Christentum

  • 24.7.96

    Hängen die paulinischen Reflexionen über die Thora, das Gesetz, mit der Bräutigam-Braut-Symbolik zusammen, mit der Beziehung Jesu zum „himmlischen Jerusalem“ der Apokalypse (Jankowski, TuK 70, S. 8ff)?
    Erinnert nicht die Auslegung des paulinischen Fleischbegriffs, den Jankowski auf die Juden bezieht (ebd. S. 12ff, vgl. auch Ton Veerkamp im gleichen Heft), an den der „fleischlich gesinnten Juden“, den ich zuletzt bei Karl Thieme vorgefunden habe? Und zieht er nicht die ganze Vorstellungswelt des kirchlichen Antijudaismus nach sich, die über die Beziehung von Fleisch und concupiscencia, Sexualität, dann auch in die antisemitische Vorstellungswelt mit eingegangen ist? In der Sache, so scheint mir, scheitert diese Auslegung an der sachlich nicht begründbaren Gleichsetzung von Beschneidung und Fleisch: Die Beschneidung ist nicht Fleisch, sondern wird am Fleisch vollzogen. Hier wird das Objekt einer Handlung mit dieser Handlung verwechselt. Ist dieses „Fleisch“ – auch vor dem Hintergrund des Weltbegriffs, auf die ganze Ursprungsgeschichte des Christentums sich beziehen läßt – nicht eher das Fleisch der apokalyptischen Tiere, das am Ende die Vögel fressen? Hegel hat einmal seinen Satz, daß die Natur den Begriff nicht halten kann, mit dem Hinweis begründet, daß es dann keine unterschiedlichen Gattungen und Arten von Tieren, sondern nur eine Art bzw. Gattung geben dürfe; diese Begründung spiegelt den unbestreitbaren Sachverhalt wider, daß Tier und Welt in einer eindeutigen Wechselbeziehung stehen: Jedes Tier (jede Gattung) hat seine Welt, und zur Idee der „einen Welt“ (zum universalen Weltbegriff) gehört dann das eine Tier (als das dieser Welt eindeutig zuzuordnende Subjekt). In dieser Beziehung drückt sich übrigens ein logischer Sachverhalt aus: die Logik der Welt ist die Logik der Instrumentalisierung, und der Begriff des Tieres (des Organismus) drückt genau diese als Subjekt sich konstituierende Einheit der Instrumentalisierung aus, die über das Selbsterhaltungsprinzip, über ein System subjektiver Ziele, sich definiert. Deshalb unterliegen alle subjekthaften (dem Selbsterhaltungsprinzip unterworfenen) Systeme und Institutionen dem Gesetz der „organischen Entwicklung“. Und die kantischen „subjektiven Formen der Anschauung“ erfüllen genau diese Funktion: alle Erfahrung nach dem Prinzip der Selbsterhaltung zu organisieren, in deren Licht die Dinge nur noch als Mittel subjektiver, ihnen von außen auferlegter Ziele erscheinen. Dieses Prinzip liegt dem kantischen Begriff der Erscheinungen zugrunde, die die Erfahrung insgesamt nach Maßgabe der Totalitätsbegriffe Welt und Natur aufteilt und organisiert. Unter diesem Gesetz ist, was die Dinge an sich sind, in der Tat nicht mehr erkennbar.
    Macht nicht Jankowski, wenn er Fleisch als Synonym für Beschneidung setzt (S. 14), den Gegensatz Fleisch/Geist zu einem antijudaistischen Gegensatz?
    Daß die Natur den Begriff nicht halten kann, ist ein Grund der Hoffnung.
    Wenn Paulus ein Zelot war, dann war Hitler ein Sozialist.
    Barmherzigkeit, nicht Opfer: Wäre das nicht das Motto einer Theologie-Kritik, einer Kritik der Verdinglichung?
    Die einfachste Definition der Barmherzigkeit ist die, daß vor dem Urteil die Frage steht, ob du anders hättest handeln können, wenn du an der Stelle des Objekt gestanden hättest.
    Rosenzweigs Stern der Erlösung oder die Vergegenwärtigung der Tradition: Die Transformation der Schrift ins Wort setzt die Reflexion auf das fundamentalistische Schriftverständnis, auf die Bindung des Textes an die intentio recta, voraus. Lesen, wie es heute nötig wäre, ist interlineares Lesen, Lesen zwischen den Zeilen, bei genauester Wahrung des Worts.
    Ist nicht genau das der Unterschied zwischen Buber und der jüdischen Tradition, daß Buber die Bücher Josue bis Könige als historische und nicht als prophetische Bücher begreift (zum Buch der Richter vgl. Lillian Klein: Triumph Of Irony In The Book Of Judges)? Vergegenwärtigung ist heute nicht leichter mehr zu haben als über die Auflösung des Banns der subjektiven Formen der Anschauung, und d.h. über die Kritik der Naturwissenschaften.
    Wer die Prophetie historisiert, braucht sie nicht mehr auf die Gegenwart und auf sich zu beziehen: Als Heilsprophetie hat sie sich in Jesus erfüllt, als Unheilsprophetie gilt sie nur noch für die Juden (und dient so als Schriftbeweis des Antisemitismus: schon damals waren sie so).
    Jüngstes Gericht: Aufhebung der Trennung von Natur und Geschichte im Geiste der Utopie, oder die Idee der Auferstehung als erkenntnisleitendes Prinzip. Eine Distanz zu dem, was die Idee der Auferstehung von sich aus meint, bleibt; diese Distanz darf durch Symbolisierung der Idee (die die Toten instrumentalisiert und vergißt) nicht aufgehoben werden.
    Die Geschichte aus dem Gefängnis befreien, in das wir sie durch Subsumtion unter unsere subjektive Form der inneren Anschauung (durch Subsumtion unters Zeitkontinuum) eingesperrt haben.
    Die subjektiven Formen der Anschauung (Raum und Zeit) sind keine Naturprodukte, sondern in einem gesellschaftlichen Prozeß entsprungen; sie sind selbst Produkt einer Vergesellschaftung („das stumme Innere der Gattung“).
    Unterscheidet sich nicht die mittelalterliche von der antiken Kosmologie durch eine geringfügige, kaum wahrnehmbare, darum aber nicht weniger folgenreiche Veränderung: durch die Lehre vom Sündenfall, als deren instrumentalisierte Gestalt die Naturwissenschaften sich begreifen lassen? Wittgensteins Satz: Die Welt ist alles, was der Fall ist, wäre in antikem Kontext nicht denkbar.
    Läßt sich nicht der Haß auf die Zukunft als das Produkt eines logischen Zwangs begreifen, den die Beschaffenheit der Welt in Verbindung mit dem alles durchdringende Selbsterhaltungsprinzip auf unser Bewußtsein heute ausübt, ist er nicht schon überdeterminiert? (Ich habe Benjamins anderslautende Bemerkung schon beim ersten Lesen nicht begriffen, bis mir bewußt wurde, daß sie in der Tat aus Gründen, die es endlich zu begreifen gilt, heute nicht mehr gilt. Daß sie nicht mehr gilt, affiziert die Idee des Glücks, die damit ihre raison d’etre verloren hat. Dafür rächt sich der Faschismus und macht so den Verlust irreversibel.)
    Adornos Philosophie ist die Entfaltung des apokalyptischen Satzes: Das Erste ist vergangen.
    Klingt nicht in Rosenzweigs Kritik des Allbegriffs die Kritik der Universalität des Hegelschen Weltgerichts mit an, die eigentlich die Universalität des Opfers meint.
    Ist nicht das Opfer der Zukunft, auf das die Kirche heute bewußtlos und selbstzerstörerisch sich zubewegt, die Selbstverfluchung Petri in der dritten Leugnung?
    Nicht nur der römische Hauptmann unterm Kreuz sagt: Das war Gottes Sohn, auch die Dämonen sagen es („und zittern“, nach Jakobus), auch Petrus (nach Karl Thieme ein Typos der Kirche) sagt es, bevor er ihn dreimal verleugnet.
    Ton Veerkamps Satz „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (TuK 70, S. 23) erinnert an Hegels Bemerkung (in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte), daß das Wort Geschichte sowohl die historia rerum gestarum als auch die res gestas bezeichnet.
    Hat die Vorstellung des Zeitkontinuums (die subjektive Form der inneren Anschauung) sich in der Auseinandersetzung mit der Sternenwelt gebildet? Das würde die Beziehung begründen, in die Kant das moralische Gesetz in uns und den Sternenhimmel über uns rückt. Und der altorientalische Sternendienst war in der Tat ein Instrument der Legitimation der altorientalischen Reiche.
    Steckt nicht eine ungeheure Logik in den Problemen, die Goethe und Hegel mit Newton hatten? War es nicht bei beiden das griechische, das „heidnische“ Erbe, das sie aufs Anschauen verwies, auf eine Distanz zu den Dingen, deren Preis die Leugnung und Verdrängung eines Innen war, das bei Newton als das barbarische der allgemeinen Gravitation sich enthüllte (Christentum und Gravitation)? Ist nicht die Anthroposophie eine der letzten Manifestationen dieser Logik? Und gehört nicht die Marxsche Bindung seiner Kapitalismus-Kritik ans Tauschparadigma (und die Ausblendung des Schuldknechtschafts-Paradigma) in diesen Zusammenhang, mit der welthistorischen Folge, daß der Versuch der Realisierung im real existierenden Sozialismus direkt ins Sklavenhaus führte (deshalb gab es im gesamten Ostblock keine Banken)?
    Blüm wäre zu korrigieren: Nicht Jesus lebt, wohl aber die tief in der Geschichte des Christentums verwurzelten Banken, deren Zentralen in der Bankenstadt Frankfurt den Triumph über den Sozialismus und das Christentum zugleich ausdrücken.
    Ist nicht die Vertreibung der Geldwechsler und der Taubenhändler aus dem Tempel das zentrale Symbol der heute anstehenden Kirchenkritik? (Gibt es einen Zusammenhang dieser Vertreibung der Taubenhändler mit der Geschichte vom Scherflein, das die arme Witwe in den Opferstock gab; ist nicht die Taube das Opfer der Armen und das Symbol des Heiligen Geistes zugleich? Hat nicht die Kirche die Armen und den Heiligen Geist zugleich verraten, als sie sich selbst an die Stelle der Armen setzte und den Geist zum Instrument der Selbstlegitimation machte?)
    Wie unterscheidet sich die typologische und realsymbolische Schriftinterpretation von der historisch-kritischen (auf die sie gleichwohl sich beziehen muß)? Ist nicht vor allem der Versuch einer Vergegenwärtigung, die nicht dem Bann des Erbaulichen verfällt? Die typologische und realsymbolische Interpretation gewinnt ihr Leben aus dem des Namens, das in ihnen sich entfaltet.
    Sprachastrologie: Ist der Jupiter der Nominativ und der Mars der Akkusativ, und haben Venus und Merkur mit Genitiv und Dativ zu tun?
    Unschuldige Dingwelt, oder das Prinzip der Verdinglichung: Der Verurteilungsmechanismus ist ein Exkulpationsmechanismus. Es ist der Mechanismus der Verhärtung des Herzens.
    Wer durch die Blume spricht, greift den Adressaten auf eine Weise an, daß er sich nicht wehren kann; er nimmt ihm die Möglichkeit der Verteidigung.

  • 23.7.96

    Ist nicht das Gleichnis vom Unkraut im Weizen auch eine prophylaktische Warnung von der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung? Zwei biblische Themen sind z.Zt. zentral: – Das eine geht aus vom letzten Satz des Jakobus-Briefes; es bezieht mit ein das Wort von dem einen Sünder, dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel hervorruft als 99 Gerechte; und es bezieht mit ein Maria Magdalena, die von den sieben unreinen Geistern befreit wurde (sowie die andere Geschichte von den sieben unreinen Geistern). – Zum anderen gehören der Kelch-Begriff, der Schlaf der Apostel in Getsemane sowie das „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“, als Grundlage aber die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos. Was den Stern der Erlösung von der gesamten christlichen Theologie damals (und heute noch) unterscheidet, ist die Vergegenwärtigung der Offenbarung, ihre Errettung vorm Vergangensein, die durchgeführte Kritik der ihr Objekt zum Objekt (oder Gott zum stummen und blinden Autisten) vergegenständlichenden Theologie, während Martin Buber dem eigenen dialogischen Prinzip zum Trotz hilflos am Prinzip der Vergegenständlichung festhält, deshalb nur eine angepaßtere Version des Erbaulichen liefert.
    Innen- und Außen-Kommunikation, oder Gericht und Barmherzigkeit: Jeder Autor hat seine Zensoren im Kopf, die seine ersten Adressaten sind, vor denen er bestehen möchte. Dazu mögen u.a. sein „Partner“, seine Eltern, seine Lehrer, seine Freunde, insbesondere auch seine Kinder gehören. Wenn er schreibt, sind sie anwesend, hören zu, machen Einwände; wenn etwas gelungen ist, scheinen sie sich sogar zu freuen. Aber sind nicht auch, und zwar auf eine sehr viel beunruhigendere Weise, die andern anwesend, die er nicht kennt, deren Einwände wie auch deren Zustimmung er nicht kennt, die er gleichwohl antizipieren muß: das namenlose Kollektiv seiner Leser, seine wirklichen Adressaten, für die er schreibt? Ist nicht der Abgrund, der ihn von diesem Adressaten trennt, und den er durch sein Schreiben überbrücken möchte, der Abgrund der Sprache, des Namens? Hat Levinas‘ Satz, daß die Attribute Gottes nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen, den er mit dem Hinweis auf die Barmherzigkeit begründete, etwas mit diesem Abgrund zu tun? Gehört nicht Adornos Wort vom „Licht der Erlösung“ in den gleichen Zusammenhang? Hat nicht das real existierende Christentum mit der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele den Impuls der Gotteserkenntnis, der in allen steckt, durchs Selbsterhaltungsprinzip verwirrt und vergiftet? Hat es nicht zugleich den Blick auf die Welt versperrt und verdunkelt?
    Es gibt keine Kollektivschuld (so wie es kein kollektives Objekt des moralischen Urteils gibt), wohl aber eine kollektive Schuldverdrängung: die Verweigerung der Erinnerung durch das Instrument der Verurteilung. Die Schuldverdrängung führt in das, was Ralph Giordano die „zweite Schuld“ genannt hat, die dann allerdings in der Tat zur Kollektivschuld wird. Gleicht die Beziehung der zweiten zur ersten Schuld nicht der der zweiten zur ersten Natur? Wird nicht die erste Natur (als „Erscheinung“) erst im Lichte der zweiten sichtbar? Hat nicht das Christentum im dogmatischen Prozeß den Verurteilungsmechanismus ausgebildet und eingeübt (im „Kampf gegen die Häresien“), zusammen mit der Ausbildung und Einübung der Bekenntnislogik? Wer einen Schuldigen verurteilt, bekennt sich zu den „Werten“, die der Schuldige verletzt hat: Er entzieht sich damit dem Urteil, ändert aber nichts. War es nicht dieser Verurteilungsmechanismus, mit dem die Philosophie aus dem Bann des Mythos sich befreit hat, aber um den Preis der Logik des Begriffs? Die Erfindung der Philosophie war begleitet von der Erfindung der Barbaren. Das Christentum hat diese Erfindung differenziert, ebntfaltet und verfeinert, und zwar in dem Prozeß, auf den Geschichte der drei Leugnungen verweist: durch die weiteren Erfindungen der Juden, der Heiden und der Wilden. Schuldverdrängung und Schuldverschiebung funktionieren nur als kollektive Mechanismen; sind diese Mechanismen nicht der Kern der Bekenntnislogik und der Massenbildung zugleich? Autonome, spontane Solidarität wäre Solidarität ohne Komplizenschaft (ohne das Wechselspiel der kollektiven Absicherung). Bezeichnet nicht die Opfertheologie genau dieses Moment der Komplizenschaft in der Bekenntnislogik (die Bindung, den gesellschaftlichen Kitt der Religion)? Im Anfang wurden die Tiere in Horden, nicht durch Einzelne erlegt, die dann zur Versöhnung des Opfers bedurften. Der erste einzelne Jäger („Held der Jagd“, so Buber) war Nimrod? Gründet nicht der Totemismus im Raub der jungen Tiere, die – über die symbiotische Beziehung zu diesen Tieren – den Anfang der Domestikation bildete? War die christliche Opfertheologie das Instrument der Domestikation des Messianismus? Es war in Antiochien, wo die Christen erstmals sich Christen nannten. Die Sekten nutzen die Apokalypse als Angsterzeugungs-Instrument, um die Schafe in die eigenen Hürden zu treiben. Aber ist nicht umgekehrt die Apokalypse, als Mittel der Angstbearbeitung, auch eine Erkenntnishilfe? Es gibt drei subjektive Formen der Anschauung, den Raum, das Geld und die Bekenntnislogik, die sich durch wachsende Distanz von der Natur unterscheiden. Der Raum ist noch ein „Naturprodukt“, während das Geld auf den Selbsterhaltungs- und Eigentumstrieb der Menschen verweist, die Bekenntnislogik hingegen aufs Schuldverschubsystem und seine objektkonstituierende Kraft. „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“: Ist der Plural („ihnen“, „sie“) nicht wesentlich? Ist das Augen-Aufgehen und die Erkenntnis der Nacktheit nicht ein kollektiver Akt (und sind die „subjektiven Formen der Anschauung“ nicht das Produkt dieses kollektiven Akts)? Steckt nicht in jedem gegenständlichen Sehen das Bewußtsein und der Anspruch eines gemeinsamen Tuns (das dann im Fernsehen sich erfüllt)? Und bedarf es nicht einer zusätzlichen Reflexion, um zu bemerken, daß es keine Garantie gibt, daß das, was ich sehe, von den anderen genau so gesehen wird, wie ich es sehe?

  • 22.7.96

    Jak 520: Gerettet ist nicht, wer frei von Schuld ist, sondern wer einen Sünder von seinem Weg des Irrtums bekehrt. Mission, Propaganda, Reklame sind die Irrwege der Bekehrung. Bekehrung ist nicht Umkehr: Bekehren kann ich auch mit Gewalt, aber Umkehr kann ich nicht erzwingen.
    Ist nicht das Scheitern des real existierenden Sozialismus der Beweis dafür, daß die richtige Gesellschaft sich nicht über die Köpfe der Menschen hinweg (nicht durch „Bekehrung“) errichten läßt? Die wirkliche Umkehr korrespondiert mit der Auferstehung aller.
    „Was nicht erzählt wird, ist nicht passiert“ (Ton Veerkamp in TuK Nr. 20, S. 23): Dieser Satz ist schrecklich. Der Kreuzestod Jesu oder Auschwitz wären demnach nicht „passiert“, wenn nicht davon erzählt worden wäre? Und das namenlose, nie erzählte Grauen in der Geschichte ist nicht gewesen, wenn niemand es erzählt? Ist es nicht vielmehr das Leiden, an dem, was Rosenzweig wie auch Adorno einmal den Vorrang des Objekts genannt haben, sich demonstrieren läßt? Ist es nicht der Sinn des Eingedenkens, des Erinnerns, auch das Nicht-Erzählte, das, was im Dunkeln liegt, noch ans Licht zu bringen? Und korrespondiert nicht das Dunkel der Vergangenheit mit den heutigen Objekten der Verdrängung (liegt hier nicht die geheime Korrespondenz der Gegenwart mit der Vergangenheit, an die Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen erinnert)?
    Was nicht erzählt wird, ist so, als wäre es nicht passiert; aber dieses „als“ ist ein Äquivalent der Verdrängung. Denn die Spuren auch des nicht erzählten Leidens sind unauslöschbar. Das Erzählen ist wichtig als eine Hilfe des Nicht-Vergessens; nur im Mythos hat es objektkonstituierende Macht. Martin Buber hat die Bücher Josua bis Könige zu den Geschichtsbüchern gezählt und für Mizrajim den Namen Ägypten gewählt. Hängt nicht beides zusammen, hat er hier nicht das hellenistische Erbe (das auch das Christentum verhext) übernommen? Ist nicht die Historisierung dieser Bücher ein Symptom der Historisierung der Prophetie, eigentlich ihrer Leugnung durch Remythisierung?
    Ist es nicht ein Unterschied, ob man die drei Geschichten von Sodom, Jericho und Gibea historisch, oder ob man sie prophetisch begreift (z.B. als Hilfe zum Verständnis von Rostock, Mölln, auch von Auschwitz)?
    Paulus war kein Zelot (gegen Jankowski), eher ein Skinhead.
    Ist nicht heute die Freudsche Psychosenlehre wichtiger geworden als seine Neurosenlehre (liegen nicht die Fortschritte der Psychoanalyse heute im Bereich der Erforschung der Schizophrenie und des Autismus, auch der Antipsychiatrie)? Und werden hier nicht biblische Motive wie das Gebot, die Eltern zu ehren, oder das der Bekehrung der Herzen der Väter zu ihren Kinder, auch das, daß nur der seine Seele rettet, der einen Sünder von seinem Irrweg bekehrt, auf ein ganz neue Weise aktuell? Rühren diese Motive nicht genau an diesen Punkt? Nur: das Problem der Psychose ist im Gegensatz zu dem der Neurose psychologisch (subjektintern) nicht mehr darstellbar, es rührt an den Grund des Zustands der Welt (wie in der Theologie der Name Israel oder der corpus Christi mysticum). Ist die Jesus-Geschichte nicht die Innenseite (die Feuerseite) der gleichen Geschichte, deren Außenseite (Wasserseite) im Römischen Imperium und im Caesarismus sich manifestiert? Gründet nicht Adornos Ästhetik (der Begriff wie auch das Werk, das diesen Titel trägt) in Hegels Logik des Scheins?
    Die Welt ist alles, was der Fall ist: Bezeichnet nicht dieser Begriff des Falls einen physikalischen, einen gesellschaftlichen und sprachlogischen Sachverhalt? Dieser eine Begriff bezieht sich nicht zufällig (nicht durch bloße Äquivokation) gleichzeitig auf – die Erscheinungen der Gravitation, – die Objekte der Verwaltung: die Fälle, die die Verwaltung bearbeitet, und nicht zuletzt – die casus der Grammatik. Gehören nicht zu dem sprachtheoretischen Konstrukt einer „indoeuropäischen Ursprache“ acht casus (neben den vier kanonischen: Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ, der Ablativ, der Lokativ, der Instrumentalis und der Vokativ)? Sind nicht die casus, die dann (in den modernen europäischen Sprachen, nach dem griechischen Vorbild, das zusätzlich allerdings noch den Vokativ enthielt) kanonisch geworden sind, die Reflexionsformen des Begriffs im Objekt? War nicht die Einführung des unbestimmten Artikels, die sprachlogisch mit dem Ursprung der Hilfsverben zusammenzuhängen scheint, der entscheidende Schritt zur Kanonbildung der casus? Ist es nicht eine gemeinsame (ihren empirischen Objektbezug begründende) Sprachlogik, die das englische to be mit der Tatsache verknüpft, daß gleichzeitig die Artikel im Englischen geschlechtsneutral sind und nicht dekliniert werden? Sprachlogisch lassen männlich und weiblich nicht mehr sich unterscheiden, Akkusativ und Nominativ nur noch durch ihre Stellung im Satz, während Dativ und Genitiv von außen, durch vorangestellte Präpositionen, bestimmt werden. Wann und in welchem herrschaftsgeschichtlichen (gesamtgesellschaftlichen) Kontext sind die Hilfsverben entstanden? Ist das englische to be ein sprachlogisches Denkmal des Übergangs von der Stammesgesellschaft zur Monarchie (und das deutsche Sein eines des Ursprungs der Reichsgeschichte und des Kaisertums)? Ist das to be (wie auf andere Weise auch das Sein) nicht ein Exorzismus (einer, der die Geister leben läßt, sich aber nicht mehr vor ihnen fürchtet)? Sind die Hilfsverben Beleg einer Entwicklung, die (wie das mittelalterliche Christentum insgesamt) den Mythos übersprungen hat, ihn aber eben deshalb (in Gestalt der Hilfsverben, mit Hilfe der Logik, die sie repräsentieren) in sich reproduziert?
    Die kantischen Prolegomena verhalten sich zur Kritik der reinen Vernunft wie Engels zu Marx. Der Nationalsozialismus, der seine „Weltanschauungs“-Kriege im Rußland-Feldzug wie in Auschwitz als Vernichtungs-Kriege geführt hat, hat damit den Begriff der Weltanschauung selber aufgedeckt und unbrauchbar gemacht.
    Der Begriff der Weltanschauung ist aus zwei Komponenten zusammengesetzt, die jede für sich auf die Ursprungsgeschichte der gleichen Zivilisation verweisen, die sie in dieser Komposition von innen sprengen. Der Begriff der Weltanschauung macht den apokalyptischen Vorgang unkenntlich, den er bezeichnet.
    Die Auseinandersetzung mit dem Staat ist die Auseinandersetzung mit der Quelle der Logik, die auch das eigene Bewußtsein beherrscht. Das Feindbild Staat gewinnt seine Verführungsgewalt aus der Vorstellung, dieser Auseinandersetzung (der Selbstreflexion des falschen Bewußtseins, dessen Quelle in der Tat der Staat ist) sich entziehen zu können. Zugrunde liegt das Versäumnis der Reflexion des Faschismus (der deshalb das „wahre Gesicht des Staates“ ist, weil der Staat keins hat).

  • 21.7.96

    Die Welt ist alles, was der Fall ist. Sind die Wege des Irrtums die Wege des Falls? Hat die Entdeckung der Gravitation (der Schwere) deshalb die christliche Theologie (die Kritik und Auflösung der Vorstellung vom „natürlichen Ort“, ihre Ersetzung durch die Vorstellung einer absoluten, Himmel und Hölle aufeinander beziehenden und zugleich sie trennenden Richtung) zur Voraussetzung?
    Wer sagt, daß das Foucaultsche Pendel ein Beweis für die Bewegungen der Erde ist, hat Einstein nicht begriffen und glaubt immer noch an ein absolutes, an den Fixsternen haftendes Inertialsystem.
    Es ist die selbstverschuldete Unfähigkeit, die politische Ökonomie zu reflektieren, die die Naturwissenschaften gegen Kritik immunisiert.
    Hat das Christentum nicht das mosaische Gesetz auf die Sexualmoral reduziert, und das verkürzte Gesetz (zu dem neben der Unzucht noch das Nahrungsgebot: die Enthaltung von Speisen, die aus Götzenopfern stammt, vom Blute und von Ersticktem gehörte), an dem Jakobus (für die „Heiden“, die Völker) noch festgehalten hat, mittlerweile vergessen? Bei Paulus (1 Kor 8ff) wird das Verbot, Götzenopferfleisch zu verzehren, schon reduziert auf die gleichsam private Empfehlung, kein Götzenopferfleisch zu essen, wenn man dadurch bei den Schwachen Anstoß erregt, während 2 Petr 215, Jud 111 und Off 214.20 unter Hinweis auf Verführung durch Bileam (und durch Isebel) das Verbot bekräftigen. Rücken Petrus, Judas und Johannes mit dem Hinweis auf Bileam und Isebel das Verbot nicht in einen politisch-messianischen (und apokalyptischen) Zusammenhang, der bei Paulus aus dem Blickfeld verschwindet? Drückt in dieser Differenz nicht die Differenz im Verhältnis zu Rom (zum Reich, zu „Babylon“, zur Welt) sich aus (oder auch die Differenz zwischen der messianischen Bewegung und einem Mysterienkult, der mit Rom seinen Frieden geschlossen hat)?
    Zwischen Grundbesitz, Handel und kapitalistischer Produktion stehen die Banken.
    Es gibt zwei Begründungen des Gewaltmonopols des Staates:
    – es nimmt den Bürgern das Recht auf Selbstjustiz, es ist ein Instrument der Zivilisierung: der Hemmung des Rachetriebs;
    – zugleich dient es der Absicherung der „sozialen“ Aufgaben des Staates: es ist ein Instrument zur Verteidigung der Rechte der Armen und Schwachen gegen die ökonomisch Mächtigen. (Wenn der Staat aufhört, seine soziale Aufgaben wahrzunehmen, verliert das Gewaltmonopol seine Legitimation. In diesem Kontext wäre Benjamins Begriff der „göttlichen Gewalt“ und Derridas Kritik dieses Begriff neu zu prüfen: Er läßt sich sehr wohl von der faschistischen Gewalt unterscheiden.)
    Drückt sich das nicht u.a. darin aus, daß im Strafrecht der zivilisierten Staaten der Mord kein Tat-, sondern ein Täterdelikt ist: Bestraft wird der Mörder, nicht der Mord? Zum Mord gehört die „niedrige Gesinnung“, ein strafrechtlich schwer zu fassender Tatbestand, der nicht zufällig immer wieder als Einfallstor subjektiver Vorurteile in das Verfahren der Urteilsfindung sich erweist. Zu den Indikatoren „niedriger Gesinnung“ gehören insbesondere
    – der „Bereicherungstrieb“, der zwar die Grundlage und der Motor des kapitalistischen Wirtschaftens ist, in strafrechtlich relevanten Bereichen aber vorwiegend Arme zu befallen scheint (der Arme, der einen Reichen erschlägt, ist ein Mörder; die Bank, die einen Schuldner in den Selbstmord treibt, handelt in Wahrnehmung legitimer Interessen); oder auch
    – der „Geschlechtstrieb“, der vor allem bei Frauen zu finden ist, die es in ihrer Beziehung zu einem Mann, auch in ihrer Ehe, nachdem sie zu einem Gewaltverhältnis geworden war, nicht mehr aushielten.
    Niedrige Gesinnung war hingegen nicht feststellbar bei Richtern, die durch Terror-Urteile im letzten Krieg dazu beigetragen haben, den mörderischen Krieg zu verlängern und den Betrieb der industriellen Massenmord-Maschine der Nazis abzusichern, oder auch bei Polizeibeamten, bei denen in Ausübung ihres Dienstes aus der Dienstwaffe „ein Schuß sich löste“.
    Gibt es nicht dazu noch weitere Hinweise, daß der Mord nicht zuletzt auch deshalb kein Tatdelikt ist, weil es im Ernst um die Tat nicht geht, sondern darum, daß hier eine(r) ein Recht sich herausnimmt und anmaßt, das eigentlich nur dem Staat zusteht? Der Eingriff in die Rechte des Staates, der die Regeln festlegt, wann und unter welchen Bedingungen die Tötung eines Menschen, die individuelle Bereicherung oder auch die Ausübung des Geschlechtstriebs erlaubt sind, dieser Eingriff und nicht die Schädigung oder der Tod des Opfers ist es, der den Täter zum Verbrecher macht.
    – So fand der damalige Innenminister, daß an den Ausschreitungen gegen Ausländer und Asylanten in Rostock nicht die Tat, sondern der Eindruck, den sie im Ausland machte, verurteilenswert war.
    – Oder als der Regierungssprecher nach den Morden in Mölln gefragt wurde, ob nicht der Bundeskanzler an den Trauerfeierlichkeiten hätte teilnehmen sollen, konnte er es, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, sich erlauben, eine solche Teilnahme als „Beileids-Tourismus“ abzuqualifizieren.
    – Weisen nicht die Reaktionen auf den Brief der Brüder von Braunmühl an die raf, in dem sie ihr Erschrecken über die Tat zum Ausdruck brachten, auf den gleichen Sachverhalt?
    Hat nicht die deutsche Justiz, als sie ihre am Volksgerichtshof und an den Nazi-Sondergerichten tätig gewesenen Kollegen freisprach, dem raf-Terrorismus den Weg freigemacht und die Zweifel mit begründet, die nach Stammheim und Bad Kleinen bis heute nicht ausgeräumt worden sind?
    Immer noch wird bei Anschlägen auf Ausländer-Wohnungen betont, daß „ausländerfeindliche Motive nicht erkennbar“ seien, wird bei Flugzeugunglücken mitgeteilt, ob (und wieviel) Deutsche betroffen sind. Im Golfkrieg war die Hauptsache, daß „unsere Jungs“ heil herausgekommen sind, wieviel Tote (auch unter der Zivilbevölkerung) es auf der anderen Seite gegeben hat, hat niemand ernsthaft interessiert. In der „UNO-Schutzzone“ Srebrenica haben die UNO-Truppen nur sich selbst geschützt, die Massaker an der bosnischen Bevölkerung haben sie nicht interessiert. Aber Soldaten genießen Ehrenschutz: Sie dürfen nicht Mörder genannt werden.
    Gibt es nicht heute Siege in Kriegen, die eigentlich Niederlagen sind (Vietnam)?
    Ist nicht der Nationalismus das Grundmodell der symbiotischen Beziehung?

  • 16.7.96

    Wer andere nur verurteilt, findet sich in einer Objektwelt wieder; wer aber fähig ist, in Andere sich hineinzuversetzen, entdeckt eine menschliche Welt. Das Verurteilen reproduziert den Schrecken, den es zu bannen versucht. Die subjektiven Formen der Anschauung haben das Verurteilen instrumentalisiert; und die transzendentale Logik ist die Logik der Objektwelt (die Logik der Welt der Erscheinungen).
    Nicht „Warum ist es am Rhein so schön“ ist die Rätselfrage der Nation, sondern: Warum mögen uns die Andern nicht. Diese Frage, die der Spiegel alle Jahre wieder ergebnislos zu beantworten versucht hat, wird sich in das Nichts auflösen, das in ihr sich ausdrückt, wenn dieses Land endlich einmal ernsthaft versucht, mit sich selbst ins Reine zu kommen.
    Schlimm an den Angriffen auf Asylantenheime war nicht, was wohl das Ausland über uns denken mag, sondern schlimm waren die Taten selbst.
    Leidet nicht die Kosmologie heute daran, daß sie nicht nur das Ungleichnamige gleichnamig macht, sondern daß sie den Zwang nicht zu brechen vermag, der daher rührt, daß sie die Zeitverhältnisse vertauscht. Es ist das Irreversibilitätsprinzip, das die gesamten Naturwissenschaften verhext: Die Vorstellung der Reversibilität aller Richtungen im Raum begründet die Irreversibilität der Zeit. Wenn die mittelalterlichen Kosmologien den Mond als Grenze zwischen der himmlischen und der irdischen (der trans- und sublunarischen) Welt verstanden haben, haben sie dann nicht die Planetenbewegungen (die „Wege des Irrtums“) zu den himmlischen Erscheinungen gerechnet, damit aber das Irreversibilitätsprinzip selber an den Himmel projiziert (und so – als Vorstufe des heliozentrischen Systems – die Logik hierarchischer Herrschaftsstrukturen legitimiert)?
    Ist der Feudalismus die Gestalt, in der sich die chaldäische Astrologie unter den Bedingungen des Christentums reproduziert hat? Geblieben ist von der Astrologie das hierarchische Prinzip, am Ende zusammengeschrumpft zur „Rangordnung“ der Werte.
    Macht nicht der geisteswissenschaftliche Kausalbegriff, die Vorstellung, der eine habe eine Theorie entwickelt, die andere dann übernommen haben, ein sehr reales Problem bloß unkenntlich: Ist ein Text, der mehr als tausend Jahre, nachdem er geschrieben wurde, rezipiert wird, wirklich noch der gleiche Text? Ist die mittelalterliche Kosmologie die ptolemäische, ist der mittelalterliche „Geozentrismus“ eins mit dem antiken? Hätte Aristoteles in seiner scholastischen Rezeption sich wiedererkannt (war nicht Aristoteles der Lehrer des Alexander, während die mittelalterliche Rezeption durch die Geschichte des Reichs, das Alexander einmal begründet hatte, bereits geprägt und bestimmt ist, wobei das Lehrer-Schüler-Verhältnis sich gleichsam umgekehrt hat)?
    Liegt nicht zwischen der antiken und der mittelalterlichen Kosmologie ein entscheidender Bruch: Der von der Theoria (dem Sehen, das von der Schuld wie von der Schwere abstrahiert) zur Reflexion der verschuldeten Natur. Führt nicht die Entwicklung von der noesis noeseos, dem Denken des Denkens, über die Theologie zur Hegelschen Logik, in deren Kern das Ding steht?
    Die mittelalterliche Kosmologie (wie im übrigen jede Kosmologie vor ihr) war dem damaligen Erkenntnisstand angemessen und zugleich ein Stück Herrschaftsmetaphorik, die in den modernen Naturwissenschaften dann in unmittelbares Herrschaftswissen transformiert worden ist.
    Das Realitätsprinzip (die Vorstellung, daß am Objekt selber der Zustand der Ruhe von dem einer geradlinig gleichförmigen Bewegung sich nicht unterscheiden läßt) ist eine Folge und ebensosehr ein Konstituens der mathematischen Raumvorstellung (des Raums als „subjektiver Form der Anschauung“). Aber wird dieses Relativitätsprinzip nicht durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das aus ihr folgt, wenn es auf bestimmte Erscheinungen angewandt wird, zugleich widerlegt? Ist das Relativitätsprinzip die Wasserseite der subjektiven Formen der Anschauung (der „Feste des Himmels“), deren Feuerseite im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sich manifestiert?
    Sind nicht die Namen des schwarzen Körpers, des schwarzen Lochs und des Urknalls hochsymbolisch? Der schwarze Körper (genauer die Wände des schwarzen Hohlraums) und das schwarze Loch definieren sich durch ihr Verhältnis zum Licht: Der schwarze Körper ist ein Körper, der alles Licht abweist, zurückwirft, während das schwarze Loch alles Licht in sich aufnimmt und nicht mehr abgibt. Beide beschreiben Grenzbedingungen des Inertialsystems, das Abbrechen der Äquivalenzbeziehungen, durch die das Inertialsystem sich definiert.
    Wider die Personalisierung: Die Erwartung, daß das Ende des Faschismus durchs Aussterben der Nazis (der „Rassisten“) kommen werde (oder auch nur kommen könnte), ist irreal: Die Maschine, die „Nazis“ produziert, läuft weiter. Mehr noch, wird diese Maschine nicht zur Zeit einer Generalüberholung unterzogen, die sie nur noch effektiver zu machen verspricht?
    Hat nicht, wer Adorno nur gelesen hat, anders und auch Anderes von ihm gelernt, als wer sein unmittelbarer Schüler gewesen ist? Neigen nicht in der Regel die unmittelbaren Schüler mehr dazu, auch die privaten Marotten ihres Lehrers zu adaptieren, und ist nicht das Lesen ein zugleich öffentlicherer und intimerer Vorgang als der unittelbare Umgang mit dem Lehrer in Vorlesung und Gespräch?
    Wie hängt das Kelch-Symbol, wie hängt überhaupt das Realsymbolische und die Metaphorik mit dem Problem der Zeitumkehr zusammen? Gründet nicht in diesem Problem der Umkehr die gesamte Sprache und in ihrem Kern der Name?
    Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht: Die Irreversibilität der Zeit (zusammen mit der Logik der Reversibilität aller Richtungen im Raum) ist das Gesetz der Verhärtung der Herzen. Liegt hierin nicht das Organisationsprinzip verborgen, das der Geschichte von der Verhärtung des Herzens Pharaos zugrunde liegt, und gründet darin nicht sogar der Name des Pharao? So wie am brennenden Dornbusch der Name Gottes sich offenbart, so enthüllt sich der Titel des Pharao in der Geschichte der Verhärtung seines Herzens: zusammen mit dem Namen Mizrajim als Name des Sklavenhauses und des Eisenschmelzofen (ist nicht der Name Mizrajim der einzige Name der Schrift, den Buber durch den griechischen ersetzt: Ägypten?).
    Wölfe heulen den Mond an: Ist das nicht der Irrtum der Wölfe? (Gibt es auch einen Irrtum der Schlangen, und worin zeigt er sich?)
    Der Gott, der die Welt erschaffen hat, ist der Gott, der im Staat sich verkörpert, im Staat als dem Organisationsprinzip der Eigentumsgesellschaft. Dieser Gott legitimiert das Recht und begründet die Ordnung der Objektwelt, in der die Barmherzigkeit am Ende keine Stelle mehr findet.
    War nicht Borgentreich (mein Ferienaufenthalt dort in den dreißiger Jahren) ein Ort der Verwirrung? Der (angeheiratete) Vetter Alois, der ein Nazi war und merkwürdige Sprüche über Hitler, die Juden und Judenhäuser in Borgentreich und einige Bürger, die mit trinitarischen Spekulationen sich befaßten, von sich gab, und die Cousine Agnes, eine „vornehme“, aber auch etwas verwirrte Frau, und ihre Kinder Hermann und Walburga?
    Kindertaufe: In den Bekenntnissen des Augustinus findet man die Begründung, die bei der Einführung der Kindertaufe eine Rolle gespielt haben mag. Augustinus erinnert sich an die Gier des Säuglings, in der er die Folgen der Erbsünde erkannte, die mit der Kindertaufe getilgt werden sollte. Heute gelten Kinder als unschuldig, und wer die Gründe für diese Anschauung sucht, wird sie in der Tatsache finden, daß Kinder noch nicht „hintertückisch“ sind, daß all ihre Lebensäußerungen als unmittelbare und direkte, frei von Hintergedanken und Täuschungsabsichten wahrgenommen werden. Augustinus legte die Schuld in die Tat, die er an einem Begriff des Handelns (an dem des Gerechten) maß, vor dem die Kinder objektiv als Sünder sich erwiesen. Wir messen die Schuld an der Absicht, die einem Kind nicht unterstellt werden kann (jedenfalls nicht vor der „Trotzphase“), weshalb wir sie als unschuldige und deshalb „glückliche“ Wesen (die sie nun wirklich nicht sind) erfahren. Das aber heißt, daß wir das Glück nicht am Zustand der Welt (der uns objektiv belastet, auch wenn wir es verdrängen), sondern an unserer Schuldlosigkeit messen. Uns interessiert nicht der Lauf der Dinge, sondern nur, daß wir nicht dran schuld sind. Heißt das nicht, daß glücklich nur der Dumme ist?
    Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß: Der Staat, in dem die Ankläger Staatsanwälte heißen, stellt seine Bürger unter Dauerverdacht und unter das Gesetz der Beweisumkehr. Unschuldig ist nur, wer es auch beweisen kann. Gibt es eine bessere Methode, die Bürger davon abzuhalten, sich um Dinge zu kümmern, die „sie nichts angehen“, und sind das nicht alle Dinge, die nicht ihr unmittelbares Eigeninteresse berühren (z.B. die Probleme der Arbeitslosen, der Sozialhilfeempfänger, der Obdachlosen, der Asylanten, der Ausländer, der Frauen und Kinder)?
    Der Leiter des BGS am Flughafen (ein Leitender Polizeidirektor) heute in bei einem Interview in der Hessenschau: Seine Aufgabe sei die Verbrechensbekämpfung, z.B. des organisierten Verbrechens, insbesondere der Schlepperbanden. Die schleppen Menschen herein, die hier nur ein besseres Leben wollen. Und das sei schlimmer als der Schmuggel von Waffen.

  • 14.7.96

    Die Definitionskraft Kants ist phantastisch, aber was er logisch durchdringt und erhellt, ist erschreckend.
    Die Philosophie heute ist Teil eines Prozesses, der durchherrscht wird von Trägheitskräften: überlebende Schiffbrüchige, die an die Planken des zerstörten Schiffes sich anklammern (und sich immer noch für Kapitäne halten).
    Ist nicht die irische Neubegründung des Christentums eine Parallelerscheinung zum Islam: diese Neuversion des Christentums ist zur gleichen Zeit entsprungen und hat in der gleichen Zeit über Europa sich ausgebreitet. Das Neue, das hier sich herausgebildet hat, war ein Selbstverständnis, das als Legitimation des Königtums das Ende der Stammesgesellschaft ratifizierte, verbunden mit einer (im Kontext des theologischen Begriffs des Sündenfalls an der Schwere sich orientierenden) Neubestimmung des Naturbegriffs: Natur war alles, was unten ist. Hier liegen die Wurzeln sowohl der neuen Gestalt des Bürgertums als auch der neuen Natuwissenschaften, die nur über diese (theologische) Zwischenstufe sich haben etablieren können.
    Der Begriff der Eigentumsgesellschaft dogmatisiert die Oben-Unten-Beziehung (zum Eigentum gehört der Knecht, der es bearbeitet; die Hierarchie ist ein System von Knechten).
    Aufgrund des derzeitigen Erkenntnisstands wird man beim Hogefeld-Prozeß davon ausgehen müssen, daß die Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden in der Aktion in Bad Kleinen zum Opfer ihrer eigenen paranoiden Phantasien geworden sind. Weist nicht alles darauf hin, daß es die Aufgabe dieses Prozesses ist, diesen Phantasien, die schon damals durch die Erkenntnisse des V-Manns widerlegt gewesen sein müssen, nachträglich den rechtlichen Status der Erkenntnis zu geben? Daß das Gericht seine Aufgabe begriffen hat, mag man daran erkennen, daß alle Versuche, das Geschehen in Bad Kleinen im Prozeß aufzuklären, abgeblockt und unterbunden werden. Hierbei profitieren BAW und Senat offensichtlich davon, daß auch die Phantasie der Angeklagten und der Verteidigung an das, was wirklich passiert ist, nicht heranreicht, daß beide – ebenso wie die Öffentlichkeit insgesamt – das Undenkbare, das wirklich geschehen ist, nicht zu denken wagen.
    Die „Undenkbarkeit“ des Geschehens gründet in einem (urteils- nicht handlungs-)moralischen Sachverhalt. Der Nationalsozialismus hat erstmals mit nachhaltiger Wirkung von diesem Mechanismus Gebrauch gemacht: Wenn das, was man tat, so schlimm war, daß man jeden Versuch, das Geschehen öffentlich zu machen, als „Greuelpropaganda“ dementieren konnte, so war die Tat selber der beste Schutz gegen ihr Bekanntwerden (und gegen ihre Verurteilung). Der gleiche Mechanismus hat am Ende des Krieges der gesamten Bevölkerung als absolut wirksame Verdrängungshilfe gedient, und er hat es der Rechtsprechung nach dem Krieg erlaubt, die Nazi-Justiz insgesamt freizusprechen (mit Hilfe der gleichen Logik, die heute immer noch Trunkenheit als Schuldminderungsgrund anerkennt).
    Ein Staat, der sich selbst für beleidigungsfähig erklärt (der „verunglimpft“ werden kann), der den „Ehrenschutz“ ausdehnt (und das Militär unter Sonderrecht stellt), hat wirklich etwas zu verbergen, und seine Repräsentanten wissen es auch.
    Hat nicht der Begriff Rechtsstaat auch den Hintersinn, daß es sich um Staat handelt, in dem das Regieren immer mehr ins Verwalten übergeht: in ein Handeln, das durch Gesetze, nicht durch die souveräne moralische Reflexion (oder – frei nach Kant – durch die bestimmende, nicht die reflektierende Urteilskraft) sich bestimmt. Im Rechtsstaat tut jeder seine Pflicht, aber keiner weiß mehr, was er tut (so haben auch die Richter am Volksgerichtshof nur ihre Pflicht getan, nur daß sie nicht mehr wußten, was sie taten).
    Soldaten und Beamte tun ihre Pflicht, wissen aber nicht mehr, was sie tun: Die nationalsozialistische Durchmilitarisierung des Volkes, die ohne den Antisemitismus (die reinste Gestalt einer instrumentalisierten Bekenntnislogik) nicht möglich gewesen wäre, hat das ganze Volk in eine hierarchische Verwaltungsorganisation transformiert, mit dem einen Ziel: der Neutralisierung der moralischen Selbstreflexion und Selbstbestimmung, der Aufhebung der Tötungshemmung, der Etablierung des durchorganisierten blinden Gehorsams. Insoweit war der Faschismus eine gesellschaftliche Naturkatastrophe, die den Greuel der Verwüstung hinterlassen hat.
    Ist nicht der Faschismus das Modell für den Begriff einer „nachhaltigen Entwicklung“?
    Fragepronomen: Ist nicht das Wie eine falsche, den „Weg des Irrtums“ eröffnende Frage? Beantworten nicht die Namen der Planeten alle eher ein Wie als ein Was? Konstituiert das Wie die Sphäre, in der das Warum (die Frage nach der Ursache wie nach der Schuld, die den Naturbegriff und die Geschichtsschreibung begründen) entspringt? – Gibt es im Hebräischen das Wie und das Warum (das Warum begründet die Theodizee)? Welche Frageformen entspringen mit der Vergegenständlichung der Zeit (und welche Fragen erlöschen in der Idee des Ewigen)?
    Quod erat demonstrandum: In der Wissenschaft wird demonstriert, im Recht wird bewiesen; wie unterscheiden sich wissenschaftliche und juristische Urteile? Gibt es eine wissenschaftliche Entsprechung des Zeugen: Im Recht wird die Wahrheit bezeugt, in der Wissenschaft wird sie erzeugt?

  • 13.7.96

    Nach Kants Definition des Erhabenen ist der Islam die Religion der Erhabenheit.
    Notwendig wäre die Rekonstruktion und Reflexion des Mechanismus, der bewirkt, daß ebenso, wie die Verurteilung des Faschismus den Schrecken nicht auflöst, die Verurteilung der Kirche nicht den Weg zum richtigen Leben eröffnet.
    Es gibt zwei Wege, die versprechen, dem Schuldzusammenhang zu entrinnen: den der Abstraktion (der zu seiner Absicherung der Mechanismen der Projektion und des Schuldverschubsystems, mit einem Wort: der Verurteilung, sich bedient) und den der Reflexion. Nur der zweite hält, was er verspricht.
    Die Sünde der Welt auf sich nehmen, das heißt auf das Mittel der Projektion und der Verurteilung verzichten. Das setzt die Fähigkeit zur Reflexion des Schuldverschubsystems voraus. Der Kreuzestod ist der Beweis dafür, daß die Rücknahme der Projektion (die „Umkehr“) kein bloß subjektiver Akt ist.
    Nimmt nicht in Hegels Rechtsphilosophie der Begriff des Eigentums die Stelle ein, die in seiner Logik der Begriff des Seins einnimmt?
    Haben Sonne, Mond und Saturn etwas mit den drei Abmessungen des Raumes zu tun, und Jupiter, Mars, Merkur und Venus etwas mit den vier Himmelsrichtungen?
    Sind nicht die Planetenbahnen, zu denen auch die Bahnen der Sonne, des Mondes und des Saturn gehören, die „Wege des Irrtums“ (und ist der Saturn, und nicht die Sonne, der Planet der „Ruhe“)?
    Ist das heliozentrische System (das anstelle des Saturn die Sonne ins ruhende Zentrum setzt) nicht der Beweis, daß die Wege der Planeten (die Wege des Irrtums) die Wege in der Finsternis sind, ist nicht das heliozentrische System selber diese Finsternis: das Reich des Hades, die „Unterwelt“? Vgl. hierzu die symbollogischen Phantasien Swedenborgs, der die Toten auf den Planeten ansiedelt, und dazu die irreführende Einbildungskraft Dantes, die auf die irischen Ursprünge der mittelalterlichen Vorstellungswelt des Christentums zurückweist: einer theologischen Vorstufe des heliozentrischen Systems (vgl. Le Goffs Essay über das Fegfeuer, ein erster Hinweis auf die „irische Revolution“ des Christentums, die die Planetenwelt theologisch neutralisiert und den Hades: die Hölle und das Fegfeuer, ins Innere der Erde verlegt hat; gibt es hierzu nicht deutliche Spuren und Hinweise beim Johannes Scottus Eriugena, z.B. in der Logik seines Naturbegriffs, die, in der Folge des Hierarchie-Theoretikers Pseudodionysius Areopagita, die Oben-Unten-Beziehung auf den Kopf gestellt und eindimensional, irreversibel gemacht, damit der neuen Gestalt der Naturbeherrschung den Weg eröffnet hat, die Planetenwelt dagegen, das Reich der paulinischen Archonten und Elementarmächte, zum himmlischen Vorbild und Modell der irdischen – der politischen wie der kirchlichen – Hierarchien gemacht hat)? – NB: Wann erfolgte die Richtungsumkehr in der Merkaba-Mystik, wann wurde der Abstieg zum Aufstieg?
    Als der Auferstandene zum sol invictus wurde, wurde Kohelet zum Grundtext des kirchlichen Selbstverständnisses: Es gibt nichts Neues unter der Sonne.
    Ist das kopernikanische System die ausweglose Vollendung der „Augenlust“ (beachte hierzu Kants Lustbegriff), die politische Ökonomie die Verkörperung der „Fleischeslust“, das Produkt der Vereinigung beider hingegen die „Hoffahrt des Lebens“ (1 Joh 216)? Und bezieht sich nicht der evangelische Rat des Hörens (nicht des „Gehorsams“) auf die Augenlust, der Rat der Armut auf die Fleischeslust und der Rat der Keuschheit auf die Hoffahrt des Lebens?
    War nicht in der Tat das proton pseudos der kirchlichen Neuorganisation der Woche, daß die Kirche den Sabbat durch den Sonnentag ersetzt, den Sonntag zu dies dominca gemacht, damit aber die Gottesfurcht durch die Herrenfurcht ersetzt hat?
    Wie hängen Passah, das Opfer des Lammes, der Sabbat, die sieben Tage der ungesäuerten Brote und der Exodus mit Abendmahl, Kreuzestod und Auferstehung zusammen?
    Sind nicht die Texte der „katholischen Briefe“ allesamt apokalyptische Texte und die der Paulinischen Briefe Texte des Aufschubs?
    Jugoslawien und Nordirland: Gibt es nicht Aufgaben der Ökumene, die wichtiger wären als die Verteilung der Karrieren in den bestehenden kirchlichen Hierarchien?
    Wie verhalten sich die beiden Sätze zueinander: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“ und „… die ihre Kleider im Blute des Lammes gewaschen haben“, wie verhält sich die Rache zu Sündenvergebung? Bezieht sich die Vorstellung von der „reinigenden“ und „erlösenden“ Kraft des Blutes auf das Opfer oder auf die Nachfolge?
    Unmittelbar nach dem Kriege gab es in der Kirche die Furcht: Das wird sich einmal rächen. Ist diese Furcht nicht auf eine ungeheuerliche Weise wahr geworden? Haben die Deutschen diese Rache nicht an sich selbst vollzogen (durch die Verleugnung des Geschehenen und ihre Folgen)? Aber es gibt einen Spiegel, in dem sie das erkennen können: die Geschichte von der Verhärtung des Herzens Pharaos.
    „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht.“
    proteron/hysteron: Der Name Hystera für Gebärmutter ist zugleich der Name für das Spätere (im Gegensatz zum Früheren), das Zweite (im Gegensatz zum Ersten). Ist nicht der Name schon ein Stück Diskriminierung, setzt er nicht den höheren Rang der Zeugung, wie die Trinititätslehre ihn dann festschreibt, voraus?

  • 9.7.96

    Das liberum arbitrium hängt mit den Freiheitsgraden des Raumes so zusammen wie die Reflexion mit der Abstraktion. Es setzt an die Stelle die Freiheit, die der Reflexion sich verdankt, die Freiheit, die die Abstraktion verspricht; die Beziehung beider ist durchs Opfer vermittelt, auf dessen Geschichte sie zurückweist. Der Preis der Abstraktion ist das Opfer der Vernunft. Die Vorstellung des unendlichen Raumes ist das Produkt des vollendeten Opfers. Der Begriff ist das Opfer des Worts an die Idee des Absoluten. Deshalb hängt die Entdeckung des Begriffs mit der Entdeckung der Orthogonalität, der Winkelgeometrie, zusammen.
    Die Vergegenständlichung der Zeit, die die Sprachlogik der indoeuropäischen Sprachen einmal begründete, ist das Prinzip der Abstraktion. Ihr praktischer Grund war die Konstituierung des Eigentums. Hat die Zeitvorstellung zusammen mit dem Zins sich gebildet? Der Atheismus heute gründet in der Unfähigkeit, den Bann der Logik des Eigentums durch Reflexion zu brechen.
    Die Vorstellung einer unendlichen Zeit, Produkt ihrer Vergegenständlichung und Reflex der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, ist das subjektive Apriori der gegenständlichen Erkenntnis. Im Bann dieser Erkenntnis gilt, daß ER kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Ist die so rapide sich ausbreitende Furcht vor Einbrechern nicht ein apokalyptisches Zeichen?
    Menschenfischer: Das Feindbild ist der Köder, mit dem der Kapitalismus seine Gegner fängt. Über das Feindbild und über die Mechanismen der Empörung (des schnellen Zorns) gerät man in eine subjektive Verfassung, in der man, ohne es zu wissen und auch, wenn man es nicht will, das Geschäft der anderen Seite betreibt. Logischer (und objektiver) Ausdruck dieser „subjektiven Verfassung“ ist der Weltbegriff.
    Mit der Beziehung zur Zeit hängt es zusammen, wenn das Weltgericht nicht mit dem Jüngsten Gericht verwechselt werden darf. Wenn es ein Jüngstes Gericht gibt, wird es das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht sein. Gnadenlos ist das Weltgericht durch die Objektivierung der Zeit.
    Der Faschismus hatte Recht, wenn er sich auf die indogermanische Tradition berief: Im Faschismus ist das barbarische Potential des Abstraktionsschrittes, dem die Logik der indoeuropäischen Sprachen sich verdankt, explodiert. Das erste Opfer dieser Explosion waren nicht zufällig die Juden, die die andere, verdrängte Tradition verkörperten: der Antisemitismus war der Zündsatz des Faschismus.
    Nach dem Holocaust kann man zwar kein Jude mehr werden, notwendig und überfällig aber ist die Rückbesinnung auf ihre Tradition, die die eigene Tradition des Christentums ist, allerdings eines Christentums, das den Hahnenschrei vernommen hat und endlich aus dem Schlaf, in den es seit Getsemane versunken ist, erwacht. Erinnert nicht Reinhold Schneiders Satz „Allein den Betern kann es noch gelingenen …“ an die Aufforderung, die Jesus in Getsemane an die Jünger richtete, als er sie schlafend fand: „Wacht und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallt“?
    Zu Getsemane: Wenn die Todesangst Jesu messianische Qualität hat, dann kann sie sich nicht (oder jedenfalls nicht nur) auf den eigenen Tod, sondern muß sich zugleich auf die Herrschaft des Todes in der Welt beziehen. Da aber stellt sich eine wahrhaft ungeheuerliche Beziehung zum Symbol des Kelches her, der genau diese Herrschaft des Todes repräsentiert.
    Hat das Christentum nicht seit je die Fleischwerdung des Wortes mit seiner Wiederkunft verwechselt, hat es nicht so getan, als hätten Kreuz und Aufertehung schon das geleistet, was erst die Wiederkunft leisten wird? Eben damit aber ist das Christentum selber der Versuchung der Welt zum Opfer gefallen. – Oder war auch diese Opferfalle noch providentiell, ein Teil des Opfers, das eben nicht schon alles geleistet hat?
    Erst wenn die Gestalt der Unsterblichkeits- und Auferstehungshoffnung, die sich aus dem Selbsterhaltungsprinzip herleitet, verbrannt ist, wird die Wahrheit hervortreten. – „Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.“
    Der Begriff der trägen Masse, der Materie, ist der Reflex des Eigentumsbegriffs in der Natur, mehr noch: Der Eigentumsbegriff konstituiert den Begriff der Natur (Naturschutz ist Eigentumsschutz). Das Dogma reflektiert den logischen Schritt, mit dem die physis in die natura und der kosmos in den mundus transformiert wurde.
    Wenn Kant Raum und Zeit als subjektive Formen der Anschauung begriffen hat, so wäre das heute zu ergänzen: Die Subjektivität der subjektiven Formen der Anschauung ist in sich selber gesellschaftlich vermittelt, sie ist eine gesellschaftliche Subjektivität, die Reflexion des Andern im Subjekt. Insoweit, nämlich als gesellschaftliche, sind die subjektiven Formen der Anschauung zugleich auch objektiv.
    Der Vergesellschaftungsprozeß ist in der Struktur der Raumvorstellung selber nachvollziehbar. Den drei Abstraktionsschritten, in denen der Raum als subjektive Form der Anschauung sich konstituiert, korrespondieren die drei ökonomischen Abstraktionsschritte, denen Polanyi zufolge die Konstituierung der Eigentumsgesellschaft sich verdankt: die Verwandlung von Grund und Boden, der Arbeit und des Geldes in Waren, in Objekte des Tauschprinzips. Es ist der Begriff des Eigentums, der in diesem Prozeß sich entfaltet, der zugleich die Außenwelt konstituiert, die Äußerlichkeit der Dinge außer uns, deren Formgesetz dann in der Form des Raumes sich entfaltet. Insofern ist die kopernikanische Wende, die die Vorstellung des unendlichen Raumes, der nichts mehr außer sich hat, begründet, das kosmologische Korrelat einer restlos vom Tauschprinzip durchdrungenen Welt.
    Es müßte eigentlich nachweisbar sein, daß das Steigen der Grundstückspreise im Nachkriegsdeutschland zusammenhängt mit der Ausweitung der Geschäftstätigkeit der Banken (vgl. den Hinweis auf die ostasiatischen Länder <S. 109f> und insbesondere auf Japan <S. 234> bei Heinsohn/Steiger). Haben sich hier nicht die Banken selber die Grundlage für die Ausweitung ihres Kreditvolumens geschaffen?
    Ist der Fall Schneider, wenn er denn wirklich ein Opfer seiner Banken sein sollte, ein Beleg dafür, daß es heute möglich ist, das Erwischtwerden durch die Tat selber auszuschließen (vgl. Lyotards Reflexionen zum „absoluten Verbrechen“)?
    Gibt es eigentlich eine spezielle Affinität
    – der Banken zum Grundstücksgeschäft,
    – der Produktion zum Spekulationsgeschäft und
    – des Staates zum Arbeitsmarkt, dem ersten Objekt seiner „Spar“-Maßnahmen?
    Sind nicht die Banken, die Wirtschaft und der Staat die „natürlichen“ Repräsentanten dieser spekulativen Formen der Eigentumsbearbeitung? (Zum Zusammenhang mit den drei Abstraktionsschritten, die den Kapitalismus begründen: die Überführung des Grund und Bodens, der Arbeit und des Geldes in veräußerbare, tauschbare Handelsware, vgl. Polyani.)
    „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“: Ist der Rosenzweigsche Satz, daß Gott die Welt, nicht die Religion erschaffen hat, eine Folge seiner Staatsphilosophie?
    Die Verteidigung des Eigentums, als dessen institutionelle Verkörperung der Staat sich begreift, ist die zentrale Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die mit dem Eigentum eigentlich die universelle Geltung des Tauschprinzips, die „gesellschaftliche Ordnung“, nach innen (wie das Militär das Eigentum selber nach außen) verteidigt und schützt. Ist nicht die Institution des Eigentums der logische Kern des anklagenden („satanischen“) wie auch des verwirrenden („teuflischen“) Prinzips, das seit Babylon in den großen Imperien sich verkörpert, mit deren Ursprung auch die Gestalt und der Name des Anklägers (sh. Hiob) sich gebildet hat? Ist nicht der Teufel wie auch der Satan in den Evangelien der Repräsentant des weltlichen Reiches?
    Das Recht stellt bei der Schuldzuweisung (beim „Urteil“) auf das Wissen und die Absicht der Person (des Angeklagten) ab. Vor diesem Hintergrund ist der Links-Terrorismus das absolute Verbrechen, während Auschwitz eine Naturkatastrophe war. Fürs Recht ist die Unterscheidung einfach: Die Linke weiß, was sie tut, die Rechte weiß nicht, was sie tut.
    Der Fehler des „realexistierenden Sozialismus“, der heute bei den Umweltschutzgruppen sich zu wiederholen scheint, lag darin, daß er glaubte, die Kritik der Ökonomie von der Kritik der Verwaltung (von der Kritik der Macht, deren technische Organisation der Verwaltung obliegt) trennen zu können, die Verwaltung als eine „neutrales“ Instrument anzusehen. Die Kritik der Verwaltung hätte von dem Satz auszugehen: Alle tun ihre Pflicht, aber keiner weiß, was er tut. Die Verwaltung ist das Schuldverschubsystem des Staatsapparats; und das scheint eine ihre Hauptaufgaben zu sein: sie deckt in der Tat eine Menge Sünden zu und wartet auf einen gnädigen Gott.
    Wie hängt die Aufblähung der Verwaltung mit der Ausweitung der Geschäftstätigkeit der Banken zusammen; erinnert die Beziehung beider nicht an die Beziehung von Blähungen und Verdauung, und rührt daher die heute verbreitete Neigung zur analen Metaphorik (vgl. Freuds Bemerkung über die Beziehung des Geldes zur analen Metaphorik: „der Teufel scheißt auf den größten Haufen“)?
    Ist nicht die Logik selber das Rattennest der Widersprüche, und die alternative wie insbesondere die Punk-Szene der ebenso hilflose wie selbstzerstörerische Versuch, metaphorisch die Wahrheit der Welt zu verkörpern, sie sichtbar zu machen, die Ratte zu domestizieren, ein unüberhörbarer Aufschrei, in dieser Realsymbolik das Wesen dieser Welt endlich zu begreifen? Anders kommen sie nicht davon los, die Logik dieser Welt symbolisch auszuagieren. Auch die deutsche Wirklichkeit hat ihre Slums, mitten in den Familien, sichtbar auf den Straßen unserer Städte.
    Die Geschichte der Verdrängung, die im Weltbegriff sich gründet, hat einen Punkt erreicht, an dem es auch um die Lösung des Problems der Symbollogik geht, an dem es nicht mehr nur um das Verhältnis von Marx und Freud, sondern zugleich um die Beziehung beider zu Einstein geht.
    Das Mathematische bei Einstein ist nur ein Hilfsmittel der Kritik des Logischen. Das logische Problem wird kenntlich, wenn man das Inertialsystem als ein Referenzsystem begreift, das in der speziellen Relativitätstheorie als ein selbstreferentielles System sich erweist: Mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit wird eine empirische, meßbare Größe zu einem Strukturelement des gleichen Systems, durch das diese Größe selber überhaupt erst sich definiert.
    Ist die Welt die „babylonische Gefangenschaft“?
    Besteht nicht die Sünde wider den Heiligen Geist in der Umkehrung der Beziehung von Anklage und Verteidigung, in dem Versuch, diese Beziehung, die ein asymmetrische ist, reversibel zu machen, die dann unweigerlich auf die Verteidung der Herrschaft hinausläuft, und ist das nicht die Verführung des Staates (die, im Falle des absehbaren Erfolgs, die Pforten der Hölle schließen würde)? Hier ist der Knoten, den Alexander nur durchschlagen hat, auf den jedoch auch der Satz sich bezieht: Was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein (nur wer Himmel und Erde durch den Weltbegriff ersetzt, kann aus diesem Satz die Ohrenbeichte deduzieren).

  • 25.6.96

    Versöhnung über Gräbern: Um eines von jeder Erinnerung unbelasteten Anfangs willen hat das Christentum die Vergangenheit verraten, sie aber gerade dadurch konserviert.
    Sind nicht die Rechtfertigungszwänge, die Daniel Goldhagen evoziert hat, ein Beweis für die Wahrheit seiner Thesen?
    Daß „Hitler selbst und seine Satrapen … soviel Wert darauf gelegt (haben), den Holocaust dem deutschen Volk möglichst nicht öffentlich bekannt zu machen“ (Jörn Rüsen in der FR vom 25.6.96, S. 11), ist kein Beweis dafür, daß die Deutschen „nichts gewußt“ hätten, sondern diese Geheimhaltung, deren Adressat weniger das deutsche Volk als vielmehr die Weltöffentlichkeit war, lag im Interesse aller; auch die Komplizenschaft scheut die Öffentlichkeit. Lifton hat in seinem Ärztebuch nachgewiesen, daß selbst die Täter auf zwei Ebenen lebten, die gleichsam durch eine innere „Geheimhaltungs“-Grenze (eine Grenze in den Subjekten selber) von einander getrennt waren. Das war die objektive Grundlage des pathologisch guten Gewissens nach dem Kriege.
    Anmerkung zur Rechtfertigungslehre: Auch das Geld deckt eine Menge Sünden zu.
    Das Ende der Zeiten wird kommen, wenn entweder aus Freiheit die Umkehr vollzogen wird oder es zur Umkehr keine Alternative mehr gibt. Und wehe denen, die das dann nicht wahrzunehmen in der Lage sind.
    Wird nicht bei Hauke Brunkhorst (Der Mensch muß sich selbst erfinden, FR vom 25.6.96) das projektive Moment im Begriff der Ursache (und im Konzept der „Ursachenforschung“) mit Händen greifbar? Ist nicht der Begriff der Ursache ein Schuldverschub- und Exkulpationsbegriff?
    Gehört nicht zum Reden auch das Ausreden (sowohl das Ausreden-Lassen, als auch das Jemandem-etwas-Ausreden), die Nutzung der Sprache als Radiergummi?
    Ist nicht das „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können“ die Finsternis über dem Abgrund?
    Wer so umstandslos gegen die Todesstrafe ist, sollte der nicht auch einmal darüber nachdenken, daß der Wohlstand hier das Todesurteil für Millionen ist?
    Zum Weltbegriff:
    – Gott hat Himmel und Erde erschaffen, nicht die Welt,
    – Weltbegriff als Schwelle der Zivilisation, Ursprung des Weltbegriffs (zusammen mit den Begriffen Wissen und Natur),
    – Weltbegriff das gegenständliche Korrelat des Staates und der Philosophie (Verstrickung der Philosophie in die Herrschaftsgeschichte),
    – Weltbegriff als logisches Apriori (Reorganisation des Zeitbegriffs, Konstituierung und Legitimierung der instrumentellen Vernunft),
    – wechselseitige Legitimation der Totalitätsbegriffe: Selbstlegitimation des Bestehenden durch die Naturwissenschaften,
    – das Eine ist das Andere des Anderen: der Begriff der Erscheinung und die Logik der Veranderung, das Anderssein (nur Gott sieht ins Herz der Menschen),
    – die List der Vernunft oder der „hintertückische“ Weltbegriff, Grenzen der Beweislogik, Ursprung und Begriff der Gemeinheit,
    – Gnosis, Theologie und Hegel: der Staat als Schöpfer der Welt, Problem des Begriffs der creatio mundi,
    – „Entsühnung der Welt“: Sexualmoral für andere (Sexualmoral als Urteilsmoral) und die apriorische Freisprechung der Herrschaft.
    – Der Weltbegriff transformiert die Theologie aus dem Angesicht Gottes hinter Seinen Rücken.
    – Das schwierigste Teilstück der Kritik des Weltbegriffs ist die Kritik der Naturwissenschaften: die Geschichte der Subjektivierung der „Sinnesqualitäten“ zur Empfindung, der Kritik zur Meinung und der Schuld zu Schuldgefühlen.
    – Gehört nicht auch die Lösung des Rätsels Swedenborgs (der Träume eines Geistersehers, dessen Geistesgegenwart jedoch hinreichte, Luthers Begriff der Rechtfertigung zu durchschauen) zur Kritik des Weltbegriffs?

  • 24.6.96

    Bundeswehr: Die Schule der Nation ist die Schule der Gemeinheit. Deshalb braucht sie einen besonderen Ehrenschutz.
    Gibt es unter dem Apriori der Bemessung des Lohnes nach der Arbeitszeit überhaupt so etwas wie einen „gerechten Lohn“?
    Schnittblumen: Ist es nicht das Schematismus-Kapitel, das, indem es das Verfahren angibt, mit dem den Begriffen Inhalt verliehen wird, die Begriffe von ihrer Wurzel trennt und reversibel macht? Nur Namen sind nicht reversibel. Das Verhältnis des Begriffs zum Namen ist das der Unterdrückung und Ausbeutung: ein Herrschaftsverhältnis.
    Spiegeln sich nicht die realen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse in den sprachlichen? Und schließt nicht die Gotteserkenntnis die Kritik dieser Herrschaftsverhältnisse, der realen wie der symbolischen, mit ein? Ist der Sprachkosmos die Seele des realen Kosmos?
    Der Satz, daß sich Leistung wieder lohnen muß, bezieht sich auf das Geld, das „arbeitet“ und dessen Leistung sich wieder lohnen soll, und nicht auf reale Leistungen. Sonst müßte es auf Krankenschwestern, Müllwerker, Bergarbeiter u.ä. sich beziehen.
    War nicht die in den beiden Weltkriegen entfesselte Gewalt rechtssetzende Gewalt, Teil eines Modernisierungsschubs? Wird nicht heute die Verletzung von Menschenrechten mit der Würde des Rechtsstaats begründet?
    Der Name, das Angesicht und das Feuer:
    Grundlage einer Theorie des Namens wäre die Kritik der Theologie (der Bekenntnislogik),
    Grundlage einer Theorie des Angesichts wäre die Kritik der Natursissenschaften (des Inertialsystems) und
    Grundlage einer Theorie des Feuers die Kritik der politischen Ökonomie (des Geldes).
    Hat nicht Heideggers „Vorlaufen in den Tod“ etwas mit dem apokalyptischen Hinweis zu tun, daß es eine Zeit geben wird, in der die Menschen den Tod suchen und ihn nicht finden werden?
    Welcher christliche Junge hat nicht aus der Potiphar-Geschichte die Lehre gezogen: Vor Weibern muß man sich hüten. Wie ist diese Geschichte von Mädchen erfahren worden?
    Gehört nicht die Sentimentalität der Josephs-Geschichte (seine Brüder verachteten und haßten ihn, aber er hat nach seiner Karriere im Ausland ihnen am Ende großzügig verziehen und geholfen) zur Vorgeschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos?
    Liegt nicht der Grund dafür, daß wir geneigt sind, die Schrift als Sammlung von Vorschriften, als Handlungsanweisung und nicht als Erkenntnishilfe, zu nutzen, in der Bedeutung, die die Sexualmoral im Christentum gewonnen hat, über deren Reflexion ein Tabu liegt, seit sie von der politischen Moral abgetrennt wurde? Hat nicht der evangelische Rat der Keuschheit sowohl mit dem Feuer (das er vom Himmel holen wollte, und von dem er wollte, es brennte schon) als auch mit der politischen Ökonomie etwas zu tun? Ist nicht unser Verständnis der evangelischen Räte insgesamt das Produkt einer vollständigen Verwirrung?
    Rechtfertigungszwang: Hat nicht die christliche Theologie seit je die Schrift als Projektionsfolie zur eigenen Entlastung genutzt (auch eine Form der Instrumentalisierung, die sich der Erkenntnis in den Wege stellt)?
    Ist nicht der Jakobusbrief die offene Tür, der Beweis, daß die Pforten der Hölle die Kirche nicht überwältigen werden?
    Karl Thieme hat in der Gestalt des Lazarus einen Typus der Juden gesehen (sein Verständnis der Erweckung des Lazarus gründet darin). Was bedeutet das für die Geschichte vom armen Lazarus: sind dann nicht die Reichen ein Typus der Kirche (und würde der Hinweis auf Moses und die Propheten damit nicht deutlicher)? Hat die Geschichte vom armen Lazarus (dessen Wunden die Hunde belecken) etwas mit der rabbinischen Geschichte vom Messias, der als Bettler vor den Toren Roms sitzt (und die Verbände seiner Wunden einzeln öffnet und erneuert), zu tun?
    Ist nicht die transzendentale Logik Kants, die unterm Apriori der subjektiven Formen der Anschauung steht, die Entfaltung des Satzes: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren? Die Heiligen sind nicht nackt, sondern bekleidet (nur daß die „weißen Kleider“ gegen die Ariel-Reklame nicht mehr ankommen); nackt war nur der Gekreuzigte.
    Hat nicht der Reinlichkeitszwang, der (zusammen mit dem Tabu über dem Tod) ein Grundprinzip jeder Reklame ist, etwas mit den Rechtfertigungszwängen, unter denen wir stehen, zu tun?
    Baum der Erkenntnis: Welche logischen Beziehungen gibt es zwischen der transzendentalen Logik, dem Begriff der Erscheinungen, den sie begründet, und der Sexualmoral? Wird nicht das Reich der Erscheinungen, das Gesamt der „nackten Tatsachen“, durch die gleiche Schamgrenze definiert (von den Dingen, wie sie an sich sind, getrennt), die der Sexualmoral ihre logische Konsistenz verleiht (und die zugleich die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem definiert)? Und verschiebt nicht die transzendentale Logik (oder genauer: die transzendentale Ästhetik, die subjektiven Formen der Anschauung, die die Dinge gleichsam entkleiden) diese Schamgrenze vom Handeln ins Objekt, das den Begriff als Feigenblatt zur Bedeckung seiner Scham auf sich zieht? Ist die transzendentale Logik die instrumentalisierte Heuchelei, der säkularisierte Pharisäismus?
    War nicht die Sexualmoral ein Instrument der Konstituierung und Legitimierung des naturbeherrschenden Subjekts, damit ein Instrument der Herrschaftsgeschichte überhaupt? Sie hat die Mächte der Verurteilung (des „strengen Gerichts“) auf den Weg gebracht und die der Empathie (der „Barmherzigkeit“) unterminiert.
    Sind die sieben Völker Kanaans der Typus der Bourgeoisie, die Ursprungsgestalt der sieben unreinen Geister?

  • 6.6.96

    Zum Problem der Väter in den Evangelien gehört auch die Frage Jesu, welcher Vater seinem Kind, das ihn um Brot bittet, einen Stein und, wenn es ihn um einen Fisch bittet, eine Schlange gibt. Ist das Brotbrechen die Antwort auf das Brechen des Stabes des Brots (die Antwort auf die Kommerzialisierung der Ernährung der Menschen in der vom Wertgesetz beherrschten Gesellschaft, den ökonomisch bedingten Hunger)? Hat das Christentum nicht als Instrument der Vergesellschaftung von Herrschaft (der Verhärtung der Herzen und der Desensibilisierung) sich erwiesen? Johann Baptist Metz hat vor einiger Zeit eine „Kultur der Empfindlichkeit“ gefordert. Ich nehme an, er meinte eine Kultur der Sensibilität. Sind wir nicht alle schon empfindlich genug (vom Staat, der sich und seine Symbole nicht verunglimpfen läßt, über das Militär und die Polizei bis hin zu den Standesorganisationen der Ärzte, der Studienräte, der Therapeuten …), und ist es nicht diese Empfindlichkeit, die als Entlastung das Vorurteil und die Sündenböcke braucht, das Schuldverschubsystem? Ist nicht die Empfindlichkeit ein Indikator verdrängter Schuld? Dem deutschen Suffix -ung entspricht im Englischen das -ing, allerdings verbunden mit einer Bedeutungsverschiebung: handling ist etwas anderes als Handlung, es entspricht eher schon einer Behandlung: Hat die Vokal- und Bedeutungsänderung etwas mit dem to be zu tun, das im Deutschen als Präfix erscheint? – Welchen Zusammenhang gibt es zwischen den -ing-Namen wie Ding, Ring, im Englischen auch king (gibt es eine Beziehung zu den Präteritalformen fing, ging, hing)? Bemerkung: -ung ist weiblich, -ling männlich? Hören und Sehen: „Als ich sie sah, fiel ich auf mein Angesicht, und ich hörte die Stimme eines, der da redete. Der sprach zu mir: Menschensohn, stelle dich auf deine Füße, ich will mit dir reden. Und als er mit redete, kam Geist in mich und stellte mich auf meine Füße, und ich hörte den, der zu mir redete.“ (Ez 128 – 22) Ist der Logos dieses Wort, das den Sturz des Sehens beendet und den Hörenden wieder auf die Füße stellt? (Hängt die Verknüpfung des „Betretens“ mit der Besitznahme nicht damit zusammen, daß Eigentum in der Tat das Selbstbewußtsein begründet, allerdings um den Preis der Verhärtung des Herzens, der Unfähigkeit zu hören?) Ist die Heilung der Schwiegermutter des Simon (Petrus) ein Symbol der Rettung der Völker?

  • 31.5.96

    Die kantisch-hegelsche Definition der Wahrheit als „Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand“, die unterstellt, daß Wahrheit ohne Versöhnung möglich sei, ist unerfüllbar.
    Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 1972:
    – Nach kabbalistischer Anschauung ist es der Hahnenschrei, der die Macht des strengen Gerichts, die am Abend die Welt beherrscht, bricht; danach werden die Geister und Dämonen keine Gewalt mehr haben. (S. 195, vgl. auch Anm. 48, S. 277)
    – Magie ist nach der Kabbala ein erst im Sündenfall Adams, des ersten Menschen, sich eröffnendes Vermögen; magisches Wissen ist ein Wissen um die Blätter vom Baum der Erkenntnis (die gleichen Blätter, mit denen die ersten Menschen ihre Blöße verhüllten); „erst in der Nacktheit Adams … bricht die Magie als ein Wissen ein, das diese Nacktheit verhüllen kann“. (S. 228) Ist das formalisierte Bekenntnis die rationalisierte Gestalt der Magie?
    – Gershom Scholem zitiert eine (bei Hieronymus zitierte) Stelle aus Origenes, wonach der Rock aus Fellen („die Gewänder aus Haut“) die Materialisierung des Leibes symbolisiert. „Diese These findet sich auch öfters in der kabbalistischen Literatur.“ (Vgl. Anm. 37, S. 283) Bezieht sich diese „Materialisierung des Leibes“ auf die der Willkür entzogenen vegetativen Prozesse des lebendigen Organismus?
    – An anderer Stelle verweist Scholem auf die im christlichen Hexen-Wahn wiederkehrende Vorstellung von dämonischen Wesen, in denen reine Geistigkeit und Sexualität eine dämonische (diese Form der Dämonie konstituierende) Verbindung eingehen (succubi und incubi, vgl. S. 203). Reflektiert diese Vorstellung nicht eine Phase im Objektivierungsprozeß, in der Geschichte des Begriffs (und der Sprachlogik): die Konstituierung des gegen die Sprache sich verselbständigenden Objektbegriffs, die Trennung von Ding und Sache, den Ursprung und die Rezeption des Dingbegriffs, schließlich den Ursprung des modernen Naturbegriffs (das Korrelat des apokalyptischen „Unzuchtsbechers“)?
    Ende der Prophetie: Der Objektbegriff ist der ins Sehen transformierte (der der Sprache entkleidete, zum Verstummen gebrachte) Gottesname.
    Es stimmt nicht ganz, daß der Kaiser im Märchen nicht vorkommt: Er wird durch die Figur des Teufels repräsentiert, aus der er nur mit Hilfe des Antisemitismus herausgebracht, getilgt werden konnte (durch die Identifizierung von Teufel und Jude, die schon in der Gnosis, in der projektiven Identifizierung des Demiurgen, der eigentlich den Kaiser und die Form der staatlichen Institutionen, die er repräsentiert, bezeichnet, mit dem jüdischen Schöpfergott, aufs deutlichste hervortritt).
    Kaiser, Teufel und Objektbegriff (Dingbegriff) bilden eine (sprach- und bewußtseinslogische) Konstellation. (Die Krisen der römischen Kaisergeschichte spiegeln die Unfähigkeit wider, Sache und Ding zu trennen. Das ist erst dem mittelalterlichen Christentum auf der Basis der Eucharistieverehrung gelungen.)
    Ist die Trinitätslehre der Inbegriff der drei ersten ägyptischen Plagen als Dauerplage (was die Reduzierung auf die sieben Plagen der Apokalypse, auf das „Lösen der sieben Siegel“, erklären würde)? Ist die Kirche das instantisierte Pantheon (und so zum Bekenntnisgrund der imperialen Weltverfassung geworden)?
    Beitrag zur Kritik der Physik: Die Feuer der Hölle, das sind die Feuer der Empörung, die im entzündeten Ich auflodern und an dessen Ohnmacht (an der Ich-Schwäche) sich nähren.
    Haben nicht die Ableger der 68er Bewegung, von der raf bis zu den Grünen, sich in den Verstrickungen einer Logik verfangen, die die Realität zum Betonblock gerinnen läßt, einer Logik, die seitdem die Öffentlichkeit beherrscht, sie gegen jede kritische Reflexion der Wirklichkeit und gegen Selbstreflexion abschirmt? Antje Vollmer hat ebenso wenig begriffen, was im Hogefeld-Prozeß abläuft, wie Birgit Hogefeld selber.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie