Empörung

  • 08.09.90

    Leserbrief von Jürgen Schubach in der FR vom 08.09.90: „… und bleibe ich der Meinung, daß sich alle Konflikte durch das Recht lösen lassen.“

    * Der im Titel zitierte Satz verrät eine wahrhaft hybride Rechtsauffassung:

    . ausgeschlossen werden Lösungen, die unter zivilen Verhältnissen die ersten sein sollten, nämlich Lösungen durch Verständigung und Übereinkunft;

    . zugleich wird geleugnet, daß es Konflikte gibt, die sich rechtlich nicht lösen lassen; die Verdrängung dieses Problems führt zwangsläufig zur Gewalt, die er dann prophylaktisch auf jene projiziert, die sich seit je haben fügen müssen (nicht zufällig reizt ihn der Feminismus).

    . so schafft er das Gewaltpotential, dessen Auflösung die Justiz heute vor nicht mehr lösbare Aufgaben stellt: erst wenn diese Gesellschaft bereit ist, ihre (nicht immer justifiziable, in jedem Falle aber moralische) Mitschuld an der Gewalt, die sie dann so rigoros zu bekämpfen sich gezwungen fühlt, anzuerkennen, werden die ersten Schritte zum Rechtsfrieden auch in den Dauerkonflikten getan werden können;

    * Verräterisch das „bis ihm staatlicherseits nachgewiesen wird“:

    . Schuldig macht nicht die Tat, sondern erst der „staatliche Nachweis“; banal gesprochen: das Erwischtwerden (übrigens ein bei Demonstrationen heute auf beiden Seiten, bei der Polizei wie bei den Demonstranten, angewandtes Prinzip, das dann allerdings in der Öffentlichkeit nur auf eine Diskriminierung der letzteren hinausläuft);

    . wer Unrecht erlitten hat, es aber nicht nachweisen kann (wer m.a.W. nicht justifiziables Unrecht erlitten hat), muß halt damit fertig werden, daß nicht nachgewiesenes Unrecht rechtlich keines ist, der eigenen Erfahrung somit keine öffentlich verwertbaren Tatsachen entsprechen, sie also irreal sind (rechtliche wie wissenschaftliche Tatsachen sind an die Bedingung der Nachweisbarkeit gebunden; andernfalls können sie nicht als Tatsachen gelten); er läuft in die double-bind-Falle.

    . so halten Juristen sich für den Staat (diese Identifikation war der Preis für die Entlastung von dem Gewissensdruck, urteilen zu müssen: für das – dann allerdings pathologische – gute Gewissen), und jede Kritik ist „possenhaft, giftig und abwegig“, eigentlich ein staatsfeindlicher Akt.

    . Justiz als Träger/Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols? Hier verwechselt er offensichtlich Rechtsfindung und Exekution des Urteils; nur auf dieses darf sich das staatliche Gewaltmonopol beziehen, während die Rechtsfindung (u.a. die Schuldfeststellung) Sache unabhängiger Gerichte ist, und nicht Sache des Staates. Auch bei der Rechtsfindung ist der Staat (in Gestalt des „Staatsanwalts“, der übrigens in zivilisierteren Staaten öffentlicher Ankläger heißt) nur Partei und nicht feststellende Instanz. Daß es heute – insbesondere im sogenannten Staatsschutzbereich – Fälle gibt, in denen Verdacht besteht, daß politischer Druck und vorauseilender Gehorsam (in Verbindung mit einem weder rechtlich noch moralisch begründbaren Staatsbegriff) die Urteilsfindung mit bestimmen, greift die Idee des Rechtsstaats in der Wurzel an. Manches wäre nicht mehr möglich, wenn die moralische und rechtliche Selbstreinigung der Justiz nach dem Kriege gelungen wäre.

    + Eines der wichtigsten Ämter bei den staatlichen Ermittlungs-und Verfolgungsbehörden ist heute der Pressesprecher;

    + Daß der Ankläger hierzulande „Anwalt des Staates“ ist, ist Teil einer blasphemischen Staatsmystik: Symptom der Staatsvergötzung, die zu den Quellen des deutschen Sündenfalls in diesem Jahrhundert gehörten.

    + Isolationshaft, Einschränkung der Verteidigerrechte, Ausschaltung der Öffentlichkeit

    + Hier verbinden sich sexistische Vorurteile mit einem Rechtsdenken, das in der letzten Konsequenz Unschuldsvermutung und Vorverurteilung fein säuberlich nach Macht-, Geschlechts- oder Gesinnungsgrenzen (und vielleicht auch mal wieder nach Konfessions- oder Rassengrenzen) verteilt.

    + Der Identitätszwang, die fehlende Kraft zur Distanz zur eigenen Tätigkeit, der heute die berufliche Existenz immer mehr durchdringt und beherrscht (und die geistige Existenz, die nur in Distanz zur beruflichen zu begründen ist, nicht mehr kennt, nur noch Freizeit, Hobby und Unterhaltung), zerstört die menschliche Würde in der Wurzel, er ist barbarisch und fürdert die Barbarei in gleichem Maße wie er eingreifende Besinnung verhindert.

    + Das Maß, mit dem Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen allein sich messen läßt, ist sein Umgang mit den Armen und mit den Fremden (das müßte jedenfalls ein Christ von den Propheten gelernt haben).

    – Bezeichnend auch die Argumentationsfigur: Der Hinweis auf andere, die auch Dreck am Stecken haben, soll von den eigenen Schuldgefühlen befreien; noch so festgestellter Unschuld kann er die Schuld auf die Ankläger verschieben (nachdem er seine Kritiker als possenhaft, giftig und abwegig abqualifiziert hat, kann er selbst ungestört possenhaft, giftig und abwegig werden).

    – Das IN DUBIO PRO REO als Scheunentor oder Waschanlage.

    – bleibt im Bann des pathologisch guten Gewissens, das – nach der mißlungenen Aufarbeitung der eigenen Geschichte und unter dem Wiederholungszwang der zweiten Schuld – zur chronischen Berufskrankheit im deutschen Rechtswesen zu werden droht.

    – Beispiel dafür, wie blinde Wut verfolgende Unschuld produziert.

    – „Selbst von Rechtslaien darf erwartet werden, …“: Unerträglich der justizübliche belehrende Ton (Korrelat der eigenen Kritik-Empfindlichkeit und Zeichen der immer wieder wahrzunehmenden fehlenden Souveränität)

    – J.S. scheint jede Urteilskritik als Angriff zu empfinden -offensichtlich an der schwächsten Stelle getroffen reagiert er mit wütenden Projektionen;

    – Man muß nur seinen Gegner in die Ecke treiben; dann wird er schon so reagieren, daß man ihn als Schuldigen präsentieren und sich selbst mittels der dann üblichen Empörung freisprechen kann; ein alter Herrentrick.

    – Ich hoffe nur, daß J.Sch. kein Richter ist.

    Wie es scheint, ist die Kritik überfällig, jedenfalls sollte sie erfolgen, bevor der Bekenntnisstrick uns die Luft endgültig abschnürt. Bei uns ist immer noch (frei nach Carl Schmitt) nur der Staat souverän, nicht der Richter.

  • 06.09.90

    Das Volk ist der Inbegriff der kollektiven Selbstverachtung (ein reiner Objekt-, kein Subjektbegriff; ohne die Kraft der Selbstbezeichnung): Urteile werden nicht selten deshalb „im Namen des Volkes“ gesprochen, weil damit die Verantwortung für das Urteil zum Verschwinden gebracht wird (Verantwortungslosigkeit als conditio sine qua non des Richtens).

    Das Volk ist eine Schicksalsgemeinschaft, deren Exponent ist der Held. Das Volk ist eine Masse von Helden.

    Das Volk ist die konkrete Erscheinungsform der Masse, da es das im Begriff der Masse enthaltene und zugleich verdrängte Konstitutionselement mit benennt: das Moment der Erhebung (Empörung) über die Masse, durch das sie zur Masse erst wird; das Volk ist Masse mit dem Bewußtsein der „Eigentlichkeit“, ohne das es Masse nicht gibt (die Eigentlichkeit ist eine Kategorie des verdinglichten Daseins, und die Philosophie der Eigentlichkeit ist aus inneren Gründen „völkisch“).

    Die Unterscheidung von laos und ethne, populus und gens gibt es im Deutschen nicht: Im Deutschen ist das Volk ein reiner Allgemeinbegriff, der eine davon unterschiedene Selbstbenennung nicht kennt, der sich selbst gleichsam immer schon von außen, als fremdes Volk begreift; deshalb ist im Deutschen die Wendung „Wir Deutschen“ nicht unüblich.

  • 01.09.90

    Einbruch der Welt in den zentralen Bereich der Theologie: Das säkularisierte Bekenntnis fordert nur, wer selbst verdrängen muß; und das geforderte Bekenntnis soll gerade (durch Projektion) mithelfen, die Verdrängung zu stabilisieren. Der empörten Selbsterhöhung des Fordernden entspricht die Unterwerfungsforderung, die an den Adressaten des Bekenntniszwangs ergeht. Deshalb die Wut, die eine Weigerung, dem geforderten Bekenntnis zuzustimmen, regelmäßig auslöst. Die Psychodynamik des säkularisierten Bekenntnisses (des Bekenntniszwangs) weist auf dessen Ursprung zurück: die Etablierung des Staats, die Anerkennung des (göttlichen) Herrschers, im Subjekt die Organisation des (männlichen) Ödipuskomplexes, die Verinnerlichung des Zwangs und des Opfers, mit einem Wort: den römischen Kaiserkult. Etwas von der Drohung, die Verweigerung eines geforderten Bekenntnisses werde als Majestätsbeleidigung geahndet, steckt in jedem Bekenntniszwang.

    Titelvorschlag: (Theologie und) Herrendenken.

    Projektion

    oder

    Modell unserer Beziehung zur dritten Welt?

    „Ja wol, sie halten uns Christen in unserem eigenen Land gefangen, Sie lassen uns erbeiten im nasen schweis, gelt und gut gewinnen, Sitzen sie die weil hinter dem Ofen, faulentzen, pompen und braten birn, fressen, sauffen, leben sanfft und wol von unserem ererbeiteten gut, Haben uns und unser güter gefangen durch jren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, das wir erbeiten und sie faule juncker lassen sein, von dem unsern und in dem unserm, Sind also unsere HErrn, wir jre Knechte mit unserm eigen gut, schweis und erbeit, fluchen danach unserm HErrn uns zu lohn und zu danck. Solt der Teufel hie nicht lachen und tantzen …“ Luther: Von den Juden und ihren Lügen. Zit. nach R. Hilberg, S. 23.

