum Substantiv, zu tun? Wodurch unterscheidet sich das Substantiv vom Nomen? Macht der Artikel das mit Namen benannte Subjekt zum Objekt, sind die subjektiven Formen der Anschauung Produkte der logischen Entfaltung des bestimmten Artikels?

    Zwei Erklärungsmöglichkeiten:

    – aus der islamischen Vergangenheit (Beziehung des bestimmten Artikels zum Gottes­namen?),

    – aus der kolonialistischen Vergangenheit?

    In beiden Fällen Objektstatus der Länder, die (sei es aus religiösen, sei es aus Gründen der kolonialen Abhängigkeit) keinen Subjektstatus, keine nationale Souveränität im Sinne des modernen Nationbegriffs hatten?

    Drei Arten der Bildung des bestimmten Artikels:

    – the, der, to: die deiktische Funktion des bestimmten Artikels,

    – ha (hebräisch), hä/ho (griechisch): das Auslachen,

    – el/il (spanisch, italienisch), al (arabisch): Zusammenhang mit dem semitischen Got­tesnamen (El, Elohim, Allah)?

    Elohim ist der Name des Gerichts und der Schöpfung; JHWH Elohim der des Sündenfalls und des Fluchs.

    Rosenzweig: „Ja, das Ihr ist grauenhaft. Es ist das Gericht.“ (Stern, Ausg. Suhrkamp, S. 264) Hängt das euch (2. Pers. Plural) mit dem Wort ewig zusammen (vgl. dtv – Etymologisches Wörterbuch, S. 304/308)?

    Ist nicht die Vorstellung des Zeitkontinuums der Fluch, der über der Erde schwebt?

    Bei Hegel liegt Hoffnung allein in dem Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann.

    Hat nicht erst der Islam die Heiden erfunden, die „Ungläubigen“?

    Die Wolkensäule am Tag und die Feuersäule in der Nacht: Hat das etwas mit dem Bogen in den Wolken und dem Menschensohn auf den Wolken des Himmels zu tun?

    Greuel am heiligen Ort: Wenn der Faschismus über seine Verurteilung sich reproduziert, wandert er dann nicht von der Seite des Begriffs auf die des Objekts, aus der Schuldzusam­menhang der Welt in die „unschuldige“ Natur? Diese Metamorphose ist genauer zu bestim­men. Wie hängt die „Unschuld“ der Natur (die in ihrem Gesetzesgehorsam gründet, in ihrem Gegensatz zur Freiheit) mit ihrer Begriffs- und Namenlosigkeit zusammen?

    Wenn die Heuchelei die Reverenz, die das Laster der Tugend erweist, ist, ist dann nicht die Bekenntnislogik die logisch durchorganisierte Heuchelei (die Ursprungsgestalt der subjekti­ven Formen der Anschauung)?

    War nicht der Bann über Spinoza eine verschärfte Fassung des Banns über Uriel da Costa, und hat darin nicht die Amsterdamer Synagoge sich selbst verurteilt?

    Die Vorstellung, daß Gutes nur von Gutem und Böses nur von Bösem kommt, ist rassistisch.

  • 4.5.1997

    Sind nicht die Selbstmorde von Masada über Worms, Uriel da Costa, Walter Benjamin bis Primo Levi prophetisch, bilden sie nicht den andern Suicid in sich ab, auf den die Menschheit zwangshaft sich zubewegt, auf den Selbstmord der Gattung, der alle zu unschuldigen Tätern und die Opfer zu Schuldigen macht?

    Der Antisemitismus ist nur noch irrational, aber er hat seine eigene Rationalität, und hierin liegt seine Verführungskraft: in der Hypertrophie des Gerichts. Es ist die Verführungskraft des kurzen Prozesses, in dem der Ankläger der Richter ist und eine Verteidigung nicht mehr zu­lässig ist. Die Rationalität dieses Verfahrens leitet aus der Wurzel der Gewalt sich her; es ist eine Rationalität, die an der Macht sich orientiert.

    Das Inertialsystem, das Geld und die Bekenntnislogik sind die logischen Zentren nicht eines Herrschafts-, Schuld- und Verblendungszusammenhangs, sondern des Macht-, Schuld- und Verblendungszusammenhangs. Der Staat hat Herrschaft mit der Gewalt verkuppelt und damit eine Logik auf den Weg gebracht, die den Armen schuldig werden läßt.

    Läßt sich die Astrologie nicht aufschlüsseln anhand der logisch-praktischen Beziehung von Krieg und Handel und der Geschlechterbeziehungen im Patriarchat?

    Das Problem der Öffentlichkeit liegt darin, daß in ihrer gegenwärtigen Verfassung Öffentlich­keit und Schuldreflexion sich ausschließen. Deshalb braucht der Staat eine „Privat-„, nämlich eine Geheimsphäre, die die Staatstreue der Bürger fördert, indem sie die Wahrnehmung und Reflexion des staatlichen Handelns verhindert. Er wird hierbei von den „Medien“ ebenso wie von Wissenschaft und Justiz, den Institutionen der Öffentlichkeit, die zu Schuldreflexion-Ver­hinderungs-Instituten geworden sind, unterstützt; das wichtigste Instrument der Schuldrefle­xion-Verhinderung (der Verdrängung) ist das Instrument der Objektivierung: die Anschauung, das Bild (deshalb gewinnen BILD und Fernsehen für den Begriff der Öffentlichkeit immer deutlicher paradigmatische Züge).

