Empörung

  • 23.08.87

    Gewitter, gestern den „Historikerstreit“ gelesen: – Jede Seite agiert/reagiert aus ihrem Ghetto; moralische Empörung und Selbstmitleid in trüber Wechselwirkung; jeder erfährt nur noch das Un-/Mißverständnis des andern; auf der Historikerseite unverkennbar Reaktionen, die an Angeklagte in Nazi-Prozessen erinnern (oder an das auch an anderen schon wahrgenommene „pathologiche gute Gewissen“): ein Gewitter mit Blitz und Donner, aber kein reinigendes.

    – Ghetto-Mentalität: jeder reflektiert nur noch auf die Zustimmung seiner Anhänger, derer, die ohnehin der gleichen Meinung sind; Verständigung scheint ausgeschlossen, wird sie überhaupt angestrebt? – Zusammenhang mit der Struktur von Erkenntnis und Wissen? Starre Scheidung von Subjekt und Objekt; Unfähigkeit, den Gegenstandsbereich mit Reflexion zu durchdringen; Angleichung an Naturwissenschaft, in deren Objektbereich das Subjekt nicht vorkommt; Modell: Herrschaftsdenken, das Empathie, die Identifikation mit dem Beherrschten ausschließt, den Objektbereich insgesamt der Erfahrung entfremdet (Zusammenhang mit der Brutalisierung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert: das Objekt der Folter, der Gefangene im KZ und im Knast, der Feind, wird nicht als mit dem Subjekt vergleichbar oder durch Reflexion erreichbar erfahren).

    – Setzt Kritik der Erkenntnis nicht immer noch – wie bei Kant – Kritik der Naturwissenschaft voraus: Welche Folgen hatte es, als Habermas die Idee einer Versöhnung mit der Natur als mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht mehr vereinbar verwarf? Ist das „parvus error in principio magnus est in fine“ heute nicht auf die Physik – das Paradigma der Wissenschaft – in erster Linie zu beziehen? Ist das vielleicht schon seit Einstein nicht nur möglich, sondern gefordert, aber bis heute nur noch nicht gesehen?

  • 11.11.87

    Ontologie ist die Hypostase des Indikativs, die Festschreibung der richtend-urteilenden Erkenntnis als Mittel der Selbsterhöhung (die Wurzel der Empörung) des urteilenden (transzendentalen) Subjekts. Analog zu den „fürchterlichen Juristen“ kann man von den „fürchterlichen Philosophen“ sprechen. Der Konjunktiv eher als der Indikativ ist das Medium der Wahrheit. Der Indikativ schreibt den Schuldzusammenhang fest (und entlastet, exkulpiert das apodiktisch urteilende Subjekt).

    In den Kontext des Wahrheitsbegriffs, der am Indikativ, an den „Tatsachen“ festgemacht ist, gehört auch die kriminalpolizeiliche Fahndung und Ermittlung. Sie verweist auf das Feld der Schuld, in dem diese Empirie sich bewegt und das hier als eine unveränderliche Gegebenheit vorausgesetzt wird; und auch hier gibt es – wie in den Naturwissenschaften – eine Experimental- und Testphase, eine mörderische Gleichgültigkeit gegen Nebenfolgen, bis hin zur Inkaufnahme der Existenzvernichtung. Unbarmherzig gegen die, die sich nicht wehren können und deren Verteidigungschancen durch gezielten und taktisch manipulierten Verdacht gegen das „Umfeld“, das so zum Schweigen gebracht wird, vernichtet werden (= Herstellung von Laborbedingungen: vgl. Isolationshaft; ebenso hat die Einschränkung der Verteidigung in Terroristenprozessen nur Sinn, wenn die Verfahren als Mittel im politischen Kampf gegen den Terrorismus begriffen werden und das Schicksal wie auch die konkrete Schuld der einzelnen überhaupt nicht mehr interessieren).

    Wirksam war dieses Verfahren in allen vom Vorurteil beherrschten Bewegungen, von den Ketzer- und Hexenverfolgungen bis hin zum Antisemitismus. Weitergeführt wird es im Bereich der sogenannten Terroristenfahndung (in der die bis heute nur verdrängte, nicht wirklich aufgearbeitete Vergangenheit wiederkehrt, deshalb das aggressive Klima. in dem diese Dinge ablaufen). Hier gibt es inzwischen den gleichen Automatismus wunderbarer Schuldvermehrung und als Pendant dazu die panische Angst derer, die Grund zu haben glauben und fürchten zu müssen, daß sie in diese Netze hineingeraten können. Und Grund zur Furcht ist nicht mehr eine individuelle Schuld, sondern ein allgemeiner (z.T. an zufällige Merkmale wie Kleidung, Haarschnitt anknüpfender) Verdacht.

  • 3.4.1997

    Die Neutralisierung der Schrift (durch – zwangsläufig antisemitische – Historisierung) war das Modell der Neutralisierung des Faschismus (durch Objektivation, Urteilsmagie: „Verurteilung“, „Dressur des inneren Schweinehunds“).
    Die Neutralisierung (Historisierung) der Schrift steht unter dem Bann des „Wie“ und des „Eigentlich“ („wie es denn eigentlich gewesen sei“), das aber heißt: unter dem Bann der instrumentellen Vernunft, die das „Wer“ und das „Was“ in den Himmel vertreibt, um sie dort zu überwältigen (Kopernikus und Newton; Einsteins Einspruch). Das „Wie“ wird durch die Klugheit der Schlangen, das „Was“ durch die Arglosigkeit der Tauben symbolisiert. Die Taube aber verkörpert den Geist.
    Ist nicht die Christenheit in der Wassertaufe steckengeblieben (Apg 15 u. 814f)? Steht nicht die Geist- und Feuertaufe noch aus? Die Scheiterhaufen (der Versuch, den Geist zu instrumentalisieren) sind der Beweis.
    Auf das „Wer“ gibt es drei Antworten: den Namen, das Angesicht und das Feuer.
    Der erste Schritt zur Erfüllung der Prophetie ist es, wenn die Gegenwart in der Prophetie sich wiedererkennt.
    Religion als Religion für andere (Instrumentalisierung der Religion) ist der Nährboden des Faschismus.
    Ist nicht Kirche heute die Kirche derer, die die Wahrheit der Religion zwar nicht mehr kennen, es aber für wichtig halten, daß es Religion gibt. Pfarrer wird, wer sich für berufen hält, diese Religion zu organisieren. Diese Geschichte der Kirche hat zu tun mit dem Verhältnis von Name und Begriff.
    Der Begriff (in dem strengen Hegel’schen Sinn) ist die Verkörperung des Gattungslebens der Menschheit.
    Ist nicht der Kreuzestod Jesu die innerste Konsequenz einer Intention, die darauf abzielte, den Bann der Instrumentalisierung in seinem Kern, in einer Religion, die nur noch Religion für andere ist, zu lösen?
    Empörung ist einer der Knotenpunkte (zu denen auch die Bekenntnislogik gehört), an denen die Schuldverschiebung, die Selbstentlastung durch Projektion, das Feindbilddenken, die Verdummung und die Verrohung sich schürzen, ihr systemischer Zusammenhang sich demonstrieren läßt.
    Die Feindbildlogik ist pornographisch: Sie geilt sich an der in den Andern hineinprojizierten eigenen Gemeinheit auf. Empörung ist Unzucht. Empörung ist Ausdruck einer Idolatrie, deren Gott das Selbst ist (Verinnerlichung des Opfers).
    Naturvölker sind gleichsam Naturprodukte der Paranoia, der sie nichts entgegenzusetzen haben. Die Zivilisation hat – mit der Erfindung der Barbaren – die Paranoia instrumentalisiert (die instrumentalisierte Paranoia ist die Klugheit der Schlangen: deshalb hat die Aufklärung im Sündenfall sich wiedererkannt).
    Das Christentum als Religion und die christliche Theologie sind in diese Geschichte der Paranoia verstrickt (Symptom dieser Paranoia war seit je der kirchliche Antijudaismus).
    Angriff und Verteidigung bleiben im Bann der Klugheit der Schlangen.
    Das Christentum hat durch Privatisierung der Herrschaftsgeschichte die Astrologie, die in diese Herrschaftsgeschichte verstrickt ist, nur obsolet gemacht, sie hat ihr Rätsel nicht gelöst. Das Verhältnis Babylon/Rom spiegelt die Geschichte dieser Privatisierung aufs genaueste wider.
    Johannes in der Apostelgeschichte (Petrus und Johannes, die „drei Säulen“)!
    Nicht die Angst vor der Denunziation, sondern der Schrecken davor, daß es Denunziation gab, daß Menschen dazu fähig waren, war der Schrecken des Faschismus.
    Rekonstruktion des Tags: Der azurblaue Himmel und der Bogen in den Wolken?
    Zum Schuldverschubsystem gehört auch ein Vergessen: Es genügt nicht mehr, daß man einem etwas sagt, man muß ihn auch noch daran erinnern. Nur so ist das aktive Vergessen, dessen Opfer heute die theologische Tradition ist, zu erklären. Es gibt niemanden mehr, der daran erinnert.
    Der Fundamentalismus hat für seine Anhänger den Vorteil, daß sie nicht denken brauchen.
    In seiner Idee eines Natursubjekts hat Bloch die ökologische Bewegung antizipiert, die das Natursubjekt (das dumpfe, bewußtlose Leben) bewahren möchte, darüber aber das Proletariat, die ganze Masse der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Verachteten, vergißt.
    Auch die Biolandwirtschaft ist eine Marktstrategie.
    Das Eingedenken der Natur im Subjekt (der Quell der Sensibilität) ist etwas anderes als die Erinnerung an die gequälte Natur (der Reflex der Empfindlichkeit).
    Reproduziert sich nicht in Habermas‘ Kommunikationstheorie die Dumpfheit und Bewußtlosigkeit der Natur? Erschreckend ist allein, wie schnell und wie widerstandslos diese Dumpfheit und Bewußtlosigkeit in die Köpfe eindringt.
    Sind nicht alle ökologischen Probleme auch realsymbolische Probleme, die die Ökologie fundamentalistisch mißversteht? Die atomare Drohung, das Waldsterben und das Ozonloch werden erst dann wirklich verstanden, wenn auch das Symbolische darin, ihr Zusammenhang mit der „Natur im Subjekt“ verstanden wird.
    Wenn ein Kind in den Brunnen fällt, wird alle Ästhetik zynisch; dann bleibt nur das Retten. Nur: Das Kind, das gestern in den Brunnen gefallen ist, kann ich heute nicht mehr retten. Und die Verurteilung derer, die zugesehen, es aber „nicht wahrgenommen“ haben, mag mich entlasten, aber dem Kind hilft’s nicht mehr. Was hilft, wäre allein die Reflexion darauf, welche Kräfte und welche Mechanismen in den Zuschauern den Impuls zu retten unterdrückt und sie am Eingreifen gehindert haben.
    Die Geschichte als Entfaltung der Herrschaftslogik, die alles unter sich begräbt, ist Teil der Geschichte eines Anfangs, der noch nicht abgegolten ist, der zu wenden wäre. Hier ist der eine Sünder, über dessen Bekehrung mehr Freude im Himmel sein wird als über 99 Gerechte. Und es ist die Bekehrung dieses Sünders von seinen Wegen des Irrtums, mit der der Bekehrende seine eigene Seele rettet.
    Die Vorstellung einer unendlichen Vergangenheit und die eines unendlichen Raumes sind Vorstellungen einer Größe, deren eigentliche Bedeutung in der Vorstellung der eigenen Winzigkeit liegt. Hilft es vielleicht weiter, wenn man sich erinnert, daß der Titel „der Große“ (von Alexander bis zum preußischen Friedrich) sich als Säkularisat des mythischen Helden, des Heros, begreifen läßt? Diese Größenvorstellung hatte seit je etwas Wahnhaftes, und der Faschismus war ein kollektiver Größenwahn. Sie hängt zusammen mit der Wahnvorstellung dessen, der sich für Napoleon hält. Im Faschismus hat die Paranoia sich als Pest, als Seuche, als ansteckende Krankheit erwiesen.

  • 16.3.1997

    Das Private und das Öffentliche sind die beiden Brennpunkte der elliptischen Wege des Irrtums.
    Meint Thomas Powers wirklich, es handle sich um bloß mangelnde Sensibilität, wenn Heisenberg niederländische Physiker nach seinem Besuch in den Niederlanden im Oktober 1943 in einem offiziellen Bericht an den damaligen Reichserziehungsminister und wenige Monate später zusätzlich bei den deutschen Besatzungsbehörden in Holland denunziert (Heisenbergs Krieg, S. 452)?
    Macht diese „Unsensibilität“ nicht, was Goldhagen den eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen nannte, verständlich: den Rachetrieb der Empfindlichen? Bei Thomas Powers kann man die Verstrickungen der Physik (paradigmatisch der „Kopenhagener Schule“) in die Katastrophen dieses Jahrhunderts studieren. Die SS hatte Nils Bohr liquidieren lassen wollen, die amerikanischen Geheimdienste Heisenberg.
    Der Dingbegriff ist das Produkt der Instrumentalisierung (die der Ziele anderer als Mittel sich bedient). Das Feuer ist ein Reflex (die Rückseite?) der Instrumentalisierung (als Werkzeuge erfunden wurden, wurde auch das Feuer entdeckt).
    In die RAF kann ich mich insoweit hineinversetzen, als sie von der Erfahrung geprägt war und davon ausgehen mußte, daß das, was sie tat, nur Wut provozieren konnte. Allein die Präventivwut der RAF ist mir unverständlich (daß sie mit dem Kollektiv der Wütenden sich gemein gemacht hat, in das Kontinuum der Wut sich hat hereinziehen lassen). Diese Präventivwut hat dazu beigetragen, die Wut der anderen Seite zu legitimieren. So ist heute die Wut zum alles beherrschenden Klima geworden. Es gibt keine Wut, die nicht kollektive Züge trägt, die nicht der Absicherung durch andere bedarf. Wut ist die Substanz der Bekenntnislogik. Empörung ist ein Wutventil, in der sie sich selbst genießt; Empörung verstärkt die Wut.
    Der Ansatz zur Lösung des Problems des Lichts liegt in der Feststellung, daß die physikalische Richtung des Lichts seiner sinnlichen Richtung (der Richtung des Blicks) exakt entgegengesetzt ist. Ist das Auge des Polyphem die erste Gestalt der subjektiven Form der äußeren Anschauung? Blick und Gegenblick bedürfen zweier Augen, der Blick des Einäugigen (der Blick Polyphems) ist seelenlos. Das wirkliche Sehen ist reflektierendes Sehen, es hat die Sprache in sich; die subjektive Form der äußeren Anschauung abstrahiert von dieser Reflexion, sie abstrahiert von der Sprache. (Was ist mit den Augen von Sabine Christiansen und Ulrich Wickert?)
    Neoliberalismus: Was hat es mit den noctium phantasmata, den Schreckbildern der Nacht (Vesper-Hymnus), auf sich. Sind nicht die schlimmsten Schreckbilder der Nacht die, deren Urheber sie selber nicht mehr wahrnehmen, weil sie sie auf die Andern verschieben?

  • 10.3.1997

    Nochmals: Ist der Streit in der Prozeßgruppe nicht ein nachträglicher Sieg Hembergers und Schiefersteins, eine Folge der Unfähigkeit, das, was im Prozeß passiert ist, zu reflektieren und den Ohnmachtsschock, den das Urteil erzeugt hat, anders als durch Projektion zu verarbeiten? Und macht uns nicht unsere Empfindlichkeit zu Marionetten des Systems, zu willigen Vollstreckern der BANK, DIE IMMER GEWINNT? – Ist das Ganze nicht eine naturwissenschaftliche und metaphysische Erfahrung zugleich (Empörung und Verurteilung als Ich-Prothese; Kettenreaktion: Ausgrenzungen in der Linken als atomare Spaltprozesse; welche Halbwertzeiten haben linke Gruppenbildungen heute; sind die Halbwertzeiten ein Gradmesser der Reflexionsunfähigkeit)? Was bedeutet es eigentlich, wenn die Linke sich als Massenpartei versteht?
    Ist das nihil in dem Satz von der creatio mundi es nihilo nicht sinnlich anschaubar: Sieht es nicht aus wie Kohl oder Kanter?
    Verhalten sich Akkusativ und Genitiv zum Dativ wie die Welt zur Natur?

  • 12.2.1997

    Die Welt ist alles, was der Fall ist: Hat Wittgensteins Philosophie etwas mit dem Allgemeinen Relativitätsprinzip zu tun, ist sie die Verkörperung des frei fallenden Fahrstuhls?
    Die Christen haben seit der Eingliederung der Kirche ins römische Imperium (seit der Konstituierung der Theologie hinter dem Rücken Gottes) die Erlösung mit der Euphorie in dem frei fallenden Fahrstuhl verwechselt. Mit der zentralen Funktion des Falls in der Logik der Theologie hinter dem Rücken Gottes hängt es zusammen, wenn für diese Theologie die Hölle seit je realer war als der Himmel.
    Antisemitismus: Der Zustand der Welt reißt die Institutionen in den Abgrund, in denen die Hoffnung sich verkörpert. Der Mechanismus des „Beweises“: die sind auch nicht besser, zerstört alles.
    Als die moderne Aufklärung die Unendlichkeit von Raum und Zeit „bewiesen“ hatte, gab es kein Halten mehr.
    Diese Logik ist die der Personalisierung, die H.G. Kippenberg soziologisch an der Figur des am ha’arez festmachen möchte (am Königsland, am Modell des Königs als Schützer der Armen), damit aber mit Hilfe der gleichen Logik erklärt, die er eigentlich selbst erklären müßte, aber nicht durchschaut. Beziehen sich die Gleichnisse Jesu, auf die er verweist, wirklich alle auf die Situation der Landbevölkerung im Königsland, nicht auch auf den Großgrundbesitz von Stadtbewohnern?
    Die Logik der Personalisierung ist ein Teil der Bequemlichkeit und des Komforts, die heute zu Grundlagen der Weltanschauungen und damit mörderisch geworden sind.
    Löwengrube und Feuerofen: Die Wirkung der Medien läßt sich heute sowohl unterm Bilde des Drachenfutters wie unter dem des Brennmaterials, mit dem der Feuerofen geheizt wird, fassen. Als die Nazis das gesunde Volksempfinden ins Recht einführten, haben sie im Recht die Feuer der Hölle entzündet, und diese Feuer werden heute weiter genährt. Der Feuerofen, das ist der Ofen der Empörung. An der Empörung nährt sich der Rachetrieb (sie ist nicht seine Wurzel, nur sein Alibi).
    Die räumlich-dingliche Höllenvorstellung ist ein logisches Sinnesimplikat der Theologie hinter dem Rücken Gottes.
    Die Himmel: Das ist kein Pluralis, sondern ein Dualis (schamajim, wie auch Mizrajim). Drückt darin das Verhältnis von Gericht und Barmherzigkeit sich aus? Ist das Wasser das Gericht (und steckt nicht in dem Thales’schen „Alles ist Wasser“ schon das Inertialsystem), und das Feuer die Barmherzigkeit (das Feuer des Himmels, das die Kirche in die Hölle projiziert hat)?
    Ist das Licht der Realgrund der Sprache?
    Die Sinnfrage entscheidet sich nach dem Adressaten: Der Sinn für mich (der Sinn von Sein, aber auch jede sinnliche Qualität) ist zu unterscheiden vom Sinn an sich: vom Namen Gottes.
    Wie hängt die Sinnfrage mit der Sinnlichkeit zusammen?

  • 1.11.1996

    Hat die Geschichte vom Traum des Nebukadnezar, den Daniel nicht nur auslegen, sondern zuvor selber erst rekonstruieren muß, da Nebukadnezar ihn vergessen hat, nicht etwas mit den versteinerten Verhältnissen (in denen das subjektive „Gewinnstreben“ vom objektiven Rentabilitätsprinzip abgelöst worden ist) zu tun?
    Das Hebräische kennt zwar keinen Dativ, und d.h. kein Absolutes (und nur in dessen Kontext gibt es das „Gegebene“, auch einen Gott, den „es gibt“) wohl aber einen Stamm, ein Land und Menschen mit dem Namen Juda, von dem die „Juden“ ihren Namen haben. Juda aber heißt Dank. Israel kennt keinen Gott, der gibt, auch keinen Gott, den es gibt, nur den einen Gott, der fordert. Israel kennt keinen „lieben Gott“ und auch keinen „Herrgott“.
    Dativ: Sind das transzendentale Subjekt, die Idee des Absoluten und der Staat durch den Dativ vermittelt? Hat der Dativ den Genitiv reversibel gemacht (und so das Neutrum begründet)? War der Dativ der Kristallisationskorn der veränderten Konjugationsformen (der Repräsentant des Seitenblicks und der Katalysator der Vergegenständlichung der Zeit)? Bezeichnet der Dativ die Grenze zwischen Welt und Natur (nach ihrer Trennung durch die Urteilsform)? Ist der Dativ der Kern der hypostasierenden und verdinglichenden Gewalt in der Sprache (Ursprung des Substantivs, Denkmal und Spur des verschwundenen Namens)?
    Sind die Wege des Irrtums (auf die der Jakobusbrief verweist) nicht vorgezeichnet im Staat (in der Idee des Absoluten, die im Staat sich verkörpert: der Staatsanwalt ist der Anwalt dieses Absoluten, das nicht Gott ist, sondern der Schatten, den das Subjekt auf Gott wirft)?
    Wenn Pferde scheuen, wenn sie durch eine Pfütze gehen sollen, hat das vielleicht etwas mit der Erinnerung an das Schilfmeer zu tun?
    Feuer und Rasse: Sind Pferde das säkularisierte Feuer aus dem Namen des Himmels (das Modell jedes Rassismus), rührt daher nicht ihre Stellung in den Apokalypsen? Ist Reiten der Versuch, das Feuer zu domestizieren? War in St. Peter die Figut eines reitenden Papstes? Es gab sehr wohl (und das mehrfach) Pferde, die dem Wasser sich entrangen, aus ihm emporstiegen (ein, wie mir scheint, in dieser Gestalt sehr barockes und zugleich päpstlich-kirchliches Symbol). Die Griechen kannten Zentauren und den Pegasus. Mohammed ist zu Pferd gen Himmel aufgefahren, aber wie war es mit dem Elias?
    Das Rind, dem das Joch auferlegt wird, frißt Gras (ebenso Behemoth und Nebukadnezar). Auch Hitler war Vegetarier, und Kain opferte die Früchte des Feldes.
    Liegt nicht der schärfste Einwand gegen die habermas’sche Kommunikationstheorie in der Frage, ob ein herrschaftsfreier Diskurs überhaupt möglich ist? Wenn er möglich ist, dann nur im Zusammenhang der Reflexion von Herrschaft (der Auflösung der verblendenden Gewalt des Herrendenkens). Auch hier gilt der Satz, daß, wer nicht in den Angeklagten (ins Objekt, in die, die unten sind: in die Armen und die Fremden) sich hineinzuversetzen vermag, nicht mehr fähig sei, gerecht zu urteilen. Ein gerechtes Urteil wäre eins, in dem der Angeklagte (das durch den Akkusativ vermittelte Objekt) sich wiederzuerkennen vermag. Dem hat das positivistische Rechtsverständnis, eine Art zu richten, die den kantischen Unterschied zwischen bestimmendem und reflektierendem Urteil nicht mehr kennt, den Boden entzogen. Diese Konstellation ist vorgebildet und beim Namen genannt im deutschen Titel des Staatsanwalts.
    Der Verfassungspatriotismus macht die Verfassung zu dem, was sie ihrer eigenen Intention zufolge nicht sein darf: zu einem puren Bekenntnis. Man könnte sagen: Seit es den Verfassungpatriotismus gibt (den Radikalen-Erlaß und das Bekenntnis zur FdGO), ist die Verfassung zu einem Schutz der Verfassung vor sich selber, zu einer Waffe gegen ihre eigenen Grundsätze, geworden. Das Bekenntnis zu einer Sache destruiert ihren imperativen Gehalt. Seitdem gibt es die ebenso folgenlosen wie verhängnisvollen „Werte“, das Ferment der Selbstzersetzung der Moral.
    Es gibt nur einen Fall, in dem ein Jahrzente überdauerndes folgenloses Bekennen dann doch zu einer Art Realisierung führte: den der Deutschen Einheit, die sich einmal als Fall erweisen wird. Seitdem gilt Kohl, der seit je alle Probleme durch Aussitzen erledigte, als großer Staatsmann. Und seitdem beginnt eine ganze Nation, ihre Probleme nur noch auszusitzen. Dieser Arsch mag Ohren haben (mit denen er gleichwohl nichts mehr hört), er hat keine Augen mehr. Er ist nur noch auf sein Inneres gerichtet, und was er da wahrnimmt, ist Sch…
    Beitrag zur politischen Logik heute: Ist nicht die Logik des folgenlosen Bekennens und des dazugehörigen Aussitzens auch eine Gefahr für die politische Kritik, die von der Reflexion sich verabschiedet hat; gehören in den gleichen logischen Kontext nicht auch die Sitzblockaden (die dann ebenso akausal und aus Gründen, auf die sie keinen Einfluß genommen haben, zu einem „Ergebnis“ geführt haben wie die „Wiedervereinigungspolitik“)? Waren diese Sitzblockaden nicht der genaueste Reflex des Aussitzens, dessen Logik auch keiner begriffen hat? Und gibt es schließlich nicht eine gesellschaftslogische Beziehung des Aussitzens und der Sitzblockaden zu den Formen der juristischen Bekämpfung des Terrorismus, die ebenso phantasie- und reflexionslos sind, insbesondere zur Logik der „Isolationshaft“ (zusammen mit den mehrfach lebenslänglichen Haftstrafen, die, außer in einem antinomischen, in keinem rationalen Verhältnis zu dem juristisch an sich geforderten individuellen Nachweis der Beteiligung an den terroristischen Taten stehen)? Steht nicht die „Wiedervereinigungspolitik“ in der gleichen antinomischen Beziehung zu ihrem „Ergebnis“, das anderen Ursachen sich verdankt, wie die Sitzblockaden zum Abzug der Raketen und die Strafen in RAF-Prozessen zu den Beweisverfahren, auf deren Grundlage sie verhängt werden? Sind nicht die Demonstrationen und Sitzblockaden und die polizeilichen und juristischen Reaktionen darauf, die Isolationshaft und die mehrfachen lebenslänglichen Freiheitsstrafen, mit denen in diesem Lande der Terrorismus bekäpft wird, die Kehrseite der Politik des folgenlosen Bekennens und des Aussitzens, einer Politik der unschuldigen, sich selbst exkulpierenden Gewalt?