    Modell der Terrorismus-Gesetzgebung:

    „Wenn ein Jude einen Christen angreift oder tötet, steht ihm keine Gegenrede zu, sondern er muß stillschweigend Recht über sich ergehen lassen, da er als Verfolger Gottes und Mörder am Christentum keinen Anspruch auf christliches Entgegenkommen hat.“ Salzwedeler Stadtrecht im 15. Jhdt., zit. ebd.

  • 31.08.90

    Das transzendentale (idealistische) Subjekt ist

    – die Einheit von Herr und Knecht (die gerichtete richtende Instanz, „Teufel und arme Seele zugleich“),

    – Produkt und Substrat der Empörung (im theologischen Sinne),

    – Grund der Dialektik in Philosophie und Geschichte,

    – der blinde Fleck der Theologie (der etablierte Atheismus),

    – die Sünde wider den Heiligen Geist, die weder in dieser noch in der zukünftigen Welt vergeben wird,

    – Schlüssel des Totenreichs („Vorlaufen in den Tod“ als Entschlossenheit und Grund der Eigentlichkeit – Heideggers Fundamentalontologie als Versuch, die ausweglose Erfahrung der verdinglichten Welt von innen zu beschreiben),

    – Subjekt der „Sorge“ (Sorge als vom Herrendenken nicht abzulösende Quelle des Selbstmitleids; ursprüngliche Akkumulation des Herrendenkens und des Objektivationsprozesses gründet im Selbstmitleid: no pity for the poor).

    Die Physik macht aus einem Akzidenz eine Substanz: Sie unterwirft die Dinge der Herrschaft der Zeit (der Vergangenheit).

    Alle denunziatorischen Begriffe in „Sein und Zeit“ sind projektiver Natur: sie treffen die eigene Intention und den Inhalt des Werkes.

  • 26.08.90

    Der merkwürdige Haß auf das Alte Testament (seinen „orientalischen“ Charakter und Ursprung, ähnlich dem „asiatischen“ Ursprung, auf den im Historikerstreit – in einer zweiten projektiven Verschiebung – noch Herr Nolte die faschistischen Untaten zurückführte) rührt her vom Neid der Volkstümler auf das zugleich bewußt und gezielt mißverstandene „auserwählte Volk“; übriggeblieben ist der Haß auf das Alte Testament, aus dem man nur noch die eigenen verdrängten Untaten herausliest. – Erstes Modell dieses Konstrukts war das antijudaistische Selbstverständnis des frühen Christentums als „neues Israel“.

    Hieraus läßt sich das Kohlsche Erfolgsrezept herleiten, der immer, wenn er eine Niedertracht verkündet, zur Rechtfertigung (Herstellung des guten Gewissens) gleich den Sündenbock mitliefert, auf den das moralische Urteil projektiv abgeleitet wird. (Die Unmoral der anderen zugleich anprangern und als Rechtfertigung der eigenen Unmoral nutzen. Selbstmitleid als Umkehr der Empathie (und als Grund des moralischen Rigorismus). Trick der Empörung. Zu ändern nur durch „Umkehr“ im wörtlichen Sinne.)

  • 24.08.90

    Zusammenhang zwischen dem unsteten (wurzellosen) Leben Kains, dem „wurzellossen Dornstrauch“ (der zum König der Bäume gewählt wird) in der Jotam-Fabel und der nt Dornenkrone (Ebach, UuZ, S. 59, Anm. 193)?

    „Wo aber das Produkt sich gegenüber dem Produzenten verselbständigt, wo es ihn beherrscht, da wird nach alttestamentlicher Auffassung Arbeit nichtig, da machen Menschen Götzen.“ (ebd., S.99) Nur muß dazu darauf hingewiesen werden, daß Arbeit nicht nur das einzelne Produkt, sondern hinterm Rücken der Arbeitenden auch die zugehörigen gesellschaftlichen Institutionen: den Staat, das Recht, das Geld, die Polarisierung von Armut und Reichtum (die Gewalt der Vergangenheit) produziert. Die Absicherung dieser Instutionen war Aufgabe der Götzen (die an den Opfern der Menschen sich erfreuten), unterm Vorzeichen des Christentums das Bekenntnis (das Malzeichen des Tieres).

    Aufklärung als Kolonialisierung der Natur und der Vergangenheit. Wenn die Distanz zum Objekt durch Herrschaft vermittelt ist (die Distanz ist, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt), dann müßte das auch für die historische Erkenntnis gelten (für die Konstituierung der Geschichte als Herrschafts-, Erfolgs-, Siegesgeschichte). Hier ist der Zusammenhang zwischen der Vorstellung, daß auch die Toten (die Besiegten) einen Anspruch an uns haben, und der Kritik der Naturwissenschaften (als Kritik der Todesgrenze) negativ begründet. Die Gnade der späten Geburt ist die „Gnade“ der Erhebung über die Vergangenheit, der Verführung zur unkenntlich gemachten „Empörung“.

  • 17.07.90

    Ebenso wie das durch die Ohrenbeichte definierte Schuldbekenntnis ist auch das Glaubensbekenntnis geschichtlich nicht mehr möglich.