    Gegen Habermas: Der Begriff der Öffentlichkeit ist nicht mehr empirisch, durch Abstraktion von den bestehenden Institutionen der Öffentlichkeit, zu gewinnen, sondern nur als Produkt einer Konstruktion, deren Elemente in der Reflexion und Kritik einer empirischen Öffentlich­keit, in der Information und Verdummung untrennbar sich verbinden, überhaupt erst sich kon­stituieren. Außer in den Spuren dieser Reflexion gibt es noch keine Öffentlichkeit, die diesen Namen verdient.

  • 3.5.1997

    Ist nicht die Bannformel der Amsterdamer Synagoge eine Folge der kopernikanischen Wende (haben nicht Fluch und Schwur ihren logischen Ort am Sternenhimmel)?

    Der Fundamentalismus läßt sich (auch bei seinen Kritikern) dingfest machen am Verständnis des Staubfressens, und ist nicht das Staubfressen der Beweis, daß die Schlange das grammatische Neutrum repräsentiert?

    Verweisen nicht Verdrängung, Projektion und Schuldverschiebung auf den gleichen sprachlichen Sachverhalt, den in der Schrift die Schlange symbolisiert: auf die sprachlogische Funktion des Neutrum?

    Verweist nicht die Stimme in Frescobaldis Capriccio (Stefan Wyss, Passagalia, pass.) auf das Problem der Materialisierung in der Musik (das auch ein Problem der Neutralisierung ist), auf den Ursprung des Bedeutungslosen, Chaotischen, aus dem die Musik erschaffen wird, und kündigt sich hier, im Barock, nicht schon die Schönbergsche Revolution an?

    Die Geschichte der Instrumentalisierung hat ihre eigene Dynamik (im Falle der Musik sollte im Begriff der Instrumentalisierung durchaus der Doppelsinn mit gehört werden). Der Begriff dieser Geschichte verweist auf die Geschichte der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse und auf deren wechselseitige Beziehung. Ihre Rückprojektion in die Natur heißt Evolution.

    Merkwürdige Spiegelung der Natur in den frühgeschichtlichen Institutionen: Die gehörnten Tiere sind Opfertiere, Raubtiere verkörpern den Staat (seine Beziehungen nach außen, nach innen werden sie zu apokalyptischen Tieren, die aus der Schlange hergegangen sind).

    Hierzu der ungeheure Satz: Barmherzigkeit, nicht Opfer.

    Masada, Worms, Uriel da Costa, Walter Benjamin, Primo Levi et alii: Die Verzweiflung im Angesicht der Unmöglichkeit der „Bekehrung des Sünders von den Wegen des Irrtums“.

    Experten: Innenarchitekten gibt es, seit auch die Privatsphäre (das Asyl der Innenwelt) gegen den Blick von außen, gegen den Seitenblick, keinen Schutz mehr bietet, der Reklame, den Verwertungsinteressen des Kapitals, dem „Lauschangriff“ des Staatsschutzes, dem Fernsehen und der Massenpresse hilflos ausgeliefert ist. Seitdem gibt es es kein Zuhause mehr, leben alle in einer synthetischen Innenwelt, lassen die Wohnungen von modernen Haftanstalten nicht mehr sich unterscheiden. Wie die Wärter in den Knästen garantieren die Experten, daß man nichts „falsch“ macht (das Falsche ist die Abweichung von der vergesellschafteten, instrumentalisierten Wahrheit). Hier wird der letzte bethlehemitische Kindermord vorbereitet.

    Die Definition der Wahrheit als Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand erinnert an die Geschichte von Hase und Igel: Das Objekt mag sich anstrengen, wie es will, der Begriff, den es nie erreicht, ist immer schon da (Heidegger definiert denn auch konsequenterweise das Subjekt, den Repräsentanten des Begriffs, als „Dasein“).

    Maß der Gotteserkenntnis ist der Satz, daß nur Gott ins Herz der Menschen sieht. Gott wird nur von dem erkannt, der Seiner Erkenntnis sich angleicht. Hierin gründet das Konzept einer Theologie im Angesicht Gottes, das eins ist mit der Idee der vollständigen Säkularisation aller theologischen Gehalte. Der gleiche Sachverhalt drückt in dem Satz sich aus, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen. Gotteserkenntnis ist die Realisierung der Geistesgegenwart, die konkrete, handlungsleitende Erkenntnis seiner Gebote. Die grammatische Form der Gotteserkenntnis ist die Form der Lehre, ein Indikativ, der in sich selbst die Kraft des Imperativs repräsentiert, wie die Sätze Adornos:

    – „Erstes Gebot der Sexualethik: der Ankläger hat immer unrecht“, und:

    – „Heute fühlen sich alle ungeliebt, weil keiner zu lieben fähig ist“.

    Die Kritik der Ontologie ist der Anfang der Bekehrung des Sünders von den Wegen des Irrtums.

    Mit dem Absterben des Staates verliert der Weltbegriff seine Gewalt. Mit dem Ende des Staates wird auch der Tod nicht mehr sein; jede Träne wird abgewischt.

  • 24.4.1997

    „Der Junge blieb vor dem Fenster stehen und starrte hinaus: ‚Der Mondschein‘, sagte er, ‚macht die ganze Natur so – knochenlos; die Sonne erweckt in dem Menschen Tatendrang, der Mond Gefühle.‘ – ‚Ja, das ist wahr‘, sagte Wenzlow lächelnd. ‚Darum ist die Sonne im Französischen männlich, le soleil. Der Mond, la lune, ist weiblich.’“ (Anna Seghers: Die Toten bleiben jung. Darmstadt und Neuwied, 1977, S. 386) Welche Konsequenzen hat diese Bemerkung für das Verständnis der deutschen Sprache, ihres sprachlogischen und herrschaftsgeschichtlichen Grundes?

    „Sie wachte zuweilen nachts auf und dachte: Ich möchte mein Kind aufpacken und weit weggehen. Wohin? Es gab kein Wohin mehr.“ (Ebd. S. 402) – Genauer läßt sich die Welt, die im Faschismus sich ausdrückte und die er hinterlassen hat, nicht beschreiben, als durch diese Zerstörung des Wohin. Es gibt keine Ziele mehr, auch keine Fluchtorte vor dem allgegenwärtigen Schrecken.

    Dritte Leugnung: Die Unterstützung des Nationalsozialismus im Rußlandfeldzug, im „Kreuzzug gegen den Bolschewismus und das Judentum“, in dem „Weltanschauungskrieg“, der ein Vernichtungskrieg war, hat die Kirchen in den Abgrund mit hereingezogen, den die Nazis eröffnet haben, und der sich seitdem nicht mehr schließen läßt.

    Ist F.W. Marquardt nicht ein Beispiel dafür, daß die Theologie heute eine Opfer ihrer Sprache ist? Der Abgrund, in den die Theologie hereingezogen wurde, ist der Abgrund der Indikativs. Der Indikativ ist die Sprache der Exkulpation durch Objektivierung, durch Distanzierung von der Sache, die Sprache der reflexionslosen Verurteilung. Die Konstituierung und Rechtfertigung der Gegenständlichkeit hat den Imperativ aus der Sprache vertrieben, der dem Kommando im Wege stand, er hat den Namen Gottes geschändet, die Attribute Gottes unerkennbar gemacht.

    Der sprachlogische Grund des Indikativs ist das Neutrum und die Subsumtion Flexion der Verben, der Formen der Konjugation, unter die Zeit. Deshalb hat nur die Sprache der Schrift, das Hebräische, theologische Qualität, die anderen Sprache nur insoweit, wie es gelingt, die Schrift in diese Sprachen zu übersetzen. Ist das „Neue Testament“ nicht das Paradigma des Problems der Übersetzung der Schrift, und das Christentum die Folge eines – unter dem Zwang, nicht mißverstanden zu werden – unvermeidlichen und notwendigen Mißverständnisses?

    Der Antisemitismus hat den Trieb, nicht mißverstanden zu werden, vollendet und damit endgültig ins Leere laufen lassen. Er gründet in einer Sprache, die Mißverständnisse nicht nur nicht ausschließt, sondern keine Alternative mehr dazu kennt. Das innere Gesetz dieser Sprache ist der Indikativ. Hegel hat den Kern dieses Gesetzes im Begriff der List der Vernunft zu begreifen versucht. Der Antisemitismus ist das natürliche Ende dieser List der Vernunft (der Instrumentalisierung des Mißverständnisses).

    Die Instrumentalisierung des Mißverständnisses begründet die Logik der Gemeinheit (den logischen Kern des Antisemitismus). Kant hat das Gesetz dieser Logik in der transzendentalen Ästhetik vor Augen gestellt: in den „subjektiven Formen der Anschauung“. Aus dieser Wurzel stammen Hegels List der Vernunft, sein Begriff des Scheins und die Idee des Absoluten. Dem korrespondieren die drei den Indikativ sprengenden Kategorien, die Franz Rosenzweig im Stern der Erlösung benannt hat: die Umkehr (das Bild vom Koffer), den Namen (Name ist nicht Schall und Rauch) und das Angesicht. – Das Angesicht, das in der christlichen Idee der Anschauung Gottes, aus der jede Erinnerung an den göttlichen Namen getilgt ist, zum Ende der spekulativen Idee gemacht worden ist, ist bei Franz Rosenzweig der Anfang des Lebens (die Befreiung aus der Isolationshaft des Anschauens).

    Der Indikativ ist die Sprachlogik des objektivierenden Blicks, des Seitenblicks. So hängt er mit den subjektiven Formen der Anschauung (dem Instrument der Vergegenständlichung) zusammen.

    Der christliche Kanon der Schrift (des „Alten Testaments“), der die prophetischen Bücher zu historischen Büchern gemacht hat, ist ein Modell der kopernikanischen Wende, sein Vorläufer in der Theologie, der erste Ausdruck des Seitenblicks, sein Preis war der christliche Antijudaismus. In diesem Modell der kopernikanischen Wende waren die Elemente der Logik schon vorgebildet, die dann den Sternenhimmel, die ganze Natur und mit ihnen den Staat, den Begriff der Politik, verhext haben: Das heliozentrische System war der logische Grund des aus ihm erwachsenen Nationalismus, in dessen Dienst schon die Umwidmung der prophetischen in historische Bücher stand.

    Die Geschichte des Christentums hat ihren theologischen Ort zwischen Tod und Auferstehung: in der descensio ad inferos.

    Läßt sich nicht das Verhältnis von Leviticus und Deuterinomium am Verhältnis von Lev 26 und Dt 28 demonstrieren (und das Verhältnis des Exodus zum Deuteronomium an den beiden Fassungen des Dekalogs)?

    Der islamische theologische Topos, daß Gott die Welt in jedem Augenblick neu erschafft, ist die zwangsläufige Konsequenz einer Gottesidee, die – wie der Begriff des Absoluten – vom Staat nicht zu trennen ist. Die volle Schöpfungsmacht, die hier in jedem Augenblick auf das Geschöpf prallt, ist der theologische Grund des Islam, der Ergebung in Gottes Allmacht, der nichts widerstehen kann. Die Erfahrungsgrundlage dieser Schöpfungsmacht ist die Staatsgewalt.

    Sind nicht die Rechtsstaatsideologie und der Habermas’sche Verfassungspatriotismus ein Versuch, des faschistischen Erbes, das durch Reflexion aufzulösen wäre, durch einen zweiten Objektivationsschritt Herr zu werden: „Dressur des inneren Schweinehundes“. Die Reflexion, die heute notwendig ist, ist ohne die Hilfe der Theologie nicht mehr zu leisten.

    Zu Walter Benjamins Engel der Geschichte: Die Trümmer, die vor ihm sich aufhäufen, ist das nicht der Schutt, unter dem wir begraben sind, und zugleich der Leichenberg, auf dem wir stehen? Hängt das nicht mit der Konstruktion des Zeitkontinuums zusammen, durch den wir uns sowohl an den Anfang wie auch ans Ende der Zeitreihe, die beide im Unendlichen liegen, setzen? Die Aufspaltung der Zeit, die dem Indikativ zugrunde leigt, wird erzeugt und stabilisiert durch die Begriffe Natur und Welt. Die Natur ist der Leichenberg, die Welt der Trümmerhaufen. Dagegen richtet sich der Satz: Die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht.

    Der Atheismus hat in der Linken seit je die Regression gefördert.

    Das Problem Miskottes ist, daß er aus dem Zwang zur Erbaulichkeit, in den ihn die Gemeindetheologie hineinführt, nicht herauskommt.

    Die Kirchengeschichte der Theologie: Dogma, Orthodoxie und Bekenntnislogik, gründet in der Verwechslung von Erkenntnis und Wissen. Das Wissen ist ein Produkt der Vergesellschaftung von Erkenntnis (die Habermas durch seinen Begriff der „privilegierten Erkenntnis“ zu diskriminieren gezwungen ist). Das Wissen subsumiert die Erkenntnis unter das Objektivierungsgesetz, das insbesondere die Gotteserkenntnis strikt ausschließt. „Von Gott wissen wir nichts, aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott.“ Das Unkraut, das vor der Ernte nicht ausgerissen werden darf, ist die ins Wissen transformierte Erkenntnis. Die Häretiker sahen das Unkraut, sie wollten es vor der Ernte ausreißen. Mit der Verurteilung der Häresien hat die Kirche nur den Blick auf das Unkraut verboten, seine Wahrnehmung untersagt: hat sie nicht anstelle des Weizens das Unkraut in ihrem Garten gehegt und gepflegt?

    Die kopernikanische Wende (der die Kirche mit der Entwicklung des Dogmas und der Ausbildung der Orthodoxie vorgearbeitet hat) hat die Sensibilität in Empfindlichkeit verwandelt. Ausdruck dessen war die Unterscheidung der primären und sekundären Sinnesqualitäten, die Subjektivierung der „Empfindungen“.

    Steckt das Problem des Lichts nicht in der Geschichte der Auseinandersetzung Goethes mit der newton’schen Optik, in der Beantwortung der Frage, ob aus den Farben, aus den Brechungen des Lichts, das Licht sich rekonstruieren läßt? Goethes Bemerkung, daß die Mischung aller Farben grau, nicht weiß ergibt, ist ein Hinweis darauf, daß die Brechung des Lichts wie der Tod irreversibel ist. Physikalischer Ausdruck dieser Irreversibilität ist das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit: So hängt der Bogen in den Wolken mit dem Inertialsystem zusammen.

    Was hat der Menschensohn auf den Wolken des Himmels mit dem Bogen in den Wolken zu tun?

    Der Bogen in den Wolken verkörpert die Naturbeherrschung in allen ihren Gestalten: Er ist das gegenständliche Korrelat des Schreckens der Tiere.

  • 20.4.1997

    Die subjektiven Formen der Anschauung, die Feindbildlogik, die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, Weltgericht und Jüngstes Gericht (Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht), die Logik der Totalitätsbegriffe und das Angesicht; Natur und das Apriori der Verurteilung.

    Zur Illustration des Benjamin’schen „Engels der Geschichte“ (und zur Logik des Zeitkontinuums) wäre auf die Figur des Siegers in Elias Canettis „Masse und Macht“ zu verweisen: Er ist der letzte Überlebende, der auf einem riesigen Leichenberg steht. Mit der subjektiven Form der inneren Anschauung (durch die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit) setzt sich das transzendentale Subjekt an das Ende der unendlichen Zeitreihe. Die Figur des Siegers ist so in die Vorstellung des Zeitkontinuums und in die Idee des Subjekts mit eingebaut: Die Objektivität (die Natur) ist der besiegte Feind.

    Das Angesicht ist die Widerlegung der Vorstellung eines objektiven, unendlichen Zeitkontinuums (die Auflösung der kantischen Antinomie). Und das Licht und die sinnlichen Qualitäten sind der Beweis dafür, daß eine restlose Objektivation der Natur nicht möglich ist.

    Das Angesicht ist die Widerlegung des Rassismus (und der Rassismus läßt sich aus der Unfähigkeit, den Anblick des Andern zu ertragen, ableiten; hier konvergiert er mit einer Tradition der christlichen Theologie, der Tradition des Dogmas, der Orthodoxie, des Bekenntnisses, die in der Logik der Verurteilung gründet, und zu der die Geschichte der Ausgrenzung und Verurteilung der Häresien gehört).

    Die Fähigkeit, in einen andern sich hineinzuversetzen, ist eins mit der Wahrnehmung der Angesichts. Das Dogma, die Ökonomie und die Naturwissenschaften sind Inbegriffe ungerechter Urteile. Zu ihrer Legitimierung bedürfen sie der (heute verrottenden) Idee des Absoluten.

    „Sie wissen nicht, was sie tun“: Wo und in welchem Zusammenhang kommt der Begriff des Wissens in den Texten des NT vor (Sonderfall Johannes, vgl. insbesondere Joh 1630)?

    Anstatt, wie es Drewermann und Metz tun, die Aufklärung als Legitimation der theologischen Tradition oder aber ihrer Verwerfung zu mißbrauchen, kommt es darauf an, die Probleme der Aufklärung in der Theologie, als ihre Probleme, wiederzuerkennen und die Ressourcen der Tradition zu nutzen als Mittel der Reflexion der Aufklärung.

    Aufgabe heute: Nicht Juden zu „bekehren“, sondern die jüdische Tradition nutzen als Mittel der Selbstbekehrung der Christen, der Umkehr.

    Die Materie ist das „Fleisch“ der Natur. Was ist das „Blut“ (der Blutkreislauf wurde gleichzeitig mit dem heliozentrischen System entdeckt)? Sind die Konjunktionen das Blut der Sprache, und welche Folgen haben die sprachhistorischen Differenzen der Konjugation für die Bedeutung und das Verständnis des Blutsymbols („Reinigung durch das Blut“)?

    In allen Texten über das „letzte Abendmahl“ (die „Einsetzung der Eucharistie“) heißt es „Dies ist mein Leib …“ (Mt 26, Mk 14, Lk 22, 1 Kor 11), nur bei Joh (651ff): … Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, …!).

    A manifestis non discedere: Das Licht ist kein Objekt der Physik.

    Wer nur verurteilt, nicht reflektiert, trägt dazu bei, daß das Verurteilte sich reproduziert. Der Satz „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ ist ein Produkt der universalen Anwendung dieses Gesetzes.

  • 10.4.1997

    Die Auseinandersetzungen um die Errichtung einer theologischen Fakultät in der Stiftungs-Universität Frankfurt in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts werfen ein Licht auf den Zusammmenhang des Selbstverständnisses der universitären Theologie mit dem Nationalismus. Die Frage ist offen, wie weit z.B. Hermann Cohen und Franz Rosenzweig den logischen Prämissen dieses Selbstverständnisses verhaftet waren. Andreas Pangritz scheint die Reflexionen Benjamins, Horkheimers und Adornos u.a. deshalb nur bekenntnislogisch (als bloße Gesinnung) begreifen zu können, weil er die innere (ins Zentrum der Theologie hineinreichende) logische Brisanz dieser Geschichte nicht sieht.

    Die „Gesinnung“ ist ein Teil des nationalistischen (und des bekenntnislogischen) Syndroms. Die Gesinnung bedient sich der Urteilsmagie: Sie ersetzt moralisches Handeln durch die Verurteilung des Bösen, durch „Distanzierung“ (durch Ausgrenzung, durch Distanz zum Objekt). Symbol der Gesinnung ist der „verdorrte Feigenbaum“.

    Das „Kleiner- und Unsichtbarwerden der Theologie“ (und darin das Problem der Gesinnung) hängt mit der Katastrophe des Nationalismus zusammen.

    Zur Geschichte der Privatisierung, die seit je (seit der „Erfindung“ der Barbaren) mit dem „Globalisierungsprozeß“ zusammenhängt, mit der Innenwirkung der der Außenmächte, gehören die Privatarmeen des Faschismus und die „Endlösung der Judenfrage“, der barocke Pomp (der Absolutismus und die katholische Gegenreformation, der Ursprung der Oper).

    Verletzung des Bilderverbots: Der Staat, dem im Subjekt die Ausbildung der subjektiven Formen der Anschauung (das „da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“) entspricht, ist das Prisma, das den Namen in Begriff und Vorstellung aufgespalten hat. Dem Staat entspricht in der Natur der Himmel.

    Der prophetische Kampf gegen die Idolatrie war ein Kampf gegen die religiösen Reflexionsformen des Staates und gegen die Instrumentalisierung der Religion, ihre Subsumtion unters Herrendenken. Hierauf bezieht sich das prophetische Symbol des Kelchs (bis hin zur Beantwortung der Frage der Zebedäussöhne und bis zu Getsemane).

