Empörung

  • 14.01.90

    Auch das Lachen ist (wie die Gewalt) eine Form der sprachlichen Beziehung: es drückt etwas aus und teilt etwas mit; auffällig ist die Verwandschaft mit der Urteilsform (es stellt eine intersubjektive Objektbeziehung her: Lachen ist „ansteckend“, d.h. es appelliert an das Mitlachen anderer, und Lachen ist immer Lachen über etwas); es wirft so ein Licht auf die sprachliche Urteilsform, in der das Lachen (als Objekt-konstituierend und Subjekt-begründend) gleichsam drinsteckt. M.a.W. die theoretische Erkenntnis ist nicht affektlos; sie ist Teil einer praktischen Beziehung zum Objekt, die es zu entschlüsseln gilt. Anklage und Verteidigung, Herrschaft und Solidarität, Objektivierung und Empathie beeinflussen nicht nur die Form, sondern auch den Inhalt der Erkenntnis, wobei anklagendes, richtendes (Herren-) Denken immer den Vorteil daraus zieht, daß Unschuld vor Lachenden sich nicht verteidigen läßt; Lachen befördert Herrendenken.

    Es besteht Grund zu der Annahme, daß zu den Konstituentien des transzendentalen Subjekts und der vergegenständlichten Welt das Lachen gehört; und daß dieses Lachen sich unmittelbar in den transzendentalen Anschauungsformen ausdrückt (es ist so zugleich der Grund der Unerkennbarkeit der Dinge an sich: Lachen „befreit“ von der Verzweiflung durch Verdrängung – und Stabilisierung – ihres Grundes; Genese des „pathologisch guten Gewissens“; Lachen und kopernikanische Wende: Lachen vertreibt die Engelscharen; Lachen als Projektion und als Systemgrund der kantischen Antinomien der Vernunft). Vgl. Büchners Hinweis im „Lenz“ über den Zusammenhang von Lachen und Atheismus und Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“, in der zum erstenmal der „Tod Gottes“ verkündet wird. Lachen als Stabilisierung der Empörung, oder: weshalb Satire und Kabarett nichts ändern. – Es ist kein Zufall, wenn an keiner Stelle im Neuen Testament darüber berichtet wird, daß Jesus gelacht hätte. Wer so wehrlos, angstfrei und souverän die Sünde der Welt auf sich nimmt, dem ist das Lachen (als Grund dieser Welt) vergangen. (Weshalb lacht Sara? – Lachen im AT?)

  • 22.11.89

    Jürgen Habermas‘ „Nachmetaphysisches Denken“ zieht seine Verständlichkeit aus einer nachlässigen Redewendung (wie übrigens bereits 70 Jahre zuvor Peter Wust, der dann in Habermas‘ Index als Peter Wurst erscheint, ähnlich Hermann Krings als Hermann Krungs). Dieser eher aggressive als polemische Metaphysik-Begriff, in dem Marx und Heidegger sich gegenseitig denunzieren und zugleich in der Sache sich treffen, ist zwar nicht beliebig verwendbar, er zieht jedoch seine Kraft aus einem vorphilosophischen Impuls, aus einer begrifflichen Unschärfe, die ein geschärftes Ohr aus dem Beiklang der Empörung unzweideutig heraushören kann. Hier (im „nachmetaphysischen Denken“) könnte Habermas‘ eigene postmoderne Position liegen, die ihn dann so allergisch gegen die offene Postmoderne macht, die das Geheimnis ausplaudert (so reagiert einer, der sich ertappt fühlt). <genauer: Analyse des Metaphysik-Begriffs, Einheit von „naivem Realismus“, der nie Metaphysik war, und weltanschaulichem Religionsverständnis, das auch nie Metaphysik war. Hilflose Dogmen-Kritik.>

    Nähe und Differenz von Ideologie und Wahrheit: Ideologie ist (Selbst-) Rechtfertigung; wird verwechselt mit Verteidigung (des anderen, des angeklagten Objekts); „no pity for the poor“ ist die Gefahr des antiideologischen Denkens; die Differenz liegt im Verhältnis zur Schuld. (Das Verhältnis zur Schuld deckt den Grund der Reflexionsbegriffe auf und macht sie kritisierbar. Hier wird der Rosenzweig-Benjaminsche Gebrauch des Begriffs des Mythos bestimmbar; der Heideggerschen Fundamentalontologie wird der Boden entzogen, oder genauer: sie erweist sich hier als bodenlos.)