    Verzweigungen:

    – Bekenntnis setzt Selbstmitleid voraus, ist Ausdruck des Geliebt-werden-Wollens (Verdrängung des Bewußtseins, schuldig zu sein; Ursprung des pathologisch guten Gewissens);

    – Bekenntnis und Wissenschaft (der Professor als Bekenner): Ontologie als kleinster gemeinsamer Bekenntnisnenner (Bekenntnis als uneigentliche Eigentlichkeit – oder eigentliche Uneigentlichkeit);

    – Bekenntnis als Leidensvermeidung (Verdrängung), Vermeidung der Nachfolge (Selbstdementi des Christentums), als Komfort des Bewußtseins, der Innerlichkeit (Religion als Innerlichkeits-Schmuck): als Sünde wider den Heiligen Geist;

    – Bekenntnis als Wut: antisemitisch (fremden- und frauenfeindlich); abzusichern nur durch Empörung, die Quelle und Prototyp des Bekenntnisses ist (Empörung Ursprung des Bekenntnissyndroms); Bekenntnis/Empörung/Herrendenken/Geschwätz;

    – Bekenntnis = Erbe von Totem und Tabu; magisches Relikt (Vorstellung einer individuellen oder kollektiven religiösen Wirkung des Bekenntnisses magisch; begleitende Gottesvorstellung blasphemisch).

    – Begründung der Naturphilosophie durch Selbstreflektion des Bekenntnisses?

  • 23.05.90

    In jeder Feindschaft steckt ein Stück Projektion. Diesen Sachverhalt als Interpretationsmuster verwenden bei der Analyse von Antisemitismus, Ketzer- und Hexenverfolgung. Was mich zur Empörung reizt, bin ich selber. So hat z.B. die Gesellschaft in den Hexen sich selbst erkannt: das Totenreich, das sie selbst zu errichten auf dem Sprunge war. Und das Erschrecken war ein Erschrecken über sich selbst. Als die Welt verhext wurde, wurden die Hexen verfolgt. Das Rätsel Swedenborg lösen hilft sicher mit, das Rätsel des Hexensabbat zu lösen.

    Ableitung der Gottesidee aus dem theologischen Erkenntnisbegriff? Wenn das Ich, das seinen Ursprung im Nein hat, der Inbegriff der Negativität ist, der Motor des Abstraktionsprozesses, und nur in diesem Zusammenhang als der Begleiter aller meiner Vorstellungen nach Kant zu begreifen ist, dann hinterläßt dieser Erkenntnisbegriff eine Lücke, die nicht zu schließen ist, die vielmehr als Lücke, als Wunde offengehalten werden muß. Die Ohnmacht des Ich, seine Hilfsbedürftigkeit, ist der Grund seines Geliebtwerden-Wollens (Freud/Drewermann). Sie reicht nicht aus zur Begründung der Gottesidee. Die Konstruktion des Ich gründet im historischen Prozeß, in der Geschichte der Welt, in der Geschichte der transzendentalen Logik, des Begriffsapparats, der die Erscheinungen so gliedert, daß sie dem Ich angemessen, kompatibel sind. Das Ich unterliegt zugleich selber der Logik, die es konstituiert (und wird sich selbst so zum blinden Fleck).

    Das Bewußtsein als offene Wunde ist konstruierbar nur vor dem Hintergrund der Idee des seligen Lebens. Vorausgegangen muß eine Idee, eine Erfahrung der Seligkeit und ein Seligkeitsversprechen sein. Der Anfang der aristotelischen Metaphysik: Alle Menschen streben nach dem Glück, ist durch ihr Ende, ihr Resultat (die Theoria, den transzendentalen Apparat in nuce) nicht abgegolten.

    Alle Wissenschaft ist Naturwissenschaft.

    Beschreibt die Elektrodynamik die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit? Beschreibt sie genauer den Vergängnisprozeß? Und sind die Quantenphysik und die Atomphysik gegenständliche Abbildungen der Logik des Zerfalls?

    Ziel ist nicht eine Ökumene, die vielleicht auf irgendeinem Kompromißwege tatsächlich zu erreichen wäre, sondern ein entkonfessionalisiertes Christentum, eine entkonfessionalisierte Kirche. Das läßt allerdings die Lehrtradition, an der alle Konfessionen wie unter einem Erkenntniszwang teilhaben, nicht unberührt.

    Gehört zu den Emblemen der Melancholia auch die Dornenkrone (nur bei Lochner?), haben die Theoretiker der Melancholie etwas gewußt? Woher kommt es, daß die Melancholie bevorzugt als Frau dargestellt wird – und dann u.a. auch als Frau mit Dornenkrone?

    Differenz zwischen Dürer und Lochner: Lochners Melancholie fällt bereits unters Vorurteil.

    Luthers Antisemitismus ist eine notwendige Folge des Friedens, den er mit der Welt geschlossen hat, ebenso wie sein Trübsinn. Der theologische Grund davon ist seine Rechtfertigungslehre. Nur die Lutherische Wendung hat dann Erfahrungen ermöglicht, hat Energien freigesetzt, die auf andere Weise nicht hätten freigesetzt werden können: insbesondere der wissenschaftliche Eros, der dann die Theologie ergriffen (und auf den Kopf gestellt) hat, war nur unter den Prämissen des Protestantismus möglich.

    „Experimentaltheologie – Elemente einer theologischen Erkenntnistheorie“

    Das Gleichnis vom ungerechten Verwalter auf die Rücknahme der Schuld, die wir selber in die Realität hineinprojiziert haben, beziehen! Die einzig sinnvolle Interpretation des Gleichnisses?