    Demonstrationen: die Wallfahrten des ritualisierten Widerstands.
    Findet die Beziehung der Politik der Bundesregierung zu ihrer kriminalpolitischen Durchsetzung nicht ihre erschreckende typologische Parallele in der Beziehung der Protagonisten der Deutschen Bischofskonferenz: in der Beziehung von Lehmann und Dyba? Verdiente der logische Zusammenhang des folgenlosen Bekennens mit dem gewalttätigen Aussitzen der Probleme (das innerkirchlich in der Fixierung auf die sexualmoralischen Themen sich anzeigt und an deren herrschaftslogischer Rekonstruktion sich demonstrieren ließe) nicht auch eine ernsthafte theologische Analyse?
    Hat nicht das Aussitzen mit der Sphäre zu tun, die in Psychoanalyse mit dem Analen näher bezeichnet wird? Hierher gehört sowohl die psychoanalytische Geldtheorie wie auch die Theorie der Paranoia.
    War nicht die Geschichte der ägyptischen Plagen und die der Verhärtung des Herzens Pharaos das genaueste symbolische Modell des Aussitzens? Der Pharao, zu dem diese Geschichte gehört, war der, der Joseph, die Ursprungsgeschichte seiner ökonomischen Macht, nicht mehr kannte.
    Hat der Vater Jesu, dieser andere Joseph, und zwar nicht nur durch seinen Namen, etwas mit dieser Ursprungsgeschichte von Herrschaft zu tun, und hängt die merkwürdige Rolle, in die die Väter in den Evangelien gerückt werden, nicht mit dieser Erinnerung zusammen? Hat nicht Jesus mit dem Gottesnamen Vater (mit dem er seinen eigenen messianischen Titel begründet) alle anderen Väter verdrängt?
    Reicht nicht das Beelzebub-Motiv vom Reich, das zerfällt, wenn es mit sich selbst uneins wird, das sein apokalyptisches Echo in Off 1713.17 in der „einen Meinung“ findet, die die Könige, die von den zehn Hörnern des symbolisiert werden, charakterisiert, in den Kern des apokalyptischen Gedankens, der apokalyptischen Idee?
    Sind die Planeten das Rätselbild des darin versteckten und verwirrten Baums des Lebens?
    Gibt es nicht seit dem Ende des Nationalsozialismus eine fürchterliche Angst vor Schuldgefühlen, die die Menschen zur projektiven Verarbeitung aller Erfahrungen, die daran erinnern, zwingen? Der Nationalsozialismus hat noch in seinem Untergang ein Netz ausgeworfen, aus dem es kein Herauskommen mehr zu geben scheint. Mit diesem Netz fängt er selbst die noch ein, die glauben, sich als seine Gegner verstehen zu dürfen.
    Haben nicht die indoeuropäischen Sprachen eine eingebaute logische Schutzvorrichtung, die ihre Reflexion erschwert, wenn nicht unmöglich macht, und ein rassistisches Selbstverständnis der „Arier“ fast erzwingt?
    Ist der „Angriff auf den Rechtsstaat“, den Hubertus Janssen in diesem Gericht (im 5. Strafsenat des OLG Frankfurt) erkannte, nicht in der inneren Logik des Rechtsstaats selber begründet? Ist es nicht die Verwechslung von Recht und Moral, die das „gute Gewissen“, das das Recht erzeugt, tierisch macht (eine Verwechslung, die am Ende nur theologisch sich auflösen läßt)? Stammt nicht die exkulpierende Kraft jeder Empörung aus dem Bewußtsein des Rechts, aus dem sie sich herleitet? Der Heiligkeit des Rechts entspricht hierbei die Heiligkeit der Empörung (Heumann ist die reinste Verkörperung dieser „heiligen Empörung“, die zwangsläufig denunziatorisch ist).

  • 22.10.1996

    Die heilige Empörung ist die bloße Umkehrung der Kollektivscham: Beide verwechseln die Verdrängung der Reflexion mit der Befreiung von Schuld. So bleiben sie in ihrem Bann, dem sie nicht entrinnen. Zeitenwechsel: Früher hat sich der „Spiegel“ mit Franz-Josef Strauß angelegt, heute legt er sich mit Monika Haas an. Was beide Kampagnen mit einander verbindet, ist allein ein sicherer Machtinstinkt, geändert haben sich nur die Bedingungen (und erst mit ihnen das Objekt). Hat nicht die Geschichte der RAF aufs verhängnisvollste dazu beigetragen, die Öffentlichkeit zu entpolitisieren, sie zu reduzieren auf die Hofberichterstattung der herrschenden versteinerten Verhältnisse? Auch die politische Information gleicht sich immer mehr der Unterhaltung an, deren Qualität ein Gradmesser der Kräfte ist, die notwendig sind, um die Selbstbesinnung der Menschen zu verhindern. Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht: Die Rücksichtslosigkeit der Systeme aufbrechen; ihre Rückseite, das, was sich hinter ihrem Rücken verbirgt, und was sie unter dem Zwang ihrer Logik nicht mehr wahrnehmen können, sichtbar machen. Blinde sehen und Taube hören: Die Subsumtionslogik aufbrechen heißt, im blinden Fleck des Begriffs die erkennende Kraft des Namens freisetzen, oder die Sprache als ein (allerdings unter den Bedingungen des Staats verkümmertes und nur durch die Reflexion des Staates hindurch neu zu erweckendes) Organ des Sehens begreifen.