    Die Resignation, die in der Antwort an die Zebedäussöhne: „ihr werdet ihn trinken“, anklingt, weist schon vor auf das „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“.

    Was hat das Rauchen mit dem Räucheropfer und den Gebeten der Heiligen zu tun?

    Professionalität setzt die Anerkennung der Welt und die staatliche Lizenz voraus (der Professionelle ist nicht „selbsternannt“).

    Das Eingedenken ist das Sich-selbst-im-Andern-Wiedererkennen: der fruchtbringende Boden der Barmherzigkeit.

    Die Kollektivscham ist eine unverschämte Scham, sie bringt den Feigenbaum dazu, Blätter hervorzutreiben, aber sie verhindert die Frucht.

    Zu Stammheim ist es nicht notwendig, Partei zu ergreifen, an eine der beiden Versionen zu „glauben“. Notwendig ist allein, beide Versionen reflexionsfähig zu halten. Als Adorno schrieb, daß die Welt immer mehr der Paranoia sich angleicht, die sie gleichwohl falsch abbildet, hat er diese Reflexionsfähigkeit gemeint. Ist Stammheim nicht ein letzter Abkömmling des Marx’schen „Klassenkampfs“? Die Kraft der Reflexion sprengt die verdinglichende Gewalt des Glaubens, sie löst den Bann der Erbaulichkeit (oder: Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht).

    An einer Stelle nennt Pangritz den ersten Kafka-Essay Benjamins (mit Hilfe einer nicht unproblematischen Verwendung eines Benjamin-Satzes) „unausgegoren“ (S. 149). Gehört diese Metapher nicht zur gleichen Sphäre, zu der auch der ägyptische Mundschenk gehört?

    Erinnert das „Christum treiben“ Luthers nicht an den Hund, der die Herde treibt?

    Wer lernt, im Gesicht des Andern zu lesen (jemandem „einen Wunsch von den Augen ablesen“), mag erfahren, was mit dem Angesicht Gottes gemeint ist. Gibt es nicht heute Berufe (insbesondere in Verwaltung, Justiz, Polizei), zu deren Eingangsvoraussetzungen die Verhärtung dagegen gehört? Wo jeder Fall ein Präzedenzfall ist, gibt es kein Gesicht. Wer in dem, den er vor sich hat, alle andern sieht, sieht den Einen nicht mehr. Rosenzweigs Kritik des Alls bezieht sich auf diese logische Konstellation. Das Gesicht ist kein Objekt des Wissens. Die wissenbegründende Orthogonalität (die in die Theologie mit dem Begriff der Orthodoxie eingedrungen ist) macht aus dem Angesicht und dem Namen das Objekt und den Begriff, sie verwechselt das Wahre mit dem Richtigen und begründet eine Ordnung des Lebens, in der alle nur noch ihre Pflicht tun, aber keiner mehr weiß, was er tut. Die Unterscheidung der Wahrheit vom Richtigen gründet in der Unterscheidung des Im Angesicht vom Hinter dem Rücken, der Barmherzigkeit vom Gericht.

    Die Apokalypse ist das kostbare Instrument des aufgedeckten Angesichts.

    Auch wenn man das Bestehende nicht ändern kann, muß man es nicht auch zusätzlich noch rechtfertigen.

    Natürlich steckt in der Reflexion ein auf Realisierung drängendes Moment, aber ich kann die Reflexion nicht davon abhängig machen, ob die Realisierung hier und jetzt möglich oder auch nur denkbar ist.

    Haben nicht alle Initiationsriten etwas mit der Bindungskraft der Komplizenschaft zu tun? Steckt nicht in allen gemeinschafts- und staatsbildenden Kräften der Religionen, auch des Christentums, etwas davon?

    Steckt in der Beziehung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zum Relativitätsprinzip nicht der verborgene Name des Himmels, die Beziehung von Feuer und Wasser?

    Bezogen auf 1948 ist 1997 ein Jobeljahr.

    Der Begriff der Natur im Subjekt wird verständlich nur, wenn man darin das Zitat aus der Kritik der Urteilskraft mit hört, die diesen Begriff auf die Sphäre der ästhetischen Produktion (der Hervorbringung des Genies) bezieht. Dieser Naturbegriff ist in sich selber historisch-gesellschaftlich vermittelt, er ist ein Teil der Herrschaftsgeschichte, er bezeichnet den Objektbereich von Herrschaft, der in die Geschichte der Herrschaft verflochten ist, mit ihr sich ändert. Erst im Bann des Weltbegriffs wird die Natur zu etwas Festem, Unveränderlichen. Die Sonne Homers scheint auch uns, aber wir leben nicht in der gleichen Natur.