    Wer es nicht mehr nötig hat, seine Ohnmachtsgefühle zu kultivieren, der bedarf auch der Selbstbestätigung durch Empörung nicht mehr.

    Die Trinitätslehre beruht auf Voraussetzungen, die heute (nach Auschwitz) nicht mehr ungebrochen übernommen werden können. Diese Voraussetzungen sind ein Teil der Verflechtung des Christentums, seiner Konfessionen, in die Welt- und Herrschaftsgeschichte. Die drei göttlichen „Personen“ sind es nicht an sich, sondern für uns. Die Aufspaltung ist begründet in den Erfahrungsbedingungen der endlichen, geschichtlichen, menschlichen Welt (kann ausgeschlossen werden, daß die trinitarische Konstruktion sich am Ende in die Wahrheit der Einheit Gottes auflöst?). Wahr ist, daß die Trinitätslehre die Einheit Gottes unangetastet läßt. Die Begriffe „Hypostase“, „persona“ sind genauer zu untersuchen (auf ihren Ursprung und Kontext). Was bedeutet es, wenn Jesus Sohn Gottes genannt wird, erzeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater? Was bedeutet es, wenn der Geist ex patre filioque procedit? Hat sich das Dogma in seiner lateinischen Rezeption gegenüber der vorhergehenden griechischen Fassung verändert? Und was bedeutet es, wenn z.B. bei Alexander von Hales die Begriffe, in denen das Dogma gefaßt ist, zu Namen Gottes werden, in vollständiger Differenz zu der Namen-Gottes-Lehre der jüdischen Tradition (und zur dritten Vater-Unser-Bitte)? Ist die Heiligung des Substanz- oder Person-Begriffs auch nur im Ansatz denkbar (ist diese Heiligung – und mit ihr die gemeinsame Genesis der Ontologie und des pathologisch guten Gewissens – aber nicht umgekehrt die notwendige Folge des Dogmas; sind nicht beide notwendige Folgen der Instrumentalisierung der Lehre, ihrer Umwandlung in ein Herrschaftsinstrument)? Anstatt die geologischen Strukturen des von den Christen dann so genannten „Alten Testamentes“ zu untersuchen, wurde das Alte Testament seit je nur als Steinbruch benutzt, als Material für apologetische oder erbauliche Traktate.

    Wird das Verständnis der Trinitätslehre nicht bestätigt durch den Paulinischen Satz, wonach am Ende „Gott alles in allem“ sein wird (vgl. hierzu den Hinweis und die Kritik Franz Rosenzweigs).

    Hat die Geschichte mit der Sonne bei Gideon (Josua) nicht doch mehr mit der Geschichte des Patriarchats als mit der der Naturwissenschaften zu tun?

    Hegels Urteil über die Natur als Äußerlichkeit der Idee, die den Begriff nicht halten kann, verweist darauf, daß die Natur als vollständig verurteilte und gerichtete nicht nur das ist (dann müßte sie dem Begriff entsprechen), sondern etwas darüber hinaus; daß sie im Begriff nicht restlos aufgeht.

    Das christliche Dogma und die Dialektik der Aufklärung oder Präliminarien einer theologischen Erkenntnistheorie.

    Wenn heute die Religion selber blasphemische Züge annimmt, wenn sie insbesondere gefährdet ist durch den fundamentalistischen Terrorismus, so hängt das mit der unaufgeklärten eigenen Geschichte zusammen.

    Liefert der Vergleich von „Totem und Tabu“ mit dem „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ – beide sind sich im Aufbau sehr ähnlich – einen Hinweis, unter welchen Prämissen die christliche Theologie aufzuarbeiten wäre? (Ist der Ursprung des deutschen Trauerspiels eine Interlinearversion von Totem und Tabu, ist er aus der gleichen Konstellation der Ideen – mit dem Königtum (Christentum?) im Zentrum – erwachsen? Etwas Vergleichbares scheint Walter Benjamin gemeint zu haben in seinem „Programm einer neuen Philosophie“ im Hinblick auf die Verwendung der Kantischen Kritik)

    Die Hoffnung von Karl Thieme in seinem „Am Ende der Zeiten“, daß das Christentum jetzt endlich ins Mannesalter eintritt, scheint sich bisher noch nicht erfüllt zu haben.

    Wenn es stimmt, daß die Geschichte der Aufklärung von den Mythen über die Religion bis hin zu den Naturwissenschaften ein Teil der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur ist, und selbst insoweit in den historischen Naturprozeß mit hereinfällt, ist die Naturphilosophie ein Haupterfordernis einer Philosophie, die den Anschluß an die Theologie wiedergewinnen will. Die Frage hierbei ist, ob der Begriff der Natur selbst nicht ein Teil dieser Geschichte der Auseinandersetzung mit der Natur ist, in diesem Prozeß sich konstituiert und von ihm nicht sich ablösen läßt; und ob eine Naturphilosophie nicht mehr sein müßte als eine Philosophie der Natur. Sind nicht die Begriff Natur und Welt eigentlich identisch, und bezeichnen sie nicht zwei Aspekte der gleichen Sache (abhängig davon, ob sie auf das Subjekt als Subjekt oder als Objekt sich beziehen)? Und müßte nicht eine Naturphilosophie heute Kritik des Naturbegriffs mit einschließen?

