Durkheim

  • 8.1.96

    „… in den Sozialwissenschaften (hat) der Wettstreit der Paradigmen einen anderen Stellenwert als in der modernen Physik. Die Originalität der großen Gesellschaftstheoretiker wie Marx, Weber, Durkheim und Mead besteht, wie in den Fällen Freud und Piaget, darin, daß sie Paradigmen eingeführt haben, die in gewisser Weise heute noch gleichberechtigt konkurrieren. Diese Theoretiker sind Zeitgenossen geblieben, jedenfalls nicht in demselben Sinne ‚historisch‘ geworden wie Newton, Maxwell, Einstein oder Planck.“ (Theorie des kommunikativen Handelns, S. 201) Hier weiß Habermas nicht, wovon er redet. Newton, Maxwell, Einstein oder Planck sind sicher in einem sehr viel genaueren Sinne „aktuell“, als es Weber, Durkheim und Mead, oder auch Piaget, je gewesen sind. Wer die Naturwissenschaften von Kopernikus/Newton bis Einstein/Planck heute entschlüsseln, wer sie erkenntnis-, und d.h. herrschaftskritisch begreifen würde, wäre einer kritischen Theorie der Gesellschaft näher als die Habermassche Theorie des kommunikativen Handelns.
    Die drei Stufen der modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnis lassen sich als Phasen der Erkenntnisumkehr begreifen:
    – die Mechanik als universale Richtungsumkehr (von allen Seiten hinter dem Rücken: der umgestülpte Raum),
    – das Gravitationsgesetz als Objekt- und Begriffsumkehr (es macht das Ungleichnamige gleichnamig) und
    – die Maxwellschen Gleichungen und das Gesamtsystem der durch die Lichtgeschwindigkeit bestimmten Erscheinungen als Zeitumkehr, die im Phänomen der Lichtgeschwindigkeit selber enthalten ist (Paradox eines mit Lichtgeschwindigkeit bewegten Objekts).
    Modell dieser Umkehrungen ist die Etablierung und Entfaltung des Selbsterhaltungsprinzips in der vom Tauschprinzip beherrschten Gesellschaft.
    Der Marxsche Satz, der die Waffe der Kritik an die Kritik der Waffen bindet, enthält den Hinweis, daß die Revolution heute auch ein Problem der Kritik der Logik ist. Eine Herrschaftskritik, die nicht zugleich die Kritik der Herrschaftslogik mit einschließt, bleibt in der Herrschaftslogik gefangen und stärkt die Macht des Staates.
    Der Begriff des „herrschaftsfreien Diskurses“ steht unterm Unschuldsbann; gemeint ist der schuldfreie Diskurs, ein Diskurs, der glaubt, von der Schuldverstrickung sich freihalten zu können. Aus der Schuldverstrickung aber gibt es nur den einen Weg der Schuldreflexion, und die führt nber die Herrschaftsreflexion. Der herrschaftsfreie Diskurs glaubt, die Last abwerfen zu können, von der sich nur befreit, wer sie auf sich nimmt.
    Steht nicht Habermas‘ Konzept eines herrschaftsfreien Diskurses in der Tradition der Opfertheologie, und zwar in ihrer protestantischen Version als Rechtfertigungslehre?
    Weder die raf noch ihre Verurteilung löst das Problem, deren Symptom die raf ist. Die Trennung von Theorie und Praxis ist ein Teil des technologischen Verständnisses der Wirklichkeit und zugleich ein Instrument der Instrumentalisierung der Moral: Die raf und ihre Verurteilung unterliegen dem gleichen logischen Bann.
    Ist nicht Petrus wirklich der Fels, und ist nicht die Selbstreflexion dieses Felsen die Voraussetzung der Ersetzung des steinernen durch ein fleischernes Herz? Ist Petrus der Stein, gleich einem großen Mühlstein, der ins Meer geworfen wurde, und ist die Kirche dieser ins Meer geworfene Stein (vgl. Off 1821)?
    Wenn nach dem Strafrecht nicht das Töten, sondern der Mord bestraft wird, hat dies auch den Zweck, das Militär aus dieser Regelung herauszunehmen, d.h. dem Staat das Recht zu töten (oder zumindest das Recht, das Töten zu exkulpieren) zu lassen. Das aber begründet die Vermutung, daß es bei der Bestrafung des Mords nicht um die Bestrafung des Tötens geht, sondern um die Bestrafung der Anmaßung eines Rechts, das der Staat sich vorbehalten will. Deshalb ist der Mord kein Tatdelikt, sondern ein Täterdelikt, deshalb wird der Mörder bestraft, nicht der Mord.
    War nicht die mittelalterliche Eucharistiefrömmigkeit das Opfer einer Logik, die dem Tauschprinzip sich verdankt, war nicht das Modell der Transsubstantiation die Beziehung von Ware und Geld? Der wirkliche Leib Christi wäre das Brot, das gebrochen wird, das Brot, das man mit den Hungrigen teilt, nicht das Brot, das man als einzelner oder in Gemeinschaft ißt.
    Welchen Ursprung haben die englischen Begriffe mankind (kind: Gattung, Sorte, Art; adj. freundlich) und woman?

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