Benveniste

  • 22.5.1995

    Die „Trennung … zwischen Geschäften einerseits … und jenem Umgang andererseits, der die Privatpersonen als Publikum verbindet“, von der Habermas (Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 248) spricht, ist der euphemistische Ausdruck eines ganz anderen Sachverhalts: Die Tretmühle der lohnabhängigen Arbeit schließt jene Autonomie aus, die die heute übrigens selber bereits ideologische Grundlage von „Geschäften“ ist. Und der „Umgang“, der diese „Privatpersonen als Publikum verbindet“, ist die vollendete Heteronomie: Er gehorcht den Imperativen von Reklame und Kulturindustrie, die auch die traditionellen Kontrollmechanismen der Nachbarschaften, der Stände, der „Volks“- und Religionsgemeinschaften in ihre Regie genommen haben. Ideologie ist nicht mehr nur das falsche Bewußtsein, das durch Aufklärung zu berichtigen wäre, sondern die Verfassung der Öffentlichkeit und der sie konstituierenden Institutionen selber, die die Wahrnehmung und das Denken der Menschen bestimmen.
    Das stumme Innere des gesellschaftlichen Lebensprozesses, an das heute keine Reflexion mehr heranzureichen scheint, bestimmt das Verhalten der Menschen ähnlich wie das stumme Innere der Gattung das Instinktverhalten der Tiere.
    Die Sünde der Welt: Ist nicht die Grenze zwischen mir und den Andern die Grenze zwischen Täter und Opfern? Und das ist die fatale Funktion des Weltbegriffs, unter dessen Herrschaft ich mich als Anderer für Andere erfahre, daß er das Selbstmitleid (das Bewußtsein, Opfer der Verhältnisse zu sein) erzeugt, das heute alle Erfahrung durchtränkt. Der Weltbegriff hat die Liebe von der Barmherzigkeit getrennt, die so zum Selbstmitleid, zur Sentimentalität, verkommen ist.
    Das Prinzip der Selbsterhaltung, das den Weltbegriff begründet, ist zugleich der Grund wie auch eine Rationalisierung des Selbstmitleids.
    Zum Problem der Öffentlichkeit: Öffentlich wird die Wahrheit in der Gestalt des Urteils. Urteile aber sind beweisbedürftig und beweispflichtig. So definiert die Grenze des Beweises die Grenze der Wahrheit, die damit unter Rechtfertigungszwang gestellt wird.
    Der Weltbegriff ist der Inbegriff des Herrendenkens, der Naturbegriff der Inbegriff aller seiner Objekte. Damit hängt das zusammen, was man die christologische Struktur des Naturbegriffs nennen könnte, der unter dem Zwang dieser logischen Konstellation
    – im Objektbegriff das Substrat von Herrschaft: das reine Opfer,
    – im Kausalitätsprinzip den Ursprung von allem: den Schein des Schöpferischen und
    – im Gesetz der Gegenständlichkeit die Totalität dessen, was dem gesellschaftlichen Schuldzusammenhang enthoben zu sein scheint: den Schein der Erlösung,
    bezeichnet.
    Ist nicht die kantische Bemerkung, daß die Begriffe Welt und Natur „gelegentlich ineinander laufen“ ein spätes Echo der homousia?
    Ist die „Feste des Himmels“ die Manifestation der gleichen Gewalt, die uns den Weg in die Vergangenheit versperrt? Und verweist dann nicht das Wort, daß am Ende der Himmel wie eine Buchrolle sich aufrollt, zusammen mit der Aufhebung der Logik der Schrift (mit der Erfüllung des Worts) auf die Befreiung des Vergangenen: die Auferstehung der Toten?
    In welcher Beziehung stehen Benvenistes „indoeuropäische Institutionen“ zur indoeuropäischen Sprachlogik (zu Ursprung und Geshichte der indoeuropäischen Grammatik), und in welcher Beziehung steht diese Sprachlogik zu Ursprung und Geschichte der Logik der Schrift (zu ihrer institutionellen Verankerung in der Gesellschaft)?
    Kann man die indogermanische Sprachlogik von der „hebräischen“ dadurch unterscheiden, daß, während jene der Logik der Schrift gehorcht, ihr in der Entwicklung der indoeuropäischen Sprachen fortschreitend sich angleicht, diese die Logik der Schrift zugleich in symbolischer Gegenständlichkeit (in den Symbolen der Schlange, des Kelches u.ä.) objektiviert: Der Name der „hebräischen“ Schrift ist hierin (in der Fremdheit gegen ihr eigenes Ursprungsgesetz) begründet. Rührt diese Konstellation nicht an den Grund der Logik der symbolischen Erkenntnis?
    In der Weltanschauung begreift sich die Bekenntnislogik als subjektive Form der Anschauung: als Instrument der Bildung synthetischer Urteile apriori. War nicht die Apologetik eine der Wurzeln der Reklame, die den Übergang von der logischen Konstruktion zur technisch-industriellen Massenproduktion synthetischer Urteile apriori bezeichnet.
    Schrift und Geschmack: Die Fähigkeit zur Reflexion der Schrift hängt zusammen mit der Fähigkeit zur Reflexion des Geschmacks.
    Zum Symbol des Kelchs: Wenn das Kelchsymbol auf die transzendentale Ästhetik: auf die subjektiven Formen der Anschauung sich bezieht, auf den ästhetischen Bedingungszusammenhang der Vergegenständlichung, so läßt sich das auf den einfachen Nenner: Subsumtion unter die Vergangenheit bringen. Stimmen damit nicht die Attribute des Kelchs: Taumelbecher, Kelch des göttlichen Zorns, des Grimms, und Unzuchtsbecher aufs genaueste zusammen? Der Kelch bezeichnet das Medium, in dem (im Sinne des Titels von Julian Jaynes) der „Ursprung des Bewußtseins“ zu suchen ist: der Ursprung des Bewußtseins, das auf eine vergegenständlichte Welt sich bezieht.