    Hat das mittelalterliche Bild von Himmel, Fegefeuer und Hölle, dieses dreistufige Bild des Universums, das später reduziert wurde auf den einfachen Gegensatz von Himmel und Hölle, etwas mit der Hypostasierung der zeitlichen „Ekstasen“ zu tun: der Himmel als die absolute Zukunft (futurum perfectum), die Hölle, das Totenreich, als absolute Vergangenheit (plusquamperfectum), und das Fegefeuer das Zwischenreich, vielleicht so etwas ähnliches wie die Welt? Steckt nicht doch ein ernsthafter naturphilosophischer Gedanke dahinter, wenn dem Himmel das Licht assoziiert wurde und der Hölle das Feuer? – Aber die eigentlich theologischen Assoziationen knüpfen an an den akustischen Bereich: den Hauch, den Atem, den Geist, der weht wo er will, das Wort.

    Hat der „große Fisch“ im Jona-Buch etwas mit dem Tier aus dem Meer in der Geh. Offb. zu tun, und die Flucht des Jona etwas mit dem Exil des jüdischen Volkes (dem direkten, politischen, wie dem indirekten, religiösen: ins Christentum; ist das Tier aus dem Meer die Kirche)?

  • 21.05.90

    Zu Hitler als Generalprobe des Antichrist vgl. Karl Thieme: „Biblische Religion Heute“; sh. ebd. und in „Kirche und Synagoge“ die Hinweise zu Amalek.

    Hirtenbrief der Bischofskonferenzen zum Verhältnis von Christen und Juden (20.10.88):

    – apologetisch

    – Unterscheidung von kirchlichem Antijudaismus und modernem Antisemitismus (Verdrängung der Ursprungsgeschichte; Rassismus nicht einziger Grund des Antisemitismus)

    – Schuld und Projektion (Hinweis auf Abtreibungsproblem: ohne Empathie; bloße Empörung/Verurteilung = Schuldlosigkeit des Urteilenden; schuldig ist der andere; Vorteil der privaten, individuellen Schuldzuweisung, während Antisemitismus und Judenmord kollektive und öffentliche Ursachen hat)

    – Verschweigen der durch die politische Ökonomie verursachten Hunger-Massentode in der Dritten Welt (hier müßten andere angeprangert werden, Mächtige)

    – Abwehr der Instrumentalisierung des Schuldvorwurfs, aber nur, soweit er sich gegen die Kirche richten könnte! – Ist der mit der Abtreibungsfrage verbundene Schuldvorwurf nicht auch instrumental?

    – Unfähigkeit, das, was eigene Gedankenlosigkeit und eigenes Vorurteil anrichten, überhaupt noch wahrzunehmen; Unfähigkeit zu begreifen, welches Gesicht die Kirche selber zeigt; Pflege des pathologisch guten Gewissens

    – Faschismus eine christliche Häresie?

    – Frauenfeindschaft = Ursprung und Paradigma der Sünde wider den Heiligen Geist?

    – Unfähigkeit zur Umkehr; zu parakletischem, verteidigendem Denken

    – Entkonfessionalisierung des Christentums = Abkehr vom Herrendenken = einzige Möglichkeit der Ökumene und der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit

    – Völlig unterschlagen wird das Versöhnungskonzept, das die Schrift selbst vorgibt (Unversöhntes: Knast, Isolationshaft, des Elend in der Dritten Welt, Nichtseßhafte, Sexismus, „no pity for the poor“, Herrschaft und Gericht/Problem des Rechtsstaats, Verwechslung von Recht und Moral, Recht und Gerechtigkeit); Versöhnung = Voraussetzung des Opfers (nicht Folge!)

  • 14.05.90

    Dogma und Welt: Das Dogma ist ein wesentliches Moment in der Geschichte der Verweltlichung der Religion, der Verweltlichung des Christentums. Der Zusammenhang mit der Herrschaftsgeschichte spielt hier mit herein. Wenn die Umkehr eine erkenntnistheoretische Kategorie ist, dann ist sie auch aufs Dogma anzuwenden; nur so kann man es vermeiden, daß Theologie zur bloßen Ausschmückung des Dogmas wird, anstatt endlich deren Wahrheit zu realisieren, die nur durch die Umkehr zu realisieren ist. Alle Versuche der Modernisierung, der bloßen Anpassung des Dogmas an veränderte Welt- und Erkenntnisbedingungen verfehlen das Ziel theologischer Erkenntnis; verschoben wird die Relation von Maß und Gemessenem. Nicht die moderne Welt ist Maßstab für das, was am Dogma noch wahr ist, sondern das Dogma ist Maß dessen, was an der modernen Welt falsch ist. So sagen es zwar alle kirchlichen Lehrämter auch, und die Gefahr, mißverstanden zu werden, ist sicherlich groß. Aber wer der Gefahr des Mißverständnisses entgehen will, verstellt sich selbst den Zugang zur Wahrheit.

    Zu Drewermann: Seine Adaptation der Psychoanalyse leidet daran, daß es ihm nicht gelingt, den Bann des Psychologismus zu sprengen. Bezeichnend seine Rezeption des Begriffs des Unbewußten, der der Innerlichkeit des Subjekts verhaftet bleibt. Eine objektive Anwendung der Psychoanalyse ist wahrscheinlich erst möglich, wenn es gelingt, den Begriff des Unbewußten statt bloß formal, nämlich gegen das Bewußtsein, in Abgrenzung vom Bewußtsein zu definieren, ins Objektive zu wenden und inhaltlich zu bestimmen, d.h. darauf abzustellen, was in der Objektivität das Bewußtsein nicht mehr erreicht, welche Bereiche der Objektivität vom Bewußtsein ausgeblendet werden, und die besondere Rolle, die der moderne Säkularisationsprozeß darin spielt. Verdrängungsprozesse wären heute nicht mehr in erster Linie in der Privatsphäre, im Bereich der Sexualität, zu studieren, sondern in der Öffentlichkeit, in einem Bereich, der durch Diskriminierung, Ausgrenzung, neue Formen der politischen Gewalt von der Atombombe bis hin zu Polizeigewalt, die qualitativ neue Formen angenommen hat; hier geht es in erster Linie um Verdrängungsprozesse und eines der wesentlichen Instrumente ist hier die Produktion des pathologisch guten Gewissens. Hier haben die Studies in Prejudice, die Untersuchungen über das Vorurteil ganz erhebliche Vorarbeit bereits geleistet.

    Der Hinweis Jesu, daß man das Opfer nicht feiern soll, bevor sich nicht mit seinem Bruder versöhnt hat, ist heute das schlagendste Argument gegen die weitere Teilnahme an der Feier der Opfers. Würden die Christen dieses Wort ernst nehmen, die Kirchen wären leer. Die Sache ist nicht harmlos. Der historische Prozeß, in den auch die Geschichte der Sakramente verflochten ist, hat uns deren Gebrauch entfremdet, er hat uns mehr noch die Sakramente entwendet, und zwar entwendet in einem sehr wörtlichen Sinne: Ihr Inhalt ist so verkehrt worden, daß sie uns gleichsam nur noch die Rückseite zukehren, für uns unkenntlich geworden sind. Übrig geblieben ist eine barbarische Ästhetik.

    Zweifellos krankt Drewermanns Buch über die Kleriker daran, daß auch er hier das Problem von der falschen Seite anfaßt. Es ist keine Frage der Psychologie, die an die Lösung des Rätsels führt, sondern es ist eine Frage des historischen Prozesses. Und berührt wird nicht die Frage des Klerikertums, sondern betroffen ist die Frage des Priestertums im Kern. Und genau das hätte das eigentlich Objekt von Drewermann sein müssen, das er aber nicht wahrgenommen hat. Und genau das ist es, woran die Priester für alle sichtbar so intensiv leiden, nur sie selber merken es nicht mehr.

    Habe ich bei dem Hinweis auf Esther und Judith die Ruth vergessen? Es erscheint mir bemerkenswert, daß diese drei Frauengestalten im „Alten Testament“ die Beziehung der Juden, des jüdischen Volkes zur Außenwelt widerspiegeln, von den Heiden über die Machthaber bis hin zu den Tyrannen. Zu überprüfen wäre, wie sich Hiob, der Leidende, die Propheten zu dieser Außenwelt verhalten, wie verhält sich die Apokalypse hierzu. Propheten und Apokalyptiker scheinen doch zu sehr in die Innerlichkeit des erwählten Volkes versponnen zu sein, bis zum Exzeß versponnen, und die Außenwelt nur noch wahrzunehmen als Gegenstand der Verurteilung, des Banns. Und wohin gehört in diesem Zusammenhang das Hohe Lied der Liebe?

    Fällt in der säkularisierten Welt die Theologie insgesamt unter das Bilderverbot?

    Das Wesentliche an dem „Hexensabbat“ von Carlo Ginzburg scheint mir zu sein, daß es einen Blick auf eines der wichtigsten Motive der Hexenverfolgung wirft, nämlich auf die Verdrängung der Erinnerung an die Toten. Diese zugleich verdrängte Beziehung zu den Totenheeren scheint mir der Schlüssel zu sein. Verdrängt wurde hier mit der bedrängenden und möglicherweise falschen Erinnerung an die Toten der Grund für die Lehre von der Auferstehung.

    Was das Christentum nie geschafft hat, war der gelassene Umgang mit den Häresien. Grund dafür war die Komplizenschaft mit der Herrschaft. Erst das Staatschristentum kennt den Häretiker (wie zuvor der heidnische Staat das Christentum) als den zu eliminierenden Feind. Das Christentum ist in der Geschichte seiner Komplizenschaft mit der Herrschaft bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden, aber es ist darin nicht aufgegangen; ein Rest ist geblieben, der möglicherweise heute fähig wäre, seine rettende Kraft zu entfalten. Erst wenn das Bewußtsein seine Härte ablegt, sich selbst als offene Wunde begreift, erst dann ist Theologie wider möglich. Hier ist das Leiden und der Schmerz nichts, worauf einer sich berufen kann, woraus er Ansprüche herleiten könnte; sie bleiben Leiden und Schmerz. Sie finden keinen Trost. Wer aber in diesem Leiden, in diesem Schmerz sich selbst und seinen Gott zu finden und zu bewahren sucht, der … Selbstmitleid, das Verlangen, geliebt zu werden, ist der Tod der Theologie.

    Franz Rosenzweig hat den Streit zwischen Realismus und Nominalismus nicht geschlichtet, sondern auf eine Ebene gehoben, auf der er dann aufgehoben wird. Zentraler Punkt ist seine Lehre vom Namen. Der Name ist nicht Schall und Rauch. Der Name ist das Zentrum seiner Philosophie, deren Intention es ist, die Dinge beim Namen zu nennen oder auch – das ist die andere Seite der Sache – sie zum Sprechen zu bringen. Der kirchliche Zug, den Gershom Scholem an F.R. bemerkt hat, hängt offensichtlich zusammen damit, daß bei ihm keine Apokalypse gibt. Die Apokalypse war zu nah, zu brennend, zu direkt, als daß er sie hätte mit aufnehmen können. Auschwitz kam nach Rosenzweig.

