Faschismus

  • 24.11.95

    Merkwürdig, daß eine seriöse (und eingreifende) Kritik der Derridaschen Erörterungen über Benjamins Kritik der Gewalt bis heute fehlt: Benjamins These von der mythischen Gewalt des Rechts ist bis heute nicht rezipiert worden; wer könnte sie da verteidigen? Dabei wäre die Kritik sehr leicht zu führen, wenn man auf den Derridaschen Gang der Argumentation, die durchaus erhellend ist, sich einlassen würde. Hinzuweisen ist insbesondere auf den Stellenwert des Generalstreiks. Bei Benjamin war der Staat im proletarischen Streit bereit, die Gewalt auf beiden Seiten, bei den Arbeitern wie bei den „Arbeitgebern“, wahrzunehmen und zu konzedieren. Wenn heute der Streik im Tarifkonflikt zunehmend rechtlichen Restriktionen ausgesetzt wird, so ist das ein Hinweis auf die zunehmende Verlagerung der Gewalt vom Staat in die Ökonomie. Indiz für diese Verlagerung war seit je das Institut der Polizei. Heute erkennt der Staat in dem Machtpotential der Ökonomie den Grund seiner eigenen Macht; heute gerät auch der Streik im Tarifkonflikt schon in der Nähe des Angriffs auf das Gewaltmonopol des Staates. Der Generalstreik dagegen scheint (nach seiner letzten Anwendung im Kapp-Putsch) mit dem Faschismus seine raison d’etre verloren zu haben. Zur Machtergreifung der Nazis hat es nicht einmal den Versuch seiner Anwendung gegeben. Kommunisten, Gewerkschafter und Sozialdemokraten sind, soweit sie nicht auf der Flucht vor dem faschistischen Terror ins Exil gegangen sind, ohne nennenswerte Resonanz in der Bevölkerung in die KZs verbracht worden, die Vorläufer der Exekutionsstätten der „Endlösung“, die Derrida schließlich mit ihrem absoluten Widerpart, mit dem, was Benjamin die „göttliche Gewalt“ genannt hat, verwechseln konnte, ohne daß auch nur einer das Skandalöse dieser Verwechslung bemerkt hätte. Der Faschismus war insofern auch ein Modernisierungsschub, als in ihm die neu sich konstituierende Einheit staatlicher und ökonomischer Macht als die wirkliche Gewalt gegen den Staat, als eine Gewalt, die den Staat von innen zerstörte, sich erwiesen hat. Der faschistische Staat hat (in der logischen Folge des wilhelminischen Spektakels) das verrottete Innere des Staates, die Souveränitätsidee, durch die theatralische Lüge und den Terror zu retten versucht. Der Generalstreik, der einmal die Idee der Gerechtigkeit gegen einen Staat vertreten wollte, der nicht mehr in der Lage war, diese Idee zu verkörpern, hat mit dem Verschwinden des Staates sein Objekt verloren.
    Benennen: Wenn ich mich einem Kind mit Namen vorstelle, bevor ich es selbst nach seinem Namen frage, stelle ich eine angstfreie Situation her. Das Benennen hat auch den Zweck, Ängste zu bannen. Das steckt u.a. auch in der biblischen Geschichte der Benennung der Tiere durch Adam (vielleicht auch schon in den benennden Tätigkeiten Gottes im Schöpfungsbericht).
    Ist das Benennen im Schöpfungsbericht eine Vorstufe der Selbstoffenbarung (des Selbstbenennens) am brennenden Dornbusch? Dagegen hat Adam nur die Tiere benannt, nicht sich selbst.
    Haben die Stellen in der Schrift, an denen es heißt: „Wenn dich künftig dein Sohn fragt, so sollst du ihm antworten …“ etwas mit diesem Problem des Benennens zu tun? Und ist nicht der 68er Slogan „Wenn mich meine Kinder einmal fragen, will ich nicht sagen müssen …“ ein spätes, hilfloses Echo dieser Stellen?

  • 22.11.95

    Der Andere und der Fremde: Der Begriff des Anderen ist ein Systembegriff, der des Fremden ein systemsprengender Begriff. Der Weltbegriff macht alles Weltliche zu Anderem für Andere; das Eine, das das Andere für Andere ist, ist im Kontext des Weltbegriffs in diesem Anderssein aufgehoben und verschwunden. Der Satz: „Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren“, drückt diese Struktur aufs genaueste aus. Als ihnen die Augen aufgingen, lernten sie sich in den Augen der Anderen sehen: Da erkannten sie, daß sie nackt waren. Diese Nacktheit ist das biblische Äquivalent des philosophischen Andersseins. Das, was ich unter dem Zwang der Logik der Scham (unterm Rechtfertigungszwang) in mir verdrängen muß, ist damit nicht wirklich verschwunden: Es erscheint in der Gestalt des Fremden (zugespitzt in den Gestalten des Feindes, des Verräters und in der der Sexualität, der weiblichen Verführung), der, weil er der Systemlogik des Andersseins sich nicht einordnet, zur Projektionsfolie meiner Verdrängungen wird. In dieser Logik gründet die Xenophobie.
    Läßt die Beziehung des Andern zum Fremden nicht an der Beziehung des Inertialsystems zum Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit sich ablesen? Bezeichnet nicht die Lichtgeschwindigkeit (zusammen mit der Gravitationskonstanten) genau