  • 07.11.89

    Es ist in der Regel die moralische Empörung, die dann von anderen Bekenntnisse fordert. Die moralische Empörung ist ein Teil der Rechtfertigungsmechanismen die den Bekenntniszwang begründen und auslösen. „Die Welt ist alles was der Fall ist“: In diese Mechanismen und Zwänge gerät man, indem man ihnen verfällt. Im Begriff der Verfallenheit drückt sich die Anpassung (Mimesis) an die subjektlose Welt („Natur“) aus. Wer einer Sache oder einer Person verfallen ist, ist seiner selbst nicht mehr mächtig, gleichsam subjektlos. Prototyp des Verfallenen ist der Fan. Die Verfallenheit drückt genauestens den Untergang des Subjekts im Schuldzusammenhang der (zweiten) Natur aus.

  • 01.09.89

    Antisemitismus, Ketzerverfolgung und Frauenfeindschaft: die Kehrseite der Trinitätslehre und der Inbegriff der Sünde wider den Heiligen Geist zugleich?

    – Antisemitismus: der Haß gegen die Vaterimago, gegen das Gewissen, oder die falsche Autonomie (der Schatten des Absoluten? – vgl. Lyotard: Heidegger und die Juden);

    – Ketzerverfolgung (Dogma, Bekenntnis, Inquisition; Jesus selbst ein Ketzer?: er erscheint nur als Objekt im Credo – „geboren, gekreuzigt, gestorben und begraben“): die kirchliche Usurpation des Gerichts, Entäußerung als Selbstentfremdung (Vernichtung des Inhalts), Religion als Blasphemie (Selbstzerstörung durchs richtende Urteil, Rezeption der Philosophie als „Empörung“, Rückfall in den Mythos aus Angst vor dem Mythos);

    – Frauenfeindschaft (Sexismus), Hexenverfolgung: Diskriminierung des Trostes, der Hilfe, der Empathie, des verteidigenden, Parakletischen Denkens (Rückfall in Magie aus Angst vor der Magie). – Besondere Affinität (Parallelität) der Geschichte des Dogmas zur Stabilisierung des Patriarchats und zur Diskriminierung der Frauen im Christentum?

    Trinitätslehre: an der Welt gespiegelte Theologie, solange gültig wie die Weltgeschichte (= Herrschaftsgeschichte), oder solange gültig wie die episkopale (= weltliche) Verfassung der Kirche? – Christus nur bis zum „Ende der Welt“ bei der Kirche (vgl. Rosenzweig, Briefe S. 73f). Trinitätslehre als notwendige Konsequenz der Subsumtion der Theologie unter die Vergangenheit, Vergangenheitsform der theologischen Wahrheit (Instrumentalisierung wie Naturwissenschaft; Christentum als Ausbildung einer Theologie des futurum perfectum).

    „Macht Euch die Erde untertan“: Es heißt nicht: macht Euch den Himmel untertan (das entscheidende Argument gegen das Dogma!) – Aber die unterworfene Erde ist zur Welt, zum Universum geworden und hat den Himmel zum Verschwinden gebracht (das Dogma als Reliquie des Himmels?).

    David-König (Messias)/Cäsar-Kaiser (Imperialismus): Ursprung der politischen Theologie. Seit wann ist Kyrios ein Gottesname?

    Disteln und Dornen/Dornbusch/Dornenkrone: vgl. den Dornbusch in der Jotam-Fabel (Königsfabel, Ri 9,8) und bei Deutero-Isaias: „Zypressen wachsen statt des Dornengestrüpps“ (Is 55,13).

    Ursprung der Schrift: Zusammenhang mit dem Ursprung der Städte (vgl. die Kainsgeschichte), der Geldwirtschaft, des Königtums? (Weltlich wird die Welt durch die Stadt als logisches und transzendentales Zentrum – als Inertialsystem.)

    Trier, Liebfrauenkirche: der Heilige Geist als Stuka (Ähnlichkeit mit der ästhetischen Form der unsäglichen Raketen-Madonna).