  • 7.2.1995

    Das griechische Wort für Religion „threskeie“ wurde ursprünglich nur auf fremde Religionen angewandt, erst seit Augustus „bezeichnet das Wort … jeden Kult, ob er nun einheimisch oder fremd ist“ (Benveniste, S. 506). War nicht die persische (achämenidische) Praxis, fremde Kulte nicht nur anzuerkennen, sondern zu restituieren und zu fördern (vgl. Esra und Nehemia), ein Vorläufer des römischen Pantheon, und verweisen nicht beide auf den Beginn einer Emanzipation der imperialistischen Politik von der Religion und Instrumentalisierung der Religion, die dadurch erst zu einem gesellschaftlichen Sonderbereich (und zu einem Spiegel der Herrschaftsgeschichte) geworden ist: Seitdem ist jede Religion eine fremde Religion, eine Religion, die in sich selbst den Widerstreit zwischen Tradition und „Bekehrung“ (zwischen der Fremdheit des Vergangenen und der der anderen Religionen) austragen muß. Seitdem ist die Klärung ihrer Beziehung zur Herrschaftsgeschichte eines der ungelösten Probleme der Religion. Das Christentum hat mit dem Theologumenon der „Entsühnung der Welt“ dieses Problem nur vertagt, nicht gelöst.
    Die Ableitung, die Laktanz und Tertullian dem Begriff der religio geben, wenn sie es auf ligare (statt richtig auf legere) zurückführen (Benveniste, S. 507), mag etymologisch falsch sein (es müßte dann religatio, nicht religio, heißen), logisch bezeichnet sie genau den Schritt, den das Christentum über das Religionsverständnis im Römischen Reich hinaus macht: die Wendung der Skrupel, der Bedenken, die die Menschen von bestimmten Handlungen zurückhält, ins Affirmative: in die „Rückbindung“ an einen Gott, der seinen eigenen Sohn opfert, um eine Welt zu „entsühnen“, die im imperialen Rom (und in den seine Strukturen nicht aufhebenden, sondern fortentwickelnden Nachfolge-Reichen) unerlöst bleibt. Eine Religion, deren Hauptaufgabe (ohne daß sie es selbst bemerkt hätte) die Rechtfertigung des Bestehenden (und nach der Vergesellschaftung der Herrschaft in der Gestalt des verweltlichen Subjekts die Rechtfertigung eben dieses Subjekts) geworden ist, wird zwangsläufig zu einem Institut der „Rückbindung“, der Verstrickung ins System: zur Leugnung der Freiheit, die sie in ihrem Ursprung verkörperte. Index dieser Geschichte sind der Ursprung und die Geschichte des Weltbegriffs, dessen theologische Rezeption die Selbstblendung der Religion zur Folge hatte.
    Hat sich nicht schon in Hegels Bemerkung, daß die Natur den Begriff nicht halten kann (was anhand der Existenz verschiedener Tierarten beweist), das Scheitern der Reichsidee angekündigt? Bezeichnet diese Bemerkung nicht genau die Verblendung im Kern der preußischen Reichsidee? Endet nicht Hegels Astronomie in der Planetentheorie; der Fixsternhimmel bleibt außerhalb seiner Philosophie, weil er außerhalb des Bereichs der List der Vernunft bleibt?
    Ist nicht der Tierkreis das Realsymbol der äußeren Beziehungen der Staaten untereinander, während das Planetensystem auf die Innenstruktur der Staaten sich bezieht? Haben der Orion und die Plejaden etwas mit Gog und Magog (oder mit den beiden apokalyptischen Tieren, mit dem Tier aus dem Meer und dem Tier vom Lande) zu tun, mit der Beziehung von Politik und Religion?
    Heideggers Philosophie leugnet den Satz, daß die Pforten der Hölle sie (die Kirche) nicht überwältigen werden.
    In der Form, in der Habermas Adornos Satz vom „Eingedenken der Natur im Subjekt“ zitiert, steckt der ganze Habermassche Wissenschaftsfundamentalismus, der im übrigen ein Stück linker Tradition war und einer der Gründe für das Scheitern des real existierenden Sozialismus gewesen ist.

  • 5.2.1995

    Der Unterschied zwischen prego und quaero verweist darauf, daß es schon im Lateinischen einen Unterschied zwischen der verbalen Frage und der Erforschung eines Sachverhalts gab: das quaero schloß die Anwendung technischer Mittel bei der Wahrheitsermittlung mit ein (u.a. die Folter, vgl. Benveniste, S. 413ff). Kann es sein, daß die gleiche Unterscheidung auch auf Gebet und Opfer sich anwenden läßt, daß das Opfer eine Folter Gottes ist?
    Ist nicht das Amt des Quästors das Indiz für den gemeinsamen Ursprung von Geldwirtschaft, Steuern, Straf- und Zivilrecht?
    Hat das quaero (wie auch das aqua, auch hydor, majim: das Wasser) etymologisch etwas mit dem Relativpronomen zu tun (gibt es im Hebräischen Relativsätze, und werden diese im Griechischen nicht in weitem Umfange noch durch Partizipialkonstruktionen gebildet)? Hängen nicht die „Nebensätze“ (insbesondere deren Hauptformen: die Konditional- und die Relativsätze) mit dem Ursprung und der Geschichte des Neutrum zusammen, sind sie nicht Teil des Bedingungszusammenhangs, in dem das Subjekt zum Objekt und der Name zum Begriff neutralisiert worden ist? Steckt nicht die ganze Natur in den Nebensätzen (und werden mit der Hypostasierung der Natur die Beziehungen der Neben- zu den Hauptsätzen neutralisiert: wer Neben- zu Hauptsätzen macht, treibt Physik)? Die kantische Kategorienlehre beschreibt das Schicksal der Grammatik unterm Bann des Inertialsystems.
    Hat das Tier aus dem Wasser (das Objekt des quaero) sein Vorbild im Leviatan, und verweist nicht auch die Hure Rahab, die zum Stammbaum Davids und Jesu gehört, auf diesen Bereich? Beschreibt nicht Franz Rosenzweig, wenn er von den Wenns und den Vielleicht spricht, diesen Bereich des quaero, des Wassers; und ist nicht das Problem der kontrafaktischen Urteile eine logische Folge der Geschichtsforschung? Heideggers Begriff der Frage: das Versinken in dieser Sintflut, und die Fundamentalontologie: eine Wasserleiche.
    Ist nicht das Inertialsystem der Inbegriff des Notwendigen: die Redundanz des Möglichen.
    Das Vergangene ist nicht nur vergangen; in der Sprache, der Gestalt der objektiven Erinnerung, ist es gegenwärtig; mit der Objektivation des Vergangenen wird diese Erinnerung verdrängt (Ursprung des Problems der kontrafaktischen Urteile, auch des Problems der „Fälschungen“ in der Geschichte). So gehört die Objektivation des Vergangenen (der Geschichte und der Natur) zu den Konstituentien der Welt.
    Hat die Kirche nicht ihren Beitrag mit zur Entstehung einer Welt geleistet, in der die Barmherzigkeit zur Hysterie geworden ist (Sünde wider den Heiligen Geist)?
    Die Mathematik, die Geldwirtschaft und die Bekenntnislogik sind die logischen Instrumente der kollektiven Einsamkeit.
    Das nihil absolutum ist keine Kategorie des Seins, sondern eine des Handelns: der totalisierte Vernichtungstrieb.
    Karl Thieme hat einmal die Geschichte vom Schiffbruch des Paulus vor Malta auf die Kirche bezogen: Am Ende wird die Kirche zwar untergehen, aber alle, die in ihr sind, werden gerettet. Ist das nicht auf den Punkt: Entkonfessionalisierung der Kirchen zu beziehen? Untergehen wird die Bekenntnislogik (gleichzeitig mit der Verwandlung des steinernen in ein fleischernes Herz). War nicht der Faschismus der Sturm vor Malta?
    Durch ihre Entzauberung ist die Welt in den Bann des Herrendenkens geraten.
    Hängt die Individualisierung der Schuld bei Ezechiel mit dem Titel Menschensohn zusammen und mit dem Hintergrund, auf den das „dixi et salvavi animam meam“ sich bezieht?
    Der katholische Mythos ist ein Mythos der Weltflucht: Der Himmel bezeichnet einen Ort außerhalb der Welt. Damit hängt es zusammen, daß in der Kirche die Vorstellung einer Veränderung der Welt nur noch apokalyptisch, als Weltuntergang, gedacht wird. Aber dieses Außerhalb der Welt ist mit Kopernikus im wahrsten Sinne utopisch geworden; es gibt keinen „Ort“ des Himmels mehr. Hat die Tatsache, daß der Himmel „im Raum“ nicht gedacht werden kann, nicht eher eine logische als wiederum eine „räumliche“ Bedeutung? Der Himmel kann nicht als Inhalt des Kelches gedacht werden. Durch die kopernikanische Wende ist der katholische Mythos aus dem Raum in die Sprache transponiert worden; nur hat bis heute niemand die Konsequenzen daraus gezogen (Kelchsymbol).
    Zorn und Grimm: Ist nicht der Zorn das Korrelat der subjektiven Form der äußeren und der Grimm das der Form der inneren Anschauung? Und ist die Unzucht die Verbindung beider: der Begriff der Materie?
    Ist nicht die Linguistik heute zu einer Entsorgungswissenschaft geworden?

  • 4.1.1995

    Gibt es nicht ein Präteritum, das eigentlich die Zukunft meint? Gehört dazu nicht das Präteritum im Anfang des Johannes-Evangeliums? Ist die archä, in der der Logos war, eine archä, die noch nicht ist (ein Stück vergangener Zukunft)?
    Die Plancksche Strahlungsformel ergibt sich aus der Beziehung der kinetischen zur Strahlungsenergie: Die Anzahl der Atome (oder auch der Freiheitsgrade) in einem Volumen bleibt vorgegeben und konstant, während die Anzahl der Oszillatoren der elektromagnetischen Strahlung abhängig ist von der Frequenz und Wellenlänge der Strahlung: mit der Energie gleichsam rückgekoppelt ist. Damit ändert sich die Grundlage der statistischen Beziehungen der beiden Energieformen.
    Zum philein (Benveniste): Es hat mehr mit dem Possessivverhältnis zu tun, als Benveniste zugeben will. Zum unmittelbaren Possessivverhältnis kommt ein reflexives hinzu. Der Besitzende ist selbst vom Besitz besessen. Das, was im Besitzverhältnis dem Objekt widerfährt, reflektiert sich im Subjekt: im Selbstmitleid, in der „affektiven Beziehung zum Selbst“, im Geliebt-werden-Wollen. Die gesamte Philosophie steht unter dem Bann dieses Gesetzes.
    „Wenn die Welt euch haßt, …“ Der Begriff der Welt in diesem Satz bezieht sich sowohl auf die Allgemeinheit „alle Menschen“ wie auch auf den unbestimmbaren Grund der Objektivität des Weltbegriffs (das Geld). In der vom Tauschprinzip bestimmten Gesellschaft ist das Geld der Inbegriff des Anderen, der Feind aller, den es durch eigene Anstrengung zu besiegen gilt. Der Sieger fühlt sich vom Geld geliebt, der Verlierer (und jeder ist ein potentieller Verlierer) fühlt sich gehaßt (schuldig, verurteilt). Und das Christentum als die Religion der Liebe, nachdem es als Siegesreligion im Selbstmitleid versunken ist, schließt die Armen aus.
    Die Sexualmoral hat der Liebe in ihrem eigenen Zentrum eine Haßquelle eröffnet (der Begriff der Unzucht bezeichnet eine Qualität des sexualmoralischen Urteils und nicht ihres Objekts).
    Sind nicht die drei evangelischen Räte: Gehorsam, Armut und Keuschheit auf die drei transzendentalen Ästhetiken bezogen: auf die subjektiven Formen der Anschauung, aufs Geld und auf die Bekenntnislogik (die Korrelate des theoretischen, des praktischen und des sexualmoralischen Urteils)?