    Ist nicht die Vermutung begründbar, daß die naturwissenschaftliche Medizin heute in eine Krise gerät, die auf die innere Logik der Herrschaftsgeschichte zurückweist und u.a. auch an der RAF sich ablesen läßt, eine Krise, die mit der Konstellation von Objektverlust, Autismus und Geiselnahme sich bezeichnen läßt? Der Autismus wäre z.B. an der „Gen-Forschung“, in der – in der Konsequenz rassistischer Konstruktionen der „Erbforschung“ – die Forschung beginnt, ihre Objekte selber zu produzieren und die Kranken, die, was mit ihnen passiert, nicht mehr zu durchschauen vermögen, unterm Vorwand medizinisch notwendiger Maßnahmen, zur Experimentalmasse tendentiell paranoider Forschungen macht. In wie hohem Grade das auch ökonomisch determiniert ist, mag man an der Tendenz der Apparatemedizin erkennen, die die Nutzung der Geräte nicht mehr an den diagnostischen Erfordernissen der Krankheit, sondern an der Begründbarkeit im Rahmen der kassenärztlichen Abrechnungsmöglichkeiten, der Gebührenordnung, orientiert. Zu untersuchen wäre, in welchem Maße das, was heute „Gesundheitsreform“ heißt, durch Zwänge dieser Entwicklung determiniert ist.

    Die Konstellation von Autismus und Geiselnahme gründet in der Logik der fortschreitender Instrumentalisierung, einer Logik, in der Mittel und Zwecke ununterscheidbar sich vermischen und nicht mehr „objektiv“ sich trennen lassen.

    Ist nicht die Geschichte vom Traum des Nebukadnezar ein Schlüssel zu diesem Vorgang, der nicht auf die genannten Bereiche sich beschränkt, sondern die gegenwärtige Phase der Herrschaftsgeschichte insgesamt charakterisiert (und ist nicht die RAF ein Indikator der Nachkriegs-Herrschaftsgeschichte, des gegenwärtigen Stands der Geschichte der Naturbeherrschung, auch der Nachkriegsgeschichte der Beziehung der Naturwissenschaften zum Staat, die nur sich begreifen läßt, wenn man die darin sich reproduzierende Geschichte des Faschismus erkennt)?

    Modell der Konstellation von Autismus und Geiselhaft ist die Beziehung des Staats zur Wirtschaft, die ökonomische Konstruktion des Lebens in einer Welt, in der nicht mehr nur die Produktions-Einrichtungen, sondern zugleich auch die sie regelnden staatlichen Institutionen ihre Autonomie endgültig eingebüßt haben und zu einem Anhängsel der davon unabhängigen Kapital-Gesetze und -Bewegungen geworden sind.

    Ontologischer Trieb: Heute ertragen es die Menschen nicht mehr, daß andere Menschen – Menschen außerhalb des Definitionsbereichs, dem sie sich selber zurechnen: der Familie, der Nation, dem Geschlecht, dem Stand, dem Beruf, der Religion – sich herausnehmen, auch Menschen zu sein. Sie sollen bleiben, was sie sind: Ausländer, Arbeiter, Frauen, Geschäftsführer, Väter, Verkäufer, Juden, Beamte.

  • 9.4.1997

    Heute wird auch die Philosophie zum Markenartikel: Es gibt weder die Kritische Theorie noch die Theologie.

    Adornos Programm der „vollständigen Säkularisierung aller theologischen Gehalte“ ist zweideutig: Die christliche Theologie, die orthodoxe dogmatische Theologie, ist bereits – als Theologie hinter dem Rücken Gottes (als „Rede von Gott“) – das Produkt ihrer vollständigen Säkularisierung, während Adornos Konzept auf das genaue Gegenteil: auf das Ende der verdinglichten Theologie und die Realisierung der Theologie als eine Gestalt eingreifender Erkenntnis abzielte, auf eine Theologie im Angesicht Gottes.

    Die Orthodoxie ist der Inbegriff der 99 Gerechten, die Geschichte der Häresien der des einen Sünders und seiner Wege des Irrtums. Über die Bekehrung dieses einen Sünders herrscht mehr Freude im Himmel als über die 99 Gerechten.

    Die Kritik der Metaphysik, wenn sie nicht im Mythos enden soll, ist nur möglich durch Kritik der Ontologie, an deren Stelle die Ethik zu treten hätte, im Kontext einer Theologie, die den Satz zur Richtschnur der Erkenntnis macht, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen. Dem entspricht der Benjamin’sche Begriff der Lehre.

    In dem die Geschichte der Dogmenbildung begleitenden Prozeß der Auseinandersetzung des Christentums mit den Häresien ist dieser Imperativ externalisiert, zum Instrument der Verurteilung und zum logischen Kern eines Schuldverschubsystems gemacht worden, mit den bekannten fürchterlichen Folgen fürs Christentum.

    Modell war die Internalisierung des Mythos, des Schicksalsbegriffs, in der Ursprungsgeschichte der Philosophie (des Begriffs). Anhand der Ursprungsgeschichte der Philosophie wäre der Zusammenhang des Ursprungs des Schuldverschubsystems mit der Konstituierung der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt zu demonstrieren.

    Der Begriff der Größe hängt mit dem des Erhabenen zusammen. Deshalb ist bei Kant der Sternenhimmel über mir ebenso „erhaben“ wie das moralische Gesetz in mir. Das Erhabene ist das über alles, was der Fall ist, Erhabene, das über die Welt Erhabene. Aus der gleichen Logik stammt das historische Attribut der Größe, das den historischen Prozeß der Konstituierung der Welt (von Alexander bis zum preußischen Friedrich) begleitet.

    Der Begriff des Erhabenen erinnert ans Erhobene und ans Haben.