    „Mühselig“ (selig der Mühe: Entschuldung, Versöhnung durch Arbeit als zentrale Denkfigur der Herren-/Opfer-Theologie, vorauseilende Anpassung an Lohnarbeit und Kapitalismus? Arbeit und Erbschuld – vgl. armselig), „Misericordia“ (Barmherzigkeit, ein Herz für die Armen?):

  • 08.07.89

    Das Licht repräsentiert die Gnade in der Natur; die herabsteigende Bewegung (S. Weil), die nicht dem Gesetz der Schwerkraft gehorcht. Das „Es werde Licht“ ist die Prophetie der Gnade. Die Schöpfungstage sind Stufenfolgen von Schwerkraft und Gnade (Nacht und Tag).

    „Die Einbildungskraft ist unablässig bemüht, alle Ritzen zu verstopfen, durch welche die Gnade eindringen könnte“ (S. Weil, S. 28): Das ist eine der wichtigsten Funktionen des Geredes, des Gerüchts, andringende Wahrheiten so zu interpretieren, daß sie nicht mehr gefährlich werden können (Sprachregelungen). Wenn Gerüchte bis zur Unbelehrbarkeit fortschreiten, so ist das nur ein Hinweis darauf, wie nahe die Wahrheit bereits ist. Es gibt einen vom Es arrangierten strategischen Gebrauch des Gerüchts (erkennbar als Wiederholungszwang).

    Das Ende des Faschismus (die „Gnade der späten Geburt“) erschwert die Auseinandersetzung mit ihm, erleichtert sie nicht: Das Urteil über die Vergangenheit (die „Empörung“, die der Erinnerung den Weg verstellt) ist nämlich selber eine der Quellen des Faschismus.

  • 23.04.89

    Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Vorstellung des „schwarzen Lochs“ und der der Hohlraumstrahlung (Plancksche Strahlungsformel)?

    Nachmittags Spaziergang mit Gespräch über Gott, Paradies, Sündenfall; Erkennen was gut und böse ist, dagegen: „Richtet nicht …“; Fortschritt als unaufhaltsamer Sündenfall; Wissen. Empörung, Luzifer. Keine Errettung, die nicht auch in die Vergangenheit eingreift („ist angesichts der Leichenberge, auf denen wir stehen, anders eine Errettung denkbar“); Schlüsselgewalt Petri, der Kirche: Was Du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein: sie hat bis heute keinen Gebrauch davon gemacht; Voraussetzung wäre die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit (Antisemitismus, Konstantin, Bekehrung Europas und der Welt durch Gewalt, Ketzer- und Hexenverfolgung); Ohnmacht Gottes, leidender Gott.

  • 08.04.89

    Die Kriege dieses Jahrhunderts stellen sich in Europa in den Erfahrungen der anderen Nationen (Franzosen, Belgier, Polen, eigentlich aller anderen Völker) anders dar als in der der Deutschen. Trotz der Umkehrung am Ende haben die späteren Sieger den Krieg als Opfer (und ihren militärischen und anderen Widerstand als notwendig, sinnvoll und begründet) erfahren, während die Deutschen – als am Ende bestrafte Täter – entweder uneinsichtig verstockt oder reuig abschwörend ein durchaus verworfenes Kriegsbild in sich tragen, das eine Relativierung nicht mehr zuläßt. Dieses Kriegsbild aber wird zugleich „verharmlost“ (durch Verdrängung seiner Ursachen), weil anders der Schrecken unerträglich wäre. Daß die Existenzgrundlagen der Menschen in Europa, die Anhäufung des Reichtums hier, zu ihrer Erhaltung des Gewaltpotentials, das heute die Welt verdüstert, bedarf, daß andererseits eine Änderung, die die Notwendigkeit der Gewaltdrohung aufhebt, nicht mehr erkennbar ist, diese widersinnige Konstellation macht ihre Erkenntnis fast unmöglich (da sie mit einer unerträglichen und absolut lähmenden Ohnmachtserfahrung verbunden ist). Es aber ebenso unmöglich, diesen Zustand unbegriffen und verdrängt zu halten, da anders die Gefahr unabwendbar erscheint, daß in den Menschen, in der Gesellschaft ein explosives Potential (aus Verdrängung und Projektion) heranwächst, dessen Folgen Auschwitz und Vietnam zu Generalproben herabsetzen werden.

    „Gott offenbart sich nicht in der Welt“ (Wittgenstein „Tractatus“, zit. nach Jean-Francois Lyotard „Grabmal des Intellektuellen“, S. 71). Heideggers Philosophie ist atheistisch durch den Begriff des „In-der-Welt-Seins“ und seinen Stellenwert in der Fundamentalontologie: Der Begriff der Welt, obgleich er ein Unendliches bezeichnet, ist endlich gegen das, was „außerhalb“ ist, wobei dieses „außerhalb“ durch die logische Struktur des Kontinuums, das der Weltbegriff bezeichnet, vorgegeben ist (durch die bestimmte Form der Beziehung von Allgemeinem und Besonderem, insbesondere durch die Vorherrschaft des Allgemeinen = Vorherrschaft des Vergangenen); in jedem Falle ist aber Gott „außerhalb“ (da in keinem Sinne „vergangen“). Die Idee vom „Tod Gottes“ ist ein paradoxer Versuch der Rettung der Gottesidee.

    Empörung, Verwaltung, Herrendenken, Verblendung und Paranoia.

    Kirche und Entkonfessionalisierung der Religion. Konfession (als „Bekenntnis“ wie als Gemeinschaftsbegriff) ist das Gegenteil, die Negation von Kirche. Entkonfessionalisierung stellt den Objekt- und Wahrheitsbezug der Theologie, der Religion wieder her.

    Das Wissen konstituiert sich im Verhältnis zur Gesellschaft; Erkenntnisse haben immer auch politische/gesellschaftliche Bedeutung. Die Gründung der Universitäten im Mittelalter hatte nicht nur praktische sondern vor allem Legitimationsgründe. Und der Zerfall der Universitäten heute ist eine Folge des gesellschaftlich-politischen Paradigmenwechsels, der Verlagerung der Zentren der Macht.

    Die deutsche Reichstradition hat das Christentum in Deutschland entscheidend geprägt. Während in den übrigen europäischen Ländern (vgl. vor allem England oder Ungarn) das Christentum mit der Institution des Königtums (Erhaltung und Stabilisierung der bürgerlichen Institutionen und Verteidigung der Armen) verknüpft war, hat es diese Tradition in Deutschland nicht gegeben. Die Kaiser- und Reichsideologie hat den Imperialismus ins Christentum eingeführt (Unterschied der David- und Caesar-Tradition).

  • 06.02.89

    Schlüssel zur Fundamentalontologie: Sorge als paranoische Entmündigung ihres Objekts, bewußtloses Herrschaftsinstrument; Erniedrigung mit gutem Gewissen. Der sich Sorgende genießt das moralische Prestige der Angst, die er um den anderen hat. Sorge, Erhebung, Empörung. Die Sorge hat den, um den sie sich sorgt, nur insoweit vor Augen, als sie um den Eindruck, den er auf andere macht, sich sorgt. Schlüssel zur Fundamentalontologie: Das Sein sind „die Anderen“: als paranoide Projektion der Selbstverleugnung, als Inbegriff des nach außen projizierten Aggressors, der man selbst ist, für den die Verantwortung zu übernehmen man sich weigert. Das Sein eröffnet den Weg des pathologisch guten Gewissens.

  • 08.09.88

    Empörung verstellt den Blick, wenn es um den Begriff von Vergangenem geht. Sie ist in der Regel ein Hinweis auf Nachwirkungen dessen, worauf Empörung reagiert, auf Widerstand gegen Einblick in Verdrängtes. Hierbei handelt es sich um Verdrängungen, die weniger in individuellen als vielmehr in kollektiven, historischen traumatischen Prozessen begründet sind. Die Neigung, hier empört zu reagieren, verweist auf den naturgeschichtlichen Prozeß, auf Nebenwirkungen der historischen Auseinandersetzung mit der Natur. Als „veraltet“ wird empfunden, was auf vergangene Phasen der Auseinandersetzung mit der Natur verweist; verdrängt wird, daß diese Phasen zu den Voraussetzungen und Bedingungen auch des gegenwärtigen Daseins noch gehören. Verhaltensweisen, die heute nur noch irrational sind, können durchaus einmal (unter anderen Bedingungen) ein angemessener Ausdruck rationalen Verhaltens gewesen sein. Mehr noch: ob sie wirklich irrational sind, könnte unter Umständen vielleicht erst dann entschieden werden, wenn der Bann, unter dem Natur im Zeitalter der vollendeten Naturbeherrschung steht, einmal gelöst ist. (zu Uta Ranke-Heinemanns „Eunuchen für das Himmelreich“)

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