  • 3.1.1995

    Ist nicht die „Bruderschaft“, als Form der Allgemeinheit, die in der gemeinsamen Beziehung zum „Vater“ gründet, das Medium, in dem die Logik der Schrift (und mit ihr der Begriff des Wissens) sich entfaltet: das Medium der Vergesellschaftung, des Objektivierungsprozesses und der Verweltlichung (Ursprung des Neutrum, Bekenntnislogik)?
    Fantastisch die Ableitung des Begriffs „frei“ (und der „Liebe“) aus dem Selbstmitleid, dem Bedürfnis geliebt zu werden (Benveniste, S. 257ff): Folge des Opfers der Vernunft, das die Bedingung der Aufnahme in die Brüderhorde ist: deren späterer Repräsentant ist das Bekenntnis, dessen Logik hier entspringt.
    Der Begriff des Tieres und der der Selbsterhaltung sind korrelative Begriffe; deshalb gehört der Weltbegriff, der Inbegriff der gegenständlichen Korrelate der Selbsterhaltung, zu dem des Tieres. Die Menschwerdung beginnt mit der Fähigkeit, das Selbsterhaltungsprinzip zu reflektieren.
    Ist nicht mit der „affektiven Beziehung zum Selbst“, die dem indoeuropäischen Begriff der Freiheit zugrundeliegt, der Grund dafür gelegt worden, daß im Deutschen das Sein sowohl das allgemeine Possessivpronomen als auch den Infinitiv des Hilfsverbs „Sein“ bezeichnet (vgl. S. 257 und S. 260)? Diese affektive Beziehung zum Selbst ist Teil eines Schuldzusammenhangs, den das Christentum theologisch verankert hat: Sie konstituiert sich in einer Gestalt der Selbst-Exkulpierung (der „Sündenvergebung“), die über das theologische Konstrukt der „Entsühnung der Welt“ (der Opfertheologie und ihrer theologischen Konnotationen) vermittelt ist (und dem Verweltlichungsprozeß seine Schubkraft verleiht).
    Raub der Sabinerinnen: Der Funktion der „angeheirateten Verwandschaft“ im Kontext der indoeuropäischen Institutionen liegt eine im Eigentumsprinzip gründende Rechtsbeziehung zugrunde. Ihr Ursprungsmodell ist der Frauenraub, der der ersten Gestalt der Ehe in der Männerhorde ähnlich zugrunde liegt wie der Diebstahl dem Handel. Gründet das Institut des Privateigentums (sowie der Ehe und des Staates) nicht doch generell in der gewaltsamen Aneignung der Beute durch nomadisierende Männerhorden (das erste rechtsfähige Eigentum waren Sklaven und Frauen)?
    Benveniste hat nur bedingt recht, wenn er versucht, den Begriff des philein, des Liebens, aus der Possessivbeziehung herauszulösen. Selbstverständlich ist er nicht auf die positive, dingliche Eigentumsbeziehung eingeschränkt; aber konstituiert er sich nicht in einer Eigentumsordnung, die auch das Subjekt, den Eigentümer, in ihren Bann zieht und verändert (im Kontext des Ursprungs des Staates, dessen Vorläufer die Brüderhorde ist, und der die Eigentumsordnung, in der es dann Eigentum als Privateigentum überhaupt erst gibt, konstituiert). Wer die Idee des richtigen Handelns, und wer Schuld und Verantwortung an den König und die durch ihn gesetzte Rechtsordnung delegiert, wer sie von der Barmherzigkeit trennt, bleibt unversöhnt, anfällig fürs Selbstmitleid, süchtig danach geliebt zu werden.
    Das Geliebt-werden-Wollen ist ein apriorischer Tatbestand im Herrschaftsbereich der Ontologie und diese eine Emanation des Staates.
    Das Christentum ist dem Liebessyndrom verfallen, als es die Prophetie vor dem Hintergrund des Theologumenons seiner Erfüllung im Christentum als erledigt und abgetan, wie in der vorchristlichen Vergangenheit, so auch heute nur für die Juden zuständig, definierte. Dieses Konstrukt gehört in die Ursprungsgeschichte des Antisemitismus. Der Antisemitismus war immer schon ein Rädchen im Exkulpationsmechanismus.
    Die logischen Strukturen, in die (Glaubens-)Bekenntnis und Sündenvergebung heute geraten sind, werden durchsichtig in der Reklame (die Adorno zufolge den Tod verschweigt).
    Der Fundamentalismus ist der Greuel am heiligen Ort: Er ist nicht mehr durch bloße Verurteilung zu bekämpfen, sondern allein durch Reflexion und Auflösung des Schuldzusamenhangs, zu dessen Konstituentien die Verurteilung und zu dessen Folgen der Fundamentalismus gehören.
    Die Schlange, die das klügste aller Tiere war, hat das Wissen erfunden. Welche Beziehung besteht zwischen der Schlange (dem saraph) und den Seraphim? Nicht die Seraphim, sondern die Cherubim mit dem „kreisenden Flammenschwert“ stehen vor dem Eingang des Paradieses.
    Wut ist ein unkeuscher Zorn. Die Empörung hat ihn zur kleinen Münze gemacht, für den täglichen Gebrauch (im Tratsch) umgeformt. Wessen Bild trägt diese Münze?
    In welcher Beziehung stehen die kantischen Antinomien der reinen Vernunft zur Logik des Beweises, was bedeuten sie für die Logik des Beweises? Im Zusammenhang des Rechts gibt es drei Beweisverfahren: den Zeugenbeweis (hierzu gehören das Martyrium und die Folter), den Indizienbeweis (ausgebildet in der Geschichte der Hexenvefolgung) und das Geständnis (das Judesein war einmal das absolute, vom Juden nicht mehr widerrufbare Geständnis). Als „sicherstes“ Verfahren gilt das Geständnis, in dem der Angeklagte die Schuld auf sich nimmt („gesteht“): Dieses Verfahren spricht den Richter frei, während der Zeugen- und der Indizienbeweis der Würdigung durch den Richter unterliegen, ihn in die Verantwortung mit hereinnehmen. – Im Recht führt das Bekenntnis der Schuld, die Übernahme der Verantwortung, nicht zur Befreiung, sondern zum Urteil und zu der als Strafe neutralisierten Rache; der Zeugenbeweis unterliegt dem Verdacht des falschen Zeugnisses, während der Indizienbeweis die Möglichkeit des Fehlurteils (der Täuschung oder des Irrtums) nicht ausschließt.
    Verweist nicht das Phänomen der Fälschungen in der Geschichte auf ein herrschaftsgeschichtliches Problem? Die Fälschung gehört ebenso zur Herrschaftsgeschichte wie Mord und Raub; sie gehört zur Herrschaftsgeschichte als Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der projektiven Erkenntnis: als Schatten des dem Erkenntnistriebs innewohnenden Exkulpationstriebs. Hegels List der Vernunft gehört in diesen Zusammenhang. Die Geschichte der Fälschung vollendet sich in der Vorstellung des unendlichen Raumes und der unendlichen Zeit: in der Konstituierung der subjektiven Formen der Anschauung (der Objekte der kantischen Antinomien).
    Das hängt zusammen mit der eigentumsbegründenden Kraft und Funktion des Staates, dem Nationalismus als Manifestation der Gewalt gegen die konkurrierenden Eigentumsansprüche anderer Nationen.
    Es wäre zu untersuchen, ob und wie die anwachsenden Einbruchs- und Diebstahlsphantasien in den Medien und in der Gesellschaft logisch mit der anwachsenden Xenophobie zusammenhängen.
    Sind nicht die Stämme und Völker, Sprachen und Nationen Denkmäler der Geschichte der Konstituierung der Raumvorstellung?

  • 30.12.1994

    In der Zivilisation (mit dem Ursprung der „Nation“, des Staates) wird der Gast zum Feind (vgl. Benveniste, S. 78). Damit hängt die Beziehung des Begriffs der Barbaren zum Namen der Hebräer zusammen.
    Die Sexualmoral appelliert an einen Trieb, der mit der Zivilisation (als Reflex des Ursprungs des Weltbegriffs und des Staates) im Innern der Menschen bildet: sie bezeichnet genau die „Unkeuschheit“, die sie zu bekämpfen vorgibt (Unzuchtsbecher).
    Die Analyse des Begriffs des Glaubens macht verständlich, wie sehr das etablierte Christentum in der indoeuropäischen Sprachlogik (Ursprung des Neutrum, Logik der flexierenden Grammatik, Inertialsystem und Bekenntnislogik) verwurzelt ist, durch sie zu einer Herrschafts-, Kampf- und Siegesreligion geworden ist (Benveniste, S. 135ff). Die Naturwissenschaft: der Kampf an der Naturfront.
    Liefert Benveniste mit seiner Analyse der indoeuropäischen Institutionen nicht den Schlüssel für die Erkenntnis des Zusammenhangs der christlichen Tradition und seiner Verwurzelung in der indoeuropäischen Sprachgeschichte mit dem Faschismus?
    Hat das Verhältnis der beiden apokalyptischen Tiere (aus dem Meere und vom Lande) etwas mit der Beziehung von Neutrum und Bekenntnislogik (Realität und Reklame) zu tun? Das „es war, ist nicht und wird wieder sein“ bezeichnet nicht eine historische Abfolge, sondern einen logischen, systemischen, strukturellen Sachverhalt.
    Die Vergangenheit ist die Hölle, deren Pforten die Kirche nicht überwältigen werden (ist die Natur die Hölle, und die Welt die Pforte dazu?).
    Ist nicht die Hysterie ein Teil der Geschichte der Beziehung der Philosophie zur Prophetie?
    Theologie kann erst dann wieder neu zum Leben erweckt werden, wenn es gelingt, die Erkenntnis aus dem Bann des Wissens zu lösen (vgl. die Differenz im kantischen Erkenntnisbegriff: die/das Erkenntnis). An die Stelle des Wissens wäre das Vertrauen in die erkennende Kraft der Sprache zu setzen.
    Ist die „Kultur der Empfindlichkeit“ nicht die Versuchung, der Eugen Drewermann erlegen ist, und für die er den Preis hat zahlen müssen: seine Konfliktunfähigkeit? Im Bannkreis der Empfindung kann man auf Konflikte nur mit Projektionen (nur mit dem Instrumentarium des Schuldverschubsystems) reagieren. Grundlage der Kultur der Empfindlichkeit ist die Unfähigkeit zur Schuldreflexion, die Logik des Rechtfertigungszwangs (die Bekenntnislogik). Der Begriff der Empfindung stammt aus dem Konstrukt der „sekundären Sinnesqualitäten“: er setzt die Unreflektierbarkeit der mathematischen Naturwissenschaften (und der Geldwirtschaft, des Kapitalismus, der politischen Ökonomie) voraus. Gegen die Überflutung durch die chaotische Mannigfaltigkeit der Empfindungen hat Kant den Wall seiner transzendentalen Logik errichtet, der aber auch nicht standgehalten hat.
    In dem Prophetenwort, daß am Ende die Gotteserkenntnis die Erde erfüllen wird, „wie die Wasser den Meeresboden bedecken“, bezeichnet das „wie“ nicht einen Vergleich, sondern das Objekt einer Substitution: Die Wasser werden durch die Gotteserkenntnis ersetzt. Dieses Ende beendet die Geschichte der Sintflut. Hierauf verweist das apokalyptische Bild von der Hure Babylon, die an den großen Wassern sitzt, wobei die Erklärung dieser Wasser, die in der Johannes-Apokalypse gegeben wird, in dieses Bild mit hereinzunehmen ist.
    Ist nicht die Ökonomie das Tier aus dem Meer; gehört dazu nicht der Seehandel (die Kaufleute und die Schiffsführer, die Spediteure)? Das Tier vom Lande (der falsche Prophet) würde dann den Weltbegriff, das Produkt der Selbstlegitimation des Bestehenden durch den Prozeß der Aufklärung, bezeichnen (die Philosophie, die Theologie und die Wissenschaften).
    Kopf und Hand (die Träger des Zeichens des ersten Tieres, des Tieres aus dem Meere), bezeichnen sie nicht die subjektiven Formen der Anschauung (mit der Bekenntnislogik) und den Begriff oder das Geld?
    Die Bekenntnislogik vertauscht Oben und Unten, das Geld (die politische Ökonomie) Rechts und Links und der Raum (die Naturwissenschaften) Vorn und Hinten.
    … Deshalb war der Confessor ein männlicher Heiligentyp und sein Pendant die Virgo (die im Kontext der Sexualmoral zur Imago der Frauenfeindschaft geworden ist).
    Edgar Morin hat einmal, in einer Untersuchung über das Kino, die Situation im Kino, das Eingesperrt- und Gefesseltsein in der Sitzreihe und an den „bequemen“ Kinostuhl (eine Situation, die das Fernsehen vergesellschaftet und privatisiert hat), mit der Situation des SS-Täters nach seiner Gefangennahme verglichen: abgesperrt vom Handeln, eingeschlossen in die „kontemplative“ Situation in der Gefängniszelle, zerfließt er in Selbstmitleid. Dieses Selbstmitleid ist der Boden, auf dem die Bilder des Films zu leben beginnen, die identifikatorischen Bedürfnisse des Zuschauers an sich binden (den Zuschauer „in ihren Bann ziehen“). Wäre die Erlösung nicht die Erlösung von der Erlösungsbedürftigkeit, die im Selbstmitleid gründet, und die der Ursprungsquell jener verhängnisvollen Religiosität ist, die heute um sich greift.
    Unterscheiden sich nicht Schrift und Wort wie Wasser und Feuer (die nur im Namen des Himmels eins sind)?
    Der Kreuzestod hat die Welt erschüttert, den Vorhang im Tempel (vor der Gegenwart des göttlichen Namens) zerrissen und den Himmel verdunkelt: Er hat die Welt in den Anklagezustand versetzt: in den Akkusativ. Das war der Anfang des Objektivationsprozesses.
    Nicht die Dummheit gilt es in der Vergangenheit zu begreifen, sondern den Erkenntnistrieb, der auch in dem befremdenden Erscheinungen sich manifestiert, und seine Behinderungen.

  • 29.12.1994

    Damnare heißt jemanden mit einem damnum belegen, ihm etwas von seinem Vermögen nehmen (Benveniste, S. 64). Damnare = verurteilen verweist auf das Eigentumsproblem und seine Konnotationen. Ist das Urteil nicht die Enteignung, die Ausbeutung, die Einbeziehung in den kollektiven Schuldzusammenhang?
    Ist nicht die Vater-Imago der Spiegel und der Katalysator des göttlichen Zorns (Vater und Kelch)? Als Gott den Menschen männlich und weiblich schuf, schuf er ihn im Bilde seiner Attribute (Gericht und Barmherzigkeit)?
    Was ist der Unterschied zwischen Haupt und Angesicht? Haben behaupten und enthaupten etwas mit einander zu tun? Ist nicht das Haupt das Angesicht von allen Seiten, das verdinglichte Angesicht? Zu den Häuptern gehören Kronen, zum Angesicht der Blick und das Wort. Welchen Kranz trugen die Caesaren (sh. die Dornenkrone Jesu)?
    Bereschit, im Anfang: Das be- bezeichnet das In, das reschit den Anfang? Hat das reschit ähnliche Konnotationen wie das griechische arche (Anfang, Ursprung, Ursache, Schuld)?
    Zur Rekonstruktion des Strafrechts: Diskriminiert der Staat nicht in den Strafrechtstatbeständen seine eigenen Taten an den Opfern? Ist nicht das Strafrecht ein Stück projektiver Verarbeitung der eigenen Wurzeln?
    Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand: wäre sie’s, würde sie dazu zwingen, das Strafrecht auf sich selber anzuwenden, nämlich als eine projektive Verfolgung der eigenen Verbrechen an anderen (Schuldverschubsystem). Das hat Carl Schmitt gesehen, und daraus die faschistische Konsequenz gezogen.
    Als Jesus die Sünde der Welt auf sich nahm, hat er dem Staat die Grundlage entzogen. Das war die causa prima seiner Verurteilung.
    Jesus ist in Bethlehem (im Haus des Brotes) geboren, er war ein Nazoräer (und hat in Nazareth gelebt), und in Kana (bei der Hochzeit von Kana, bei der man vom Brautpaar fast nichts hört, wohl von den Dienern und vom Kellermeister) hat er Wasser in Wein verwandelt.
    Zweck der Universitäten war seit ihrem Ursprung die Selbstlegitimation des Bestehenden. Das gilt auch für die Geschichte der Theologie seit dem Ursprung der Scholastik. Seit Kant, der an die Stelle der „Schulphilosophie“ die „Weltphilosophie“ gesetzt hat („kopernikanische Wende“), leistet die Welt (der Weltbegriff) diese Selbstlegitimation.
    Zum Begriff der Vergangenheit vgl. Benjamins Engel der Geschichte, zu dessen Füßen die Trümmer der Vergangenheit sich häufen, und Horkheimers Frage, ob sich auf einem solchen Leichenberg überhaupt noch die richtige Gesellschaft errichten lasse. Reinhold Schneider wollte als toter Hund am Fuße des Kreuzes begraben sein.

  • 12.01.93

    Bezeichnet der Begriff des Schicksals den Ursprung und das Zentrum des Neutrum (Benveniste, S. 400)?
    Sodom, Jericho, Gibea:
    – In Sodom bietet Lot seine Töchter an, aber er wird mit seinen Töchtern dadurch gerettet, daß die Engel JHWHs den Mob blenden. Lot, seine Frau und seine Töchter (ohne die Schwiegersöhne) entkommen, Sodom wird zerstört. (Wer ist Lot?)
    – In Jericho rettet die Dirne Rahab (hat sie etwas mit dem Meeresungeheuer Rahab zu tun?)die Boten Josues vor dem Mob, indem sie sie unbemerkt entkommen läßt. Jericho wird durch Posaunenschall zerstört, Rahab wird gerettet.
    – In Gibea bietet der Levit seine Nebenfrau (aus Bethlehem) an, sie wird zum Opfer des Mobs. Aber das wird zum Anlaß des Rachefeldzugs aller israelische Stämme gegen Benjamin und der Zerstörung Gibeas.
    Die früher in Schulen gebräuchliche Disziplinarstrafe: Stell dich in die Ecke und schäme dich, ist wohl nach dem Krieg aus dem Gebrauch gekommen. Hängt das mit dem falschen Ergebnis der Kollektivschuld-Diskussion (der „Kollektivscham“) zusammen?
    Kommen Wotan und Odin aus der gleichen Sprachwurzel, aus der auch odium, Haß, kommt? Und sind nicht Haß und Wut Komplementärformen, deren Zusammenschluß (Verkörperung) in der objektlosen Angst sich wiederfindet?
    Wie stehen Haß und Wut zu Macht und Ohnmacht?
    Haben die Befreiungskriege nicht Wotans Heer zitiert: Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.
    Ist nicht das Dogma ein Anästhetikum: gehört nicht zur Konstruktion des Dogmas (zur Logik des Bekenntnisses) eine narkotisierende Wirkung? Folge der „verandernden Kraft des Seins“, der Ontologisierung.
    War Paulus nicht der erste Konvertit, und gibt es eine Konversion ohne einen Rest von Ressentiment? Und: Wie verhält sich die Konversion (als bloßer Wechsel des Bekenntnisses) zur Umkehr?
    Zum Begriff des Neutrum: Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben.
    Die Kopenhagener Schule: Ist das nicht der ebenso ungeheuerliche wie entsetzliche Versuch, aus den Todeszuckungen die Anfänge des Lebens herauslesen zu wollen?
    Ist nicht der christliche Antijudaismus gerade jener Paranoia verfallen, die Jesus selber mit dem „Herr vergib ihnen“ auch als Opfer noch hat vermeiden wollen?
    Johannes wurde von Herodes geköpft, Jesus von Pilatus gekreuzigt und Stephanus von Saulus gesteinigt. Johannes ist der Rufer in der Wüste, der hinweist auf das Lamm, das die Sünden der Welt auf sich nimmt; Stephanus sah den Himmel offen und Jesus zur Rechten Gottes sitzen.
    Ist das Blut die flüssige, dingliche Scham? Was hat es dann
    – mit dem Blut Abels, das zum Himmel schreit,
    – dem Verbot, Blut zu essen,
    – mit dem Blutvergießen (dem Mord- und Tötungsverbot),
    – der seit zwölf Jahren blutflüssigen Frau, die durch die Berührung seines Gewandes geheilt wird,
    – mit dem „Dies ist mein Blut, … trinket alle davon“,
    – mit der (von Sünden) reinigenden Kraft des Blutes
    auf sich? Und wie hängt der Blutkreislauf mit dem Kreisen der Planeten zusammen (das kreisende Flammenschwert mit dem Verbot, Blut zu vergießen), mit der Beziehung des Blutes zu den Blättern der Pflanzen (das Innen bei Tieren entspricht dem Außen bei Pflanzen: rot und grün; Chlorophyll: Beziehung zum Licht, wie die Scham, in der der irdische Ursprung des Lebens in seinen Anfang zurückkehrt)?
    Hi 1618: Erde, decke mein Blut nicht zu, und für meinen Klageschrei sei kein Ruheplatz da.
    Ps 913: Denn der dem vergossenen Blut nachforscht, hat ihrer gedacht; er hat das Schreien der Elenden nicht vergessen.
    Joel 34: Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und furchtbare. (Vgl. Off 612)
    Kain ist „verflucht vom Ackerboden hinweg“, denn das Blut Abels „schreit vom Ackerboden her“ (Gen 411, vgl. auch Hi 1618), und der Acker, den die Hohepriester für das „Blutgeld“ des Judas kauften, heißt seit dem „Blutacker“ (Mt 278).
    Eph 213: Jetzt aber, in Christus Jesus, seid ihr, die ihr einst fern wart, durch das Blut des Christus nahe geworden.
    Ebd. 612: Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Gewalten, gegen die Mächte, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die Geister der Bosheit in der Himmelswelt.
    Ist nicht jetzt die Zeit des Endes aller Symbole und des Beginns der Erkenntnis gekommen?

  • 08.01.93

    Futur II (Vorstellung der homogenen Zeit) und Materie: Ist die indoeuropäische Sprachstruktur nicht doch durch das kräftig überwiegende patriarchalische Element bestimmt? Die Zeiten Gliedern sich zunächst nach Generationen (Tagen), dann nach Stämmen (Monaten) und Sprachen (Jahren); erst der Staat schafft die unendliche, homogene Zeit.
    Gilt Besoffenheit im deutschen Rechtswesen deshalb als Strafmilderungsgrund, weil sie an den mystischen Grund des Gewaltmonopols des Staates erinnert?
    Gibt es einen Zusammenhang zwischen den „vier Kreisen der gesellschaftlichen Zugehörigkeit“ (Benveniste, S. 230ff) und den biblischen „Stämmen, Völkern, Sprachen und Nationen“?
    Die Rechtfertigung führt über den Schein der Befreiung in den Wiederholungszwang (Grund der Vorstellung einer homogenen Zeit und des Naturbegriffs).
    Adornos Satz „Das Ganze ist das Unwahre“ macht die Begriffe Natur und Welt für die Erkenntnis der Wahrheit (außer im Kontext der Umkehr) unbrauchbar.
    Daß die Berufung Heideggers auf die Vorsokratiker nur erschlichen ist, läßt sich leicht daran erkennen, daß es den Naturbegriff bei ihm nicht gibt, sondern nur den Weltbegriff als einen selbstreferentiellen Herrschaftsbegriff. Und Heideggers Satz „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“ ist Ausdruck der Furcht des Herrn (der objektlosen Angst), sein Objekt zu verlieren: Der Begriff des Nichts ist Ausdruck der philosophischen Hybris und der Verworfenheit zugleich.
    Das erkenntniskritische Moment im ontos on, im Seienden des Seienden wird durch die Übersetzung als „Sein des Seienden“ storniert und positivistisch verfälscht.
    Man muß sein Denken den sanften Erschütterungen des Gehens aussetzen: Nur so gelingt ist, die Begriffe in neuen Konstellationen neu sich begründen zu lassen. Insbesondere gilt es, endlich einen Begriff der Kritik zu gewinnen, der nicht auf Widerlegung abzielt (nicht unter dem Gesetz der Erkenntnis des Guten und Bösen: dem Gesetz der Urteilslogik steht), sondern auf Reinigung, Befreiung.

  • 07.01.93

    „Wotans Heer“ ist das wütende Heer oder das verkleidete Heer der Toten (Benveniste, S. 92). Also auch vor den Toten muß man Angst haben (Ausbeutung der Angst vor den Toten)? Gründet das Urteil im Mord oder in der Todesstrafe?
    Ursprung der Begriffe Kauf und Verkauf, sowie Wert, aus der Gefangennahme und dem Verkauf (Loskauf?) eines Gefangenen (S. 105)? Asymmetrie von Verkaufen und Kaufen (S. 106): Im Verkauf wird geopfert, im Kaufen wird befreit. Hängt das lateinische „sum“ (ich bin) mit dem sumere, dem Nehmen (consum), zusammen?
    Das Vorhandene und das Zuhandene, der Handel, die Nutzung (die Industrie als Subsumtion der Nutzung unter die Gesetze des Handels) und das Begreifen.
    Das Neutrum ist auf den Tausch bezogen (sh. die Bedeutung von mutuus, S. 147), es ist in der Tat das ne-utrum: keins von beiden (oder die Identität von Opfer und Befreiung).
    Röm 623: Der Lohn der Sünde ist der Tod. (Aber „Stark wie der Tod ist die Liebe“, Hl 86.) Wie hängt das mit dem Weltbegriff, mit den Sünden der Welt, mit der Beziehung von Welt und Tod zusammen? Es heißt zu Recht: der Lohn der Sünde (nicht der Lohn der Schuld), wie es auch zu Recht heißt: Übernahme der Sünden (nicht der Schuld) der Welt.
    Drücken nicht die Hilfszeitverben Possessiv-, Herrschafts- und Schuldbeziehungen aus: sein, haben, werden, sollen, müssen?
    Entspringt die Ontologie nicht erst im Barock, aber nur aus dem Grunde, weil hier erstmals das ontos on unverständlich wird und deshalb in das Heideggersche Sein des Seienden übersetzt (verkürzt) werden muß? Folge der Isolationshaft im transzendentalen Apparat (durch den Objektbegriff, der den intellectus: den Blick nach draußen, versperrt). Ist nicht die Ontologie der Versuch der Philosophie, nachdem sie endgültig zur Erkenntniskritik geworden ist, sich noch einen eigenen Gegenstand zu sichern, um so den Status der Wissenschaft sich zu erhalten? So hängt die Fundamentalontologie in der Tat, wie von Weizsäcker vermutet, mit der Atomphysik zusammen, die auch die Reflexionsgestalten (die mikrophysikalischen „Objekte“) eines in der Physik selber entsprungenen erkenntniskritischen Moments (des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) zu einem Gegenstand der Physik zu machen versucht. Aber ist dieser „Gegenstand“ nicht hier wie dort das Gegenteil des Gegenstandes: der Schlüssel, der die Zelle der Isolationshaft verschließt?
    Hat die Geschichte mit den beiden Wangen (in der Bergpredigt) etwas mit dem Problem von Rechts und Links zu tun? Und wird Jesus in der Passionsgeschichte nicht auch auf die Wange geschlagen?
    Das Thalessche „Alles ist Wasser“ bezeichnet den Indifferenzpunkt im Übergang vom Mythos zur Philosophie. Im Mythos selber ist dieser Übergang in der Sintflutgeschichte dokumentiert.
    Im Angesicht und Hinter dem Rücken, Rechts und Links, Oben und Unten: Sind das nicht alles Innen-Außen-Relationen? Wenn ich einen rechten Handschuh umstülpe, paßt er zur linken Hand.
    Im Begriff der Existenz wird das Prinzip der Selbsterhaltung auf den Punkt gebracht.

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