    Ist das Erhabene der selber nicht säkularisationsfähige Grund des Säkularisationsprozesses, ein Moment der inneren Logik des Eigentums?

    Wird die „irre Fahrt zu den Sternen“ heute nicht im Ernst zum Menetekel?

    Der biblische Fluch ist ein Instrument der Verurteilung, der Inbegriff seiner Logik (der biblische Reflex des Schicksals). Hat er nicht in der Tat etwas mit der Idee des Himmels zu tun?

    Wie hängt der zweite Schöpfungstag mit Lev 26 und Dt 28 zusammen?

    Das Problem der Theologie heute ist von dem der Apologie irgend einer der kirchlichen Denominationen streng zu trennen. Eine andere Frage ist, ob, was heute noch Theologie heißen darf, überhaupt an einer der akademischen Einrichtungen, seien sie kirchlich oder seien sie staatlich, noch seinen Ort finden kann. Theologie heute wäre

    – prophetische, und d.h. sowohl staats- als auch kirchenkritische Theologie,

    – messianische, auf Realisierung, Erfüllung zielende Theologie und

    – parakletische Theologie, das Organ des verteidigenden, das Gericht überwindenden, ihm enthobenen Denkens, das Organ des aufrechten Gangs.

    Das Buch der Richter ist ein prophetisches Buch, und als solches hat Lillian Klein es erstmals wieder begriffen (über der Prophetie steht der Satz, daß die Attribute Gottes im Imperativ, nicht im Indikativ stehen).

    Zur Begründung des Kausalitätsprinzips: Die gemeinsame Logik der modernen Naturwissenschaft und des Kapitalismus ist die Logik der „List der Vernunft“, sie ist im genauesten Sinne hinterhältig (sie konstituiert sich hinter dem Rücken der Dinge). Der Listige spannt den Andern, ohne daß er es merkt, für seine Zwecke ein. Das biblische Symbol des Subjekts dieser Vernunft ist die Schlange, ihr grammatisches, sprachlogisches Korrelat das Neutrum.

    Wie hängt die List mit dem Unschuldssyndrom und dem Schuldverschubsystem zusammen?

    Die Fähigkeit zur Schuldreflexion entgründet den Universalismus, destruiert das Überzeitliche und bindet die Erkenntnis an die Aktualität, an ihren Zeitkern. Das Unum ist nicht die Grundlage, sondern – in dem Gebot der Einigung des Gottesnamens – das Ziel.

    Was geschieht, wenn der westliche Antizionismus und die antiislamischen Tendenzen sich vereinigen?

    Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet: Der „Hinterkopf“, die Fähigkeit, mit offenen Fragen zu leben und das Urteil zurückzustellen, ist das Organ der Gottesfurcht.

    Zu einer Theorie des Feuers: Sind die Objekte der Mikrophysik gemeinsame Abkömmlinge des „Wärmestoffs“ und des „Äthers“?

    Die Bundesanwaltschaft: das suizidale Experiment der gnadenlosen Anklage.

    Die kleine Veränderung, die der Messias an der Welt vornehmen wird, ist die Selbstreflexion des Hinter dem Rücken und die Selbstbegründung des Angesichts. Das wäre die endgültige Umkehr und die Befreiung von den sieben unreinen Geistern. Diesen Vorgang beschreibt die Apokalypse.

    Die Siebenzahl bezeichnet keine Fülle, sondern die Gesamtheit der Wege des Irrtums.

    Teufel und arme Seele: Wer den Begriff der Schöpfung auf die Welt bezieht, hält die Frage offen, ob die Menschen zur Welt oder auf die Seite des Schöpfers gehört. Das ist der Preis für die Vorstellung der Einheit der Welt.

    Der Historismus ergreift die Partei des Todes.

    Reflektierende Urteile – und die sind das Element, in dem die Theologie sich bewegt – sind nicht konstitutive, sondern regulative Urteile.

    Wäre es nicht notwendig, nachträglich noch einmal die Diskussion zwischen Benjamin und Horkheimer über die Vergangenheit des Vergangenen aufzunehmen? – Vgl. hierzu Horkheimers Frage, ob auf dem riesigen Leichenberg, auf dem wir stehen, die Idee einer richtigen Gesellschaft überhaupt noch sich denken läßt.

    Hat der Satz, daß Auschwitz uns umso näher zu rücken scheint, je weiter wir uns historisch von ihm entfernen, nicht etwas mit dem Satz Karl Thiemes, daß Hitler nicht der Antichrist, sondern nur die Generalprobe war, zu tun?

    Der letzte Satz des Jakobusbriefs ist das christliche Äquivalent zu Jer 3134. Zwischen beiden Worten liegt der Ursprung des Weltbergriffs.

    Die kopernikanische Wende hat die Differenz zwischen Himmel und Erde zwar nicht aufgehoben, aber so verwirrt, daß davon auch die Theologie nicht unberührt geblieben ist. Als die Erde unter die Planeten, und damit an den Himmel, versetzt wurde, ist auch der Himmel und mit ihm die Theologie endgültig entgegenständlicht worden. Seitdem sind wir selbst zum Gegenstand der Theologie, ist das zentrale Thema der Theologie, die Beziehung von Gericht und Barmherzigkeit, zu einem inneren Problem der Erkenntnis geworden.

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