    Wenn die Theologie nur dazu dient, die Vorstellung, durch Handeln ließe sich etwas ändern, zunächst einmal beiseite zu stellen, und die ganze Schwere und die den Umfang der Negativität ins Auge zu fassen, jede Illusion darüber beiseite zu lassen, und damit die Gefahr zu meiden, Räuber- und Gendarm-Spiel mit Revolution zu verwechseln, dann hat sie schon einiges erreicht. Aber der Schock der Radikalität ist nicht zu vermeiden. Vor allem dann nicht, wenn man kein Zyniker werden möchte.

    Die Hexen haben in der Auseinandersetzung mit der Natur auf der falschen Seite gestanden.

    Ein Schmerz, der nicht beleidigt, ein Schmerz, der keine Empörung wachruft, sondern nur Trauer. Es gibt keine Empörung mehr ohne Projektion. Zumindest auf der Seite der Täter. Wir haben kein Recht mehr beleidigt zu sein. Mehr noch, das Beleidigtsein ist Teil des pathologisch guten Gewissens.

  • 18.01.90

    Langeweile, Unzufriedenheit und Empörung sind ausgesprochen moderne (atheistische) Verhaltensweisen, die ihren strukturellen Grund in der gesellschaftlichen Form der modernen Subjektivität haben (sie sind zugleich Indikatoren des pathologisch guten Gewissens: das wirklich gute Gewissen – das es nicht gibt – hätte kein Langeweile, wäre nicht unzufrieden, bedürfte nicht der Empörung). Zu ihren Konstituentien gehören insbesondere die Bedingungen der Verweltlichung, die säkularisierten Formen der Intersubjektivität (der „Apparat“ des transzendentalen Apriori, in dem das Subjekt gefangen ist – Zusammenhang mit dem modernen Naturbegriff). „Gottesfinsternis“ war einmal der falsche Begriff (Martin Bubers) für einen richtigen, heute erst sich ausbreitenden, nicht ganz harmlosen Sachverhalt. Das Bedürfnis nach Unterhaltung (Ablenkung); die Unfähigkeit, mit sich allein zu sein; das Verlangen nach Trost (oder die Verkehrung des Heiligen Geistes; der Heilige Geist als Alleinunterhalter). Spenglers Hinweis, daß zum Ursprung des „faustischen Menschen“ die Institution der Beichte (die Biographie, das Portrait) gehört, ist insoweit wahr, als moderne Subjektivität (als ihre berühmte „Mitte“) einen unauflösbaren Schuldkern hat (einen blinden Fleck, eigentlich ein schwarzes Loch: es saugt alles Licht in sich auf, strahlt aber nicht mehr nach außen); die Flucht vor der Wahrnehmung dieser Schuld bezeichnet die Bahn des Fortschritts der Aufklärung, die immer tiefer in die Verstrickung hineinführt.

    Spengler: „Das mütterliche Weib ist die Zeit, ist das Schicksal.“ „Die Sorge ist das Urgefühl der Zukunft, und alle Sorge ist mütterlich. Sie spricht sich in den Bildungen und Ideen von Familie und Staat aus und in dem Prinzip der Erblichkeit, das beiden zugrunde liegt.“ (UdA, S. 341f)

  • 15.01.90

    Die Subjekte als Verblendungszentren: Jeder hat seine Privat-Empörungsmechanismen, auf denen sein Selbstbewußtsein aufruht (und mit denen es seine Verdrängungen unter Kontrolle hält): Urteile über andere sind nicht selten Projektionen zur Selbstentlastung („Der Ankläger hat immer Unrecht“), Es-Strategien, um peinliche, der Verdrängung unterliegende Fakten der Wahrnehmung und der Diskussion zu entziehen. Der Schuldzusammenhang ist eigentlich ein Schuldverschubsystem; darin gründet der Verblendungszusammenhang.

    Ästhetisierung: Das Fernsehen übt in die Rolle des Zuschauers ein. Der Preis dafür, daß der Zuschauer dem Schuldzusammenhang der vor ihm ablaufenden Handlung enthoben ist, nicht real teilhat an dem Geschehen, außer als Voyeur (gleichsam in einer universalen kleinbürgerlichen Nachbarschaftsbeziehung), ist seine Ohnmacht: Er kann in die Handlung nicht eingreifen, er kann nichts ändern. Als Voyeur weiß er alles, mehr noch: er weiß alles besser. Es ist die gleiche (quis ut deus- oder Teufel-/arme Seele-)Rolle, die der Forscher bei einem Experiment einnimmt, die ebenfalls darauf hinausläuft, daß alle Schuld in die Materie projiziert wird, darin sich vergegenständlicht, den zuschauenden Forscher dagegen freispricht: Einübung in und Stabilisierung, Habitualisierung von „Empörung“, die den Schuldzusammenhang konstituiert und in ihn hineinführt (Theorie der Empörung als Teil der Erkenntnistheorie und Teil einer Theorie der Materie; Zusammenhang mit allem, was der Fall ist; Genese des „pathologisch guten Gewissens“?).

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