  • 21.10.96

    Das Verwaltungsrecht ist ein Subsumtionsrecht (mit interner Beweisführung durch Belege: Dokumente, Urkunden, Akten), während das Strafrecht ein Reflexionsrecht ist (Beweis durch externe Zeugen, Indizien, Geständnis).
    Der Angeklagte wird zum Feind, wenn sein Selbstverständnis als Angriff erfahren und deshalb ausgegrenzt und unterdrückt wird. Gegen einen Angeklagten, in den das Gericht sich nicht hineinversetzen kann, kann eigentlich kein Prozeß mehr geführt, er kann nur noch bekämpft werden.
    Ist nicht die Kälte und die vergiftete Atmosphäre in RAF-Prozessen nur ein konzentrierter Ausdruck dessen, was den Weltzustand heute insgesamt kennzeichnet?
    Natürlich ist das Ziel politischer Prozesse Herrschaftssicherung und nicht Gerechtigkeit.
    Löst sich nicht das Problem, weshalb die Judenvernichtung mit den zusätzlichen Exzessen der Gemeinheit, der Brutalität und der Demütigungen erfolgte, in einem Strafrecht, das auch die mehrfache lebenslängliche Strafe kennt: in dem ein Leben nicht ausreicht, um den rechtsstaatlichen Rachetrieb zu befriedigen? Exzessive Strafen sagen nichts mehr über den, über den sie verhängt werden, sondern nur noch über die, die sie fordern oder verhängen.
    Hat nicht jedes Bekenntnis einen Empörungskern, den es dann über Opferkonstrukte abarbeiten muß; und liegt darin nicht ihre Kraft der „Sündenvergebung“?
    Der neutestamentliche Gottesname Vater hat die Kritik an den irdischen Vätern zur Grundlage und thematisiert und benennt sie. Die Kirche hat die irdischen Väter zum Modell des Vatergottes gemacht und damit den Gottesnamen (durch den Seiten- und Herrenblick auf den Namen) in einen Begriff transformiert. Diese Transformation erscheint in den Evangelien bereits in dem Gebrauch des Namens des Gottessohns durch die Dämonen und den römischen Hauptmann.
    Die kopernikanische Wende, deren Vorgeschichte bis in die antiken Kosmologien hineinreicht, hat die Erfahrungsgrundlage dessen, was in der Unterscheidung von Himmel und Erde sich ausdrückte, zerstört. Der Akt dieser Zerstörung (den die kantischen subjektiven Formen der Anschauung besiegeln) ist rekonstruierbar: Seine Grundlage ist der Seiten- und Herrenblick auf die Dinge.
    Der Seiten- oder Herrenblick ist nicht irreal, er ist nicht ohne fundamentum in re; aber im Kontext seiner Kritik läßt sich zwingend begründen, weshalb zur Prophetie das Votum für die Armen und die Fremden gehört.
    Als Feindbildgenerator ist der Staat nicht zu übertreffen; wer glaubt, dem Staat im Rahmen der Feindbild-Logik widerstehen zu können, ist schon gefangen. Diese Lehre ist zwanglos aus dem Versuch der Rekonstruktion und des Verständnisses des Antisemitismus (in dem der Schatten, den der Staat auf die Menschen wirft, zur Finsternis sich kontrahiert) zu gewinnen. – Kam nicht nach der Finsternis die Tötung der Erstgeburt?
    Sollte man nicht endlich begreifen, insbesondere im Anblick des Prozesses gegen Monika Haas, daß es auch die Möglichkeit der instrumentellen Nutzung der Paranoia gibt; sind nicht hier (wenn der Triumph sie leichtsinnig macht) die Urheber und Anwender der Paranoia angreifbar und verletzbar?
    Es gibt so etwas wie die „idealistische“ Selbsterzeugung des Rachetriebs. Dessen Paradigma ist der Antisemitismus, der in dem Augenblick seines Ursprungs, seiner Selbsterzeugung, für die von ihm Befallenen undurchschaubar wird (deshalb sind Antisemiten unbelehrbar – aber sind sie’s wirklich? Jak 520).
    Ohne Öffentlichkeit gibt es keinen Weg ins Freie.

  • 19.10.96

    Es kommt nicht darauf an, Schuldgefühle zu vermeiden oder loszuwerden, sondern sie reflexionsfähig zu machen, und es kommt nicht auf die Bewahrung der Identität, sondern auf die der Lernfähigkeit an. Wer, um seine Identität zu wahren, Schuldgefühle nur abwehrt, anstatt sie zu reflektieren, wird lernunfähig.
    Wer Schuldgefühle nur abwehrt, für den wird jeder, der Schuldgefühle weckt, zum Feind (Logik des Antisemitismus; Tötung des Urvaters).
    Als Habermas den Verfassungspatriotismus erfunden hat, hat er das Gewissen (und mit ihm den Quell seiner philosophischen Inspiration) an die Verfassung delegiert.
    War nicht die kantische Unterscheidung eines femininen von einem neutrischen Erkenntnisbegriff (die/das Erkenntnis) ein Versuch, Erkenntnis vom Bann der Reversibilität freizuhalten?
    Der Feind meines Feindes ist nicht in jedem Falle mein Freund; aber er ist nicht schon deshalb, weil er nicht mein Freund ist, mein Feind. Diese eindeutige Reversibilität gibt es nur auf der Grundlage der Logik des Feindbildes.
    Die schwindelerregende Logik, die den gegenwärtigen Weltzustand beherrscht, läßt sich nur durch ein Feindbild auf einfachere Strukturen bringen, aber nur um den Preis der Selbstverblendung.
    Die Bekenntnislogik gründet in dem gemeinsamen Nenner eines gemeinsamen Feindbildes. Die Selbstghettoisierung durch ein gemeinsames Feindbild ist das logische Modell der subjektiven Formen der Anschauung und der Isolationshaft.
    Zum Projekt Selbstaufklärung gibt es keine Alternative mehr.
    Wer heute im Ernst Kritik der politischen Ökonomie zu treiben versucht, kann sich nicht auf die Kritik der Ökonomie beschränken in der Erwartung, daß die politischen Konsequenzen sich daraus von selbst ergeben, sondern er muß die Kritik der politischen Ursprünge der Ökonomie (Ursprung der Ware in Raub und Eroberung: die Sklaven und die Frauen sind die ersten Waren) in die Reflexion mit einbeziehen. Ihr gegenwärtiger Ansatzpunkt wäre die heute epidemisch sich ausbreitende Xenophobie.
    Der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos geht die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation, der Aneignung des Eigentums an Grund und Boden und der Grundlegung des Sklavenhauses Ägypten durch Joseph voraus. So dialektisch ist die Bibel. Nur das Sklavenhaus Ägypten konstituiert sich als Sklavenhaus in dem Augenblick, als ein Pharao kommt, der sich Josephs nicht mehr erinnert: der die Ursprungsgeschichte des Sklavenhauses verdrängt. Diesen Pharao, der auch JHWH nicht kennt, und zu dem Moses dann im Namen des Gottes der Hebräer spricht, trifft die Geschichte der zehn Plagen und der Verhärtung des Herzens. Für ihn wird Moses zum Gott und Aaron zu seinem Propheten.
    Ist nicht Mizrajim ein sprechender Name, dessen Verstummen im Griechischen (schon in der LXX) und dann in der christlichen Tradition Buber in seiner Bibelübersetzung ratifiziert.
    Enthält der Name der Hebräer, in dem die Fremdheit und der Blick der andern Völker reflektiert wird, nicht die Forderung, diesen Blick auszuhalten und die Schuld, das Korrelat dieses Blicks, reflexionsfähig zu halten? Schon Abraham war ein Hebräer. Ebenso bekennt sich Jona vor den Schiffsleuten als Hebräer, und ebenfalls Judith im Lager des Holofernes. Jona verkündet Ninive den Untergang, Judith tötet den Holofernes.
    Die giftige Atmosphäre im Hogefeld-Prozeß gehört zu den Naturqualitäten eines RAF-Prozesses.
    Zum Zug, der in den Abgrund rast: Unsere Gerichte halten sich ans allgemeine Relativitätsprinzip Einsteins, wenn sie die beschleunigte Bewegung als einen der Ruhe äquivalenten Zustand ansehen (wenn sie die Bewegung des Zuges, die Außenwelt und den Abgrund leugnen): Ist der Zug ein Fahrstuhl, der außer Kontrolle geraten ist? Das allgemeine Relativitätsprinzip gründet in dem Theorem der Identität von träger und schwerer Masse, und es ist die Grundlage der Theorien vom Urknall und von den schwarzen Löchern. Verkörpert nicht das allgemeine Relativitätsprinzip das Gesetz der Katastrophe im Zentrum der Physik? Und ist die Logik dieses Prinzips nicht die gleiche Logik, die auch dem Schuldbegriff zugrunde liegt (der Konstellation von Feindbild-Symbiose, Abwehrmechanismen und Projektion)?
    Verhält sich die spezielle Relativitätstheorie zur allgemeinen wie die Barmherzigkeit zum Gericht?
    Das Feindbild konstituiert das Bild von der Schwere der Schuld (um die es im Kampf gegen die RAF jetzt allein noch zu gehen scheint).
    Läßt der Jakobus-Satz, daß, wer einen Sünder vom Weg des Irrtums befreit, seine Seele rettet, nicht auf das Werk Horheimers und Adornos anwenden?
    Wer das Böse nur verurteilt, gewinnt zwar für sich den Schein der Unangreifbarkeit, er trägt aber nichts mehr bei zur Auflösung des Banns des Bösen.
    Sed libera nos a malo: Das Übel ist etwas, das uns zustößt, während wir im Namen des Bösen mitgemeint sind. Die Strafe befreit nicht vom Bösen, sie verewigt es (das Ideal der Strafe ist die Strafe für eine unendlich schwere Schuld). Dem Konzept der „Endlösung der Judenfrage“ lag die Vorstellung einer Erlösung der Welt durch Bestrafung derer, auf die die Antisemiten ihre eigenen Schuldgefühle projiziert hatten, zugrunde.
    Die Fähigkeit in einen Angeklagten sich hineinzuversetzen, hängt im Falle der RAF von der Fähigkeit zur Reflexion der deutschen Vergangenheit ab: Sind nicht die Urteile in den RAF-Prozessen allesamt auch Versuche, auf diesem Wege die Vergangenheit endlich loszuwerden?
    Die „kleine Verschiebung“, die die messianische Zeit von der Vorgeschichte trennt, ist die Verschiebung der Logik der Verurteilung von der Vergangenheit in die Gegenwart: Es ist die gleiche Verschiebung, die aus dem Weltgericht das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht macht: der Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht.
    Schmerz und Schrecken: Nicht der Schrecken lähmt, sondern der Schmerz, der den unaufgelösten Schrecken noch in sich enthält. Nur wer dem Schrecken standhält, entwickelt die Kräfte des Widerstands (die Kräfte, die in den Mechanismen der Empörung und Verurteilung bloß verpuffen; Empörung und Verurteilung führen auch dort noch zum Einverständnis mit dem Bestehenden. wo man glaubt, es zu bekämpfen).

  • 10.10.1996

    Das Feindbild subsumiert die praktische Vernunft unter die transzendentale Logik, unter das System synthetischer Urteile apriori.
    In Deutschland ist nun mal das das Recht funktional, ohne inhaltliche Beziehung zur Idee der Gerechtigkeit. Durch den Titel Staatsanwalt ist hier der öffentliche Ankläger eine bloße Funktion: Anwalt des Staates. Nicht er erhebt und vertritt die Anklage, sondern durch ihn hindurch der Staat, der ihn zugleich von der moralischen Verantwortung entlastet, exkulpiert (das Organisationsprinzip der Eigentumsgesellschaft).
    Ist nicht die Kombination Petrus, Jakobus, Johannes wichtiger als die Kombination Petrus, Paulus, Johannes (die zur Konstruktion einer paulinischen Kirche führte, in der Reformation)? Blieb nicht auch der Protestantismus durch eine Art symbiotischer Feindschaft noch an die katholische Kirche gebunden? Etwas anderes ist die Kombination Rom, Jerusalem und Patmos.
    Wenn Jakobus an die zwölf Stämme in der Diaspora schreibt, nimmt er da nicht ausdrücklich Bezug auf die Zerstörung Jerusalems?
    Was haben die Träger gleicher Namen im Neuen Testament mit einander zu tun:
    – Johannes der Evangelist mit dem Täufer, auch mit Johannes Markus;
    – Jakobus der Sohn des Zebedäus mit dem „Herrenbruder“ (der ihm als Leiter der Gemeinde in Jerusalem folgte und dann zu den „drei Säulen“ gehörte);
    – Simon Petrus mit Simon von Cyrene und dem Namensgeber der Simonie;
    – der andere Judas (der Bruder des Jakobus, auch ein Herrenbruder?) mit dem Verräter?
    Haben die sieben Köpfe und zehn Hörner des Drachens und des Tieres etwas mit den siebzig Völkern zu tun?
    Zu dem Satz (auf der Rückseite des Buches von Pablo Richard): „Die Apokalypse entsteht in einer Zeit der Verfolgung“, bleibt zu fragen, ob nicht (und ggf. wie) die Verfolgungen mit dem Ereignis der Zerstörung Jerusalems zusammenhängen.
    Wäre nicht besser als das Beispiel des Lustmörders, auf das Horst-Eberhard Richter hinweist, das der Nazis, deren Taten eine Dimension erreichten, in der es möglich war, jeden öffentlichen Hinweis (auf Dinge, die ohnehin alle wußten) als Greuelpropaganda zu dementieren.
    Kann es sein, daß das Problem Birgit Hogefelds damit zusammenhängt, daß die eliminatorische Gewalt der Ächtung, der sie ausgesetzt ist, auf beiden Seiten aus der gleichen Quelle stammt: aus der „existentiellen“ Abwehr jeder Reflexion der deutschen Vergangenheit? Würde nicht diese Reflexion den symbiotischen Feindbild-Clinch, der für beide Seiten identitätsstiftend ist, von innen sprengen.
    Unterscheidet sich nicht dieser Prozeß von anderen RAF-Prozessen dadurch, daß hier erstmals (allerdings nur auf der Seite der Angeklagten und ihrer VerteidigerInnen) Ansätze zu erkennen sind, den Bann der Logik der Empörung (den Feindbild-Clinch) zu brechen?
    Wer blind und mechanisch den eigenen Rechtfertigungszwängen gehorcht, gleichsam sich selbst zu ihrem Objekt macht, betreibt, ohne es selbst zu merken, das Geschäft des Feindes: nicht nur, daß er unfähig wird, potentielle Verbündete vom wirklichen Feind (den er nicht mehr erkennt, da er ihn an seine reale Ohnmacht gemahnt, auf den er nur noch reagiert) zu unterscheiden. Er ernennt alle, die „gegen ihn“ sind, zu Feinden, um an ihnen dann (vor sich selbst und im Ghetto der Bekenntnisgemeinschaft, als deren Teil er sich begreift) gefahrlos seinen Mut unter Beweis stellen zu können. (Empörung macht blind. Der „Weltanschauungskrieg gegen den Bolschewismus“, der die Kirchen dem Faschismus als Verbündete zugeführt hat, war ein Vernichtungskrieg; er hat zugleich das Empörungs-Klima geschaffen, in dem die „Endlösung der Judenfrage“ in Angriff genommen werden konnte.)
    Das Feindbild begründet den dämonischen Geheimbereich, die zweideutige Beziehung der Politik zur Öffentlichkeit. In diesem Kontext wird das angebliche Nichtwissen der Nachkriegs-Deutschen, die die Nazizeit mit erlebt haben, verständlich. Vor allem: Es läßt sich nicht mehr damit begründen, die Nazis hätten ihre Verbrechen ja selber geheim gehalten. Diese Geheimhaltung war, was die Judenpolitik und die Konzentrationslager betraf, in jeder Hinsicht durchlässig, ein bewußt erzeugtes Klima des Gerüchts, das den doppelten Zweck verfolgte (und erfüllte): ein allgemeines Klima der Bedrohung zu schaffen, in dem jeder wußte, auf welche Seite er sich zu schlagen hatte, und so zugleich den Antisemitismus zu fördern. Es gab Dinge, die alle wußten, von der sie aber auch wußten: darüber darf man öffentlich nicht reden. Das Klima der allgemeinen Bedrohung war zugleich ein Klima der erzwungenen Komplizenschaft. – Hat das nicht die Nazizeit überlebt? Gibt es nicht auch heute wieder Dinge, die alle wissen, über die man aber nicht reden darf?
    Das Feindbild erfüllt diese entlastende Funktion: In den Feind braucht man sich nicht mehr hineinzuversetzen. Genau darin gründet seine identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion. Es befreit von moralischen Hemmungen (von den Hemmungen des Gewissens), es begründet das pathologisch gute Gewissen, den gemeinsamen Wahn.
    Das identitäts- und gemeinschaftsstiftende Element des Feindbildes ist zugleich Teil einer symbiotischen Bindung an den Feind.
    Ist nicht die RAF zu sehr Ausdruck einer Krise, als daß sie schon als Teil ihrer Lösung sich begreifen ließe? Nur soviel ist wahr: Die Erkenntnis und Reflexion der Krise bedarf des Versuchs, die RAF zu verstehen, und das Feindbild RAF verschärft nur die Krise, anstatt zu ihrer Lösung beizutragen. Jedenfalls gehört der Versuch einer strafrechtlichen Lösung des RAF-Problems zu den Instrumenten der Krisen-Verschärfungs-Strategien.
    Hat nicht die Linke seit der Besetzung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung immer wieder die Neigung bewiesen, an den schwächsten Stellen der „Front“ den eigenen Mut zu erproben? Ist sie nicht freiwillig (oder auch im Bann einer Verblendung durch Empörung, die sie nicht mehr zu reflektieren vermochte) in die Diskriminierungsfallen hineingerannt?
    „Übervater“: Er hätte Freud lesen müssen („Totem und Tabu“): Der Vatermord vermag Brüderhorden zu begründen, Opfer- und Bekenntnisgemeinschaften, denen die blinde und bewußtlose Identifikation mit den verinnerlichten Vätern (Nationalismus als Sinnesimplikat jeder symbiotischen Feindbindung) als ihr Grundgesetz einbeschrieben ist, nicht aber den Akt der Befreiung.
    Skinhead-Logik: Wer aus jeder Kritik „den Feind“ heraushört, macht sich selbst blind, ohnmächtig und dumm und braucht dann zur Selbsterbauung Mutproben.
    „Es gibt nichts tierischeres als ein reines Gewissen“: Dieser Satz (der die Logik aller Opfer- und Bekenntnisgemeinschaften in ihrer Wurzel trifft) bezeugt die Sensibilität und Aktualität der Autorin, die ihn geschrieben hat: Er rechtfertigt nicht nur den Nobel-Preis, der ihr jetzt zuerkannt wurde; er ist ein Schlüssel zur Erkenntnis der Wurzeln des Faschismus.
    War das nicht der Fehler der 68er: daß sie die Schrecken des Faschismus (die Schrecken, die der Versuch, Faschisten zu verstehen, auslöste) mit Hilfe der „unbedingten Verurteilung“ (der Empörung, die dann das „reine Gewissen“ erzeugte) geglaubt hat, verdrängen zu können?
    Rührt nicht die Psychologie-Feindschaft daher, daß die hier geforderte Reflexion die geliebten Feindbilder zersetzt (Reflexion hat mit dem, was die Nazis „Wehrkraftzersetzung“ nannten, zu tun)?
    Es gibt so etwas wie einen logischen Feind-Clinch: Sie kommen (wie das Subjekt vom Objekt) von einander nicht mehr los. (Ist nicht das Identitätsproblem ein Problem der Einheit des Objekts und der Welt wie auch ein Problem des Feindbildes, das diese Einheit garantiert; und lag darin, in seiner gemeinschafts- und identitätsstiftenden und zugleich moralisch enthemmenden Funktion, nicht die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für den deutschen Nationalsozialismus?)
    Wer bei H.-E. Richter nicht mehr hinhören kann – und da dürften sich in der Tat alle „Obrigkeiten“ mit den „Starrköpfen aus der RAF“ einig sein – will eigentlich garnicht wissen, was wirklich passiert ist, er wills nur entweder verurteilen oder rechtfertigen. Und genau diese Diskussion, die diese Alternative unterläuft, wäre notwendig. Dazu, scheint mir, liegen erste Ansätze sowohl in dem Beitrag von Birgit Hogefeld als auch in den Anmerkungen Horst-Eberhard Richters vor. Daß diese Diskussion vielleicht sogar zu allererst mit der Vergangenheit, die nicht vergehen will, zu tun hat, damit, daß Auschwitz, je weiter wir uns in der Zeit von ihm entfernen, uns immer näher rückt, …
    Kann es sein, daß die symbiotische Feindbindung einen für beide Seiten gemeinsamen Grund hat: die Vergangenheit nicht an sich heranzulassen?
    Hängt nicht die besondere Verführbarkeit des deutschen Volkes (zu der das Werk Daniel Jonah Goldhagens erneut einschlägiges Beweismaterial vorgelegt hat) mit einem auch hier in diesen Prozeß hineinwirkenden Staatsverständnis zusammen, ein Staatsverständnis, das unter anderem auch die Transformation einer Angeklagten zum Feind (und damit den Rückfall in die Logik des Vorurteils, die die Zumutung, in die Angeklagte sich hineinzuversetzen, apriori abwehrt und diesen grundhumanen Akt mit dem Stichwort Sympathisant grundsätzlich diskriminiert) zu erklären vermag?
    Feind/Sklave/Ausländer/Ware? Ist nicht der Feind (das Objekt der reflexionslosen Verurteilung) das Grundmodell des Objektbegriffs?
    Man muß begreifen, daß die „unbedingte Verurteilung“ (auch die des Faschismus) nicht nur ein Instrument gegen den Faschismus ist, sondern ebensosehr ein Erbe des Faschismus: Sie ist die Basis und der Kristallisationskern der deutschen Staatsmetaphysik.
    Es gibt nicht nur eine Psychologie des Vorurteils, es gibt auch eine Logik des Vorurteils; und wäre deren Analyse nicht vielleicht sogar wichtiger?
    Ein Luxus-Zug, der auf den Abgrund zurast:
    – Die Rechten verriegeln und bewachen die Türen (daß ja niemand hereinkommt) und schmeißen alle raus, die nicht hineingehören,
    – die Politiker und die Medien bemalen die Fenster und geben die Bilder als die Außenwelt aus, die sie unsichtbar machen,
    – die Gerichte leugnen die Bewegung des Zuges, die Außenwelt und den Abgrund und verurteilen jeden, der daran erinnert.
    Aber hat eigentlich wirklich jemand daran geglaubt, daß es helfen würde, in dem mit wachsender Geschwindigkeit dahinrasenden Kapitalismus-Express das Personal zu erschießen; käme es nicht vielmehr darauf an, seine Technik, die Beschleunigungsmechanismen (die nur als gemeinsame Mechanismen des Zuges und seiner Außenwelt sich begreifen lassen) zu studieren, um den Sturz in den Abgrund vielleicht doch im letzten Augenblick noch zu verhindern?
    Weshalb die Paranoia die Welt falsch abbildet: Dient nicht das Feindbild auch dazu, das Handeln des Feindes zur Rechtfertigung des eigenen Handelns zu mißbrauchen, zugleich aber die Folgen dieses Mißbrauchs (ihre Reflexion) auszublenden?

    Eine sprachlogische Anmerkung

    Es fällt auf, daß die Vertreter der Bundesanwaltschaft im Hogefeld-Prozeß den Begriff Bekennerschreiben konsequent vermeiden und durch „Selbstbezichtigungsschreiben“ ersetzen; mittlerweile hat dieser Begriff auch in der Berichterstattung der Presse Eingang gefunden. Es dürfte nicht uninteressant sein, die etwas wirre Logik dieser Sprachkonstruktion ein wenig genauer zu betrachten:
    – Im normalen Sprachgebrauch zeichnet sich der Begriff der Bezichtung durch seinen direkten, nach außen gerichteten Objektbezug aus: Bezichtigt wird immer ein anderer (im Falle der Verdächtigung, der Denunziation, der Anklage); hinzu kommt, daß bei einer bloßen Bezichtigung die Tatbeteiligung noch nicht feststeht, daß sie problematisch und noch nachzuweisen ist. Der reflexive Gebrauch des Begriffs findet sich eigentlich nur im Falle des begründeten Zweifels an der Wahrheit einer solchen „Selbstbezichtigung“ (z.B. wenn jemand sich selbst bezichtigt, um einen anderen zu decken): Bezichtigt wird einer, der die Tat leugnet, und das gilt auch für die „Selbstbezichtigung“, die stellvertretend für den wirklichen Täter dessen Tatbeteiligung leugnet.
    – Sprachlogisch ist der Begriff der Selbstbezichtigung auf den Fall des Bekenntnisses nicht anwendbar, ein „Selbstbezichtigungsschreiben“ ist kein Bekennerschreiben. – Teil der staatsanwaltlichen Logik, eines strategischen, instrumentalisierten Gebrauchs der Logik, erzwungen durch den Kontext des politischen Prozesses (in der Nazizeit reichte die Denunziation, eines Beweises bedurfte es dann nicht mehr)?
    – Adressat eines Bekennerschreibens ist die Öffentlichkeit, Adressat einer Selbstbezichtigung ist die Anklagebehörde; so wird die Tat durch die Sprache entpolitisiert und unter die Strafrechtslogik subsumiert (die Subsumtion unter die Strafrechtslogik wird mit Hilfe des Reflexionsverbots schon ins Vorfeld der Ermittlung und Anklage verlegt);
    – wer sich zu einer Tat bekennt, will die Gründe der Tat öffentlich machen; durch den Begriff der Selbstbezichtigung werden diese Gründe (und d.h. in diesem Falle: der politische Hintergrund und die politischen Motive der Tat) schon im vorhinein ausgeblendet;
    – Selbstbezichtigung ist so etwas wie eine Selbst-Denunziation, der Begriff bezieht den diskriminierenden Ton, der den kriminellen Charakter der Handlung ins Licht rückt, mit ein, er unterstellt als Absicht der Täter, was der Ankläger nur heraushört; die „Selbstbezichtigung“ macht die Tat noch verwerflicher, weil der sich selbst Bezichtigende sich zu etwas Verabscheuungswürdigem bekennt, damit aber sich selbst aus der Gemeinschaft der Verurteilenden ausschließt (nicht die Tat, sondern das Sich-Ausschließen aus dieser Gemeinschaft ist der zu sanktionierende Akt); oder auch: das Bekenntnis zu einer Tat greift die Rechtsordnung an, indem es intendiert, einer kriminellen Handlung den Schein des Normalen, des Erlaubten, einer ungestraft öffentlich zu machenden Handlung zu geben versucht (ein anderer, der nicht der Täter ist, würde dagegen durch die Denunziation ein öffentliches Interesse, deren Grenzen mittlerweile ohnehin die Staatsanwaltschaft definiert, wahrnehmen);
    – liegt es nicht in der Konsequenz dieser Logik, daß am Ende das Konstrukt der „Nestbeschmutzung“ (als ein Akt kollektiver „Selbstbezichtigung“) zu einem Strafrechtstatbestand und damit kriminalisiert wird?
    Ensteht hier nicht so etwas wie eine Schuldautomatik, die in der Logik der Verurteilung gründet? Es kommt nicht darauf an, daß man kein Unrecht tut, sondern allein darauf, daß man sich nicht dazu bekennt, sondern es unbedingt verurteilt und verabscheut; ob die, die es verurteilen, es möglicherweise selber tun, ist fast schon unerheblich.

  • 08.10.1996

    Hogefeld-Prozeß: Es wäre sicher befriedigender, wenn es zu einem klaren, von beiden Seiten akzeptierten Urteil käme, entweder durch Feststellung einer zu sühnenden Schuld oder durch Feststellung der nachgewiesenen Unschuld, ein echter Freispruch. Aber muß es nicht in Kauf genommen werden, wenn weder eine Schuld noch die Unschuld nachgewiesen werden können, daß dann das in dubio pro reo Anwendung findet, zumal die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß ein Unschuldsnachweis, der objektiv möglich wäre, nur deshalb von der Angeklagten nicht in Anspruch genommen wird, weil sie andere nicht belasten (die Beziehung auch zu denen, die sie bereits abgebrochen haben, nicht abbrechen) will. Sind – außer für die verfolgungssüchtige Logik der Anklage – nicht Umstände denkbar, die diese Entscheidung moralisch geboten erscheinen lassen? (Vgl. hierzu den Hinweis Klaus Jünschkes auf RAF-Urteile, die im Bewußtsein, daß sie nicht zu halten sind, gleichwohl gefällt worden sind, auch die Bemerkung Birgit Hogefelds zu dem Urteil gegen Eva Haule.)
    Ist nicht die Qualität und Intention der BILD-Zeitung logisch ableitbar aus dem Prinzip, in ihren Texten Nebensätze grundsätzlich auszuschließen?
    „Der Himmel rollt sich zusammen wie eine Schriftrolle, und all sein Heer welkt ab, wie das Blatt am Weinstock abwelkt und wie welkes Laub am Feigenbaum. Denn trunken ward im Himmel das Schwert des Herrn …“ (Jes 344, vgl. Off 614, Mt 2429, 2 Pt 310) Beschreibt nicht der Himmel, der durch den kopernikanischen Seitenblick in ein reines mathematisches Konstrukt sich aufgelöst hat, aufs genaueste die Grenze zwischen Bild und Wort, Begriff und Name, Mathematik und Sprache, die Levinas’sche Asymmetrie, den Unterschied zwischen Indikativ und Imperativ (Wasser und Feuer: haschamajim))? Am zweiten Tag, mit der Erschaffung der Feste, wurde die im Anfang ersterschaffene Sache zum Namen.
    Heute richtet sich das Weltgericht, das dahin tendiert, alle zu seinen Anwälten (zu Weltanwälten) zu machen, tendentiell gegen sich selbst: Es ist zu einem objektiven Instrument der Selbstverdammung geworden, in der die Philosophie endgültig untergeht. Nachdem die projektive Ableitung des Gerichts, die Abwälzung der Last auf Andere, kein Ausweg mehr ist (sie ist identisch mit dem Zustand, dem sie entgehen möchte), bleibt nur die Selbstreflexion, die allerdings, indem sie darauf verzichtet, von der Feindbildlogik Gebrauch zu machen, sich alle zu Feinden machen wird.
    Bekenntnisgemeinschaften sind Empörungs- und Verurteilungsgemeinschaften. Deshalb brauchte der Faschismus den Antisemitismus, der zur Ursprungsgeschichte des Staates gehört, wie die „Endlösung der Judenfrage“ der Beginn der Selbstzerstörung des Staates war.
    Wer sind Gog und Magog (Haman war ein Agagiter <Esth 31>, nach Ezechiel ist Gog der Fürst von Magog <382>, nach der Offenbarung sind Gog und Magog die Völker der Endzeit <208>)?
    Der Staat: die Geburtsstätte der Geldwirtschaft und das Harmagedon (Off 1616) seiner Selbstvernichtung (ist nicht die Ware deren Instrument)?
    Sabine Christiansen u.a.: Dem Bundeskanzler und dem Präsidenten der Arbeitgeberverbände widerspricht man nicht, und man fällt ihnen nicht ins Wort, während man bei SPD-Politikern und bei Gewerkschaftsvertretern es sich leisten kann und es auch tut.

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