Durch ihr Verhältnis zur Philosophie war die christliche Theologie in die Geschichte des Weltbegriffs und in die Herrschaftsgeschichte verstrickt. Das Tabu auf der Herrschaftskritik (die Verteufelung der Herrschaftskritik), das mit dem Weltbegriff mitgesetzt war, hat zur Verdinglichung (Privatisierung und Biologisierung) der Sexualmoral geführt: es hat die Erinnerung an die messianischen Wehen verdrängt. Die Vergangenheit ist (ebenso wie die Physik) nicht wirklich stillgestellt und tot; stillgestellt und tot ist unser Blick auf die Vergangenheit (und auf die Natur). Die Logik dieser Stillstellung ist die Logik des Weltbegriffs (ihre Akteure sind die Urteilsform, die Bekenntnislogik und die Opfertheologie, das Inertialsystem). Der gordische Knoten: Ist nicht der Objektbegriff die Folge davon, daß er nur durchschlagen, nicht gelöst wurde? Durchschlagen hat den Knoten die Philosophie; Aufgabe der Theologie heute wäre es, ihn endlich zu lösen. Ein Hinweis dazu: Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben. Oder: Verfallt nicht der Paranoia, zu der die Klugheit der Schlange verführt. Die Paranoia ist der Grund des Mythos: der Schicksalsidee wie auch des Begriffs. Die erste Aufklärung (der Ursprung der Philosophie) verdankt sich der Verinnerlichung des Schicksals: die Allgemeinheit des Begriffs gründet darin, daß hier jeder zur Quelle des Schicksals aller geworden ist. Die zweite Gestalt der Aufklärung, die aus der Theologie hervorgegangen ist, verdankt sich der Verinnerlichung der Scham. Hier gründet die veränderte Beziehung zur Vergangenheit, in der sie durch Entfernung nahe gerückt wird (und aufs neue in Bewegung gesetzt wird). Die Vergangenheit ist nicht das ruhende Tote, sondern der bacchantische Taumel, der Hexentanz der letzten Walpurgisnacht. Die Einheit von Teufel und armer Seele gründet in der Verinnerlichung der Scham, während der Name des Dämons, des unreinen Geistes, der Besessenheit, zurückweit auf die Verinnerlichung des Schicksals (den Ursprung des Weltbegriffs). Steckt nicht in der Beziehung des einen zu den sieben unreinen Geistern die Beziehung der Verinnerlichung des Schicksals zu der der Scham (der Philosophie zum Ursprung der modernen Naturwissenschaft)? Durch die Kollektivscham (die eher auf den „verlorenen Krieg“ paßt als auf das ungeheuerliche Verbrechen des Judenmords) ist Deutschland zum Objekt der Welt geworden (Ursprung der Xenophobie: die Angst vor dem Blick des andern). Liegen die sexuellen Phantasien im Kontext des Pflichtzölibats nicht in der Konsequenz der Schamlogik (der Unfähigkeit zur Reflexion ihres herrschaftsgeschichtlichen Grundes)? Wenn bei Hegel die Idee die Natur frei aus sich entläßt, diese Natur dann aber den Begriff nicht halten kann: ist das nicht das genaueste Bild der Katastrophe (und die Widerlegung der Idee und des Absoluten, die sie freilich nicht gegenstandslos macht)? Die homousia hat das homologein entmächtigt: zum Bekenntnis neutralisiert (wie heißen das Bekenntnis und der Bekenner, die Confessio und der Confessor, auf griechisch?). Ist nicht die Confessio das vergeistigte Martyrium (Produkt der Vergeistigung des Leidens im „Opfer“)? Steckt darin nicht der Schlüssel der ganzen Geschichte: im sprachlichen Übergang von der hyle zur materia, von der physis zur natura, vom kosmos zum mundus? Hat hier nicht eine ungeheure sprachlogische Verschiebung stattgefunden (die gleiche Verschiebung die auch der tertullianischen Begründung der lateinischen Fassung der Trinitätslehre zugrunde liegt, wenn er dem hypokeimenon den lateinischen Namen des prosopon beilegt)? In der tertullianischen Übersetzung berühren sich die Logik der Tragödie und die des Kosmos; war dieser Konnex nicht überhaupt erst innerhalb des Christentums möglich? Hier wurde der Kosmos in den hochdramatischen Geschichtsprozeß mit einbezogen. Die Geschichte von den drei Leugnungen sprengt den Autoritätsbann der Kirche, ohne die Kirche selbst zu verwerfen. Sie begründet im Symbol des Hahns ein neues Selbstbewußtsein, sie gibt dem Heiligen Geist Raum. Wer die Schrift insgesamt als Prophetie liest, verändert (berichtigt) damit nicht nur den Sinn der Schrift, sondern auch den der Prophetie. Wenn die Idee des Absoluten der Schatten ist, den das Subjekt auf Gott wirft, berührt sich das nicht mit jener Auslegung des Prinzips der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, wonach niemand über seinen eigenen Schatten springen kann? Ist nicht das Verhältnis von Schuldknechtschaft (Lohnarbeit), Tauschprinzip und Privateigentum ein Reflex der Orthogonalität des Raumes und ebenso das Verhältnis von Opfertheologie, Bekenntnislogik und Dogma? Alle drei, das Tauschprinzip, die Form des Raumes und die Bekenntnislogik, sind dem selbst auferlegten Zwang der Instrumentalisierung unterworfen (sie gehören zu den Konnotationen der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“). Ist nicht die Mathematik (das Inertialsystem) die Finsternis über dem Abgrund? Hat nicht im Konflikt zwischen Peter Eicher und seiner Tochter diese „den besseren Teil erwählt“? Die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels: Sind nicht die Vögel akustische Blumen? Und ist nicht das Naturschöne Ausdruck von Wiederholungszwängen: Ausdruck des Seufzens und Harrens der Kreatur? Der Gehorsam ist ein Produkt der Verräumlichung des Hörens und die Sexualmoral ein Produkt der Verdinglichung der Keuschheit (die Zwischenstufe beider war die Logik der Schrift); beide sind Teil einer Beziehung von Theorie und Praxis, die im Verhältnis von Naturwissenschaft und Technik sich erfüllt (und Freiheit nicht kennt). Theologie im Angesicht Gottes erfüllt sich in einer Theologie von Angesicht zu Angesicht (als Reflexion der Scham, nicht als Unterwerfung unter ihr Gesetz: wie im Islam): Sie setzt die Freiheit der Kinder Gottes voraus.
Eicher
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30.05.90
Die Adaptation der Psychoanalyse bietet Drewermann den Vorteil, daß er zwar seine Gegner unter Anklage setzen kann, aber den „moralischen Druck“ (den er bei Metz „tadelt“) dadurch vermeidet, daß er die Moral suspendiert. Er vergißt: Das Problem der Kirche heute sind nicht die Kleriker, sondern das Problem ist der Zustand der Theologie. Und auf den Zustand der Theologie ist eher eine theologische Antwort vonnöten als eine psychoanalytische.
Die Psychoanalyse gehört wie der Marxismus zu den großen Endprodukten der europäischen Aufklärung, in denen der Primat des Verdachts sich durchsetzt; sie ziehen die Konsequenz aus dem Herrendenken der Aufklärung, gegen das sie ohnmächtig rebellieren. Herrendenken, und zwar oberlehrerhaftes, ist es, wenn Peter Eicher es Drewermann zubilligt, „Lob und Tadel“ verteilen zu müssen. Und wie tief er die psychoanalytische Schule des Verdachts verinnerlicht hat, sieht man an dem Vorwurf gegen Füssel, dem er vorhalten zu müssen scheint, daß er den Bruch mit der Kirche durch seine Konzeption selber provoziert habe(?).
Drewermann unterschlägt die Tradition; er unterschlägt, daß zum Inhalt der theologischen Erkenntnis ein affektives und ein moralisches Element gehört. Bezeichnend die Verwendung des Freud-Zitats in der Struktur des Bösen. Während Freud anerkennt, daß das Geliebtwerden-Wollen des Ich ein Teil seiner Verflechtung in den Gesamtschuldzusammenhang ist und die psychoanalytische Erinnerungsarbeit als das Medium der Aufarbeitung dieser Verflechtung in den Schuldzusammenhang sieht (wo Es ist, soll Ich werden), hält Drewermann das Ich unkritisch als Ausgangspunkt fest und ersetzt die Erinnerungsarbeit durch einen theologischen Dezisionismus.
Drewermann scheint die Differenz zwischen jüdisch-christlicher Offenbarungsreligion und dem Mythos nicht zu kennen (es finden sich sogar Anklänge an die diskriminierende Tradition des Gesetzesbegriffs). Diese Differenz, an der die Geschichte der Theologie seit den Kirchenvätern und über die Summa contra gentiles bis ins 17. Jahrhundert sich abgearbeitet hat, scheint er nicht zu kennen: Bei ihm versinkt auch das Christentum in den allgemeinen Religionsbrei, der für ihn als Psychoanalytiker, wenn er nicht die Krücke Jung benutzen würde, eigentlich nur noch Gegenstand der Kritik sein könnte. Einer Kritik, deren Modell in dem psychoanalytischen Psychosebegriff vorliegt.
Es gibt bei der Lektüre Drewermann Stellen, die provozieren, Stellen, bei denen man innehalten sollte, um zu prüfen ob der Grund der Irritation nicht in einem selber liegt. Wirklich schlimm scheint mir aber die Analogie des lebenschaffenden Gotteshauchs mit einem Furz zu sein. Hier, scheint mir, liegt ein zentraler Punkt für eine Drewermann-Kritik: Wird hier nicht die vom Christentum nicht ablösbare Lehre vom Heiligen Geist weggedrückt, sozusagen wie ein F. ausgeschieden? Ist das Pneuma wirklich nur ein Furz, ist es nur ein flatus vocis, wie es die Nominalisten genannt haben, an deren Tradition Drewermann ohnmächtig und zwangshaft gebunden bleibt. (Dagegen Umkehr des flatus vocis zur Begriffskritik, zum Sprechen des Objekts, zur Namenlehre, die den erhabenen, zarten Indifferenzpunkt bezeichnet, an dem eine neubegründete Theologie anzusetzen hätte.)
Die Anbindung an die wissenschaftliche Tradition kann zweierlei bedeuten:
– die Anbindung an das Herrendenken, das in der Wissenschaft naiv und unreflektiert sich durchsetzt und verkörpert (als Mittel der Naturbeherrschung in Natur und Gesellschaft); genau hiergegen richtete sich die Dialektik der Aufklärung: als Aufweis der Verankerung des Herrendenkens in der Struktur des Subjekts, der notwendigen Verknüpfung mit dem blinden Fleck, zu dem das Subjekt dann wird und den es selber im historischen Erkenntnisprozeß verkörpert;
– das Resultat dieser umwälzenden Arbeit des Herrendenkens (der kopernikanisch-kantischen Wende) wird akzeptiert, zur Kenntnis genommen, verarbeitet, aber in einer Form, in der der Begriff der Umkehr und das Gebot „Richtet nicht“ erkenntiskritische Relevanz gewinnen. Gegen das anklagende und richtende Herrendenken und sein Resultat wird Revision eingelegt: Begriff des parakletischen, verteidigenden Denkens. Über den Zusammenhang dieses Denkens mit der Idee des Heiligen Geistes, der dritten Person in der Gottheit, wäre nachzudenken. Hierbei wäre zu prüfen, ob nicht die Einbindung ins trinitarische Dogma, ob nicht das Abschlußhafte dieser Lehre die blasphemische Entmächtigung des Heiligen Geistes (durch Instrumentalisierung und Hypostasierung) zwangsläufig zur Folge hatte. Hier ist der Heilige Geist selbst zum Gegenstand des Herrendenkens geworden. Nicht die Lehre ist unwahr, wohl aber die Form ihrer theologischen Adaptation. Hieraus wäre die Idee eines entkonfessionalisierten Christentums, einer entkonfessionalisierten Kirche, die Kritik des Bekenntnisbegriffs und seiner Funktion in der Geschichte der Kirche, des Glaubens und im Selbstverständnis des Christen abzuleiten.
Verräterisch auch der Begriff des Bösen bei Drewermann, den er schließlich umstandslos mit der Psychose, mit dem Wahn identifiziert. Waren Hitler, waren die KZ-Schergen, waren die kleinen Denunzianten nur Psychoten? Dieses Konstrukt liegt nahe, wäre aber insoweit näher und differenzierter zu fassen, als anhand einer zeitnahen, aktualisierten Welt- und Gesellschaftskritik die (im klinischen Sinne) psychotischen Züge der Normalität aufzuzeigen und seine Abkunft aus der gegenwärtigen Gestalt des Realitätsprinzips (und des Ich) nachzuweisen wäre. Ein dialektischer Psychosebegriff hätte nachzuweisen, daß die Bahn des Realitätsprinzips heute direkt in psychotische Strukturen hineinführt. Drewermanns ungemein produktiver Erkenntniseinsatz steht durch den mimetischen Anteil, ohne den er nicht zu leisten wäre, selber in der Gefahr, diesem psychotischen Bereich zu verfallen. Die Gefahr erhöht sich in dem Maße, in dem er versucht, sie durch Projektion zu neutralisieren. Kuno Füssel und Eugen Drewermann sollten vielleicht doch gemeinsam prüfen, ob es nicht möglich ist, anhand der Beziehung zwischen dem materialistischen Begriff des falschen Bewußtseins und dem Psychosebegriff dieses Dunkel aufzuklären.
Sind die innerkirchlichen Ängste in der Endphase des Nationalsozialismus, daß nach den Juden die Kirche drankomme, die Katholiken, – waren und sind diese Ängste eigentlich so unbegründet? Ist der Schluß, den Karl Thieme nach dem Krieg daraus gezogen hat, daß auch der Antiklerikalismus Verwandtschaftszüge mit dem Antisemitismus aufweist, so unbegründet? Hier könnte es sich um Ängste handeln, deren Realteil von ihrem paranoiden Teil sich fast nicht mehr trennen läßt (Zusammenhang mit der psychotischen Struktur des Normalen?).
Kennt Drewermann eigentlich eine wirkliche Angstbearbeitung; benutzt er nicht statt dessen den lieben Gott nur als Palliativ? Sozusagen: Wer in Gottes Hand ruht – diese schöne fromme Vorstellung! -, hat es nicht nötig, Angst zu haben. Aber wird hier Angst nicht nur verdrängt, und affiziert das nicht auch die Gottesvorstellung? Gibt es überhaupt bei Drewermann eine Theologie, die dem Anspruch des Gottsuchens genügt? Leitet sich sein Gottesbegriff her von einem nicht abschließend aufgeklärten Bedürfnis (Konsumideologie, Reflex der Betreuungskirche)? Verweist nicht der Begriff einer „ontologischen Verunsicherung“ in dem Klerikerbuch auf den Dezisionismus Drewermanns? Man sollte Drewermann einen Lehrstuhl geben, aber dann die Auseinandersetzung mit ihm beginnen; es lohnt sich!
Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht ins Himmelreich eingehen: Ist das nicht ein Hinweis darauf, daß das selige Leben ohne die großartige Objektivität der Kinder nicht zu gewinnen ist; jene (präödipale) Objektivität, die noch nicht durch den blinden Fleck des Ich getrübt ist, bei der die Entzündung durchs Ich noch nicht eingetreten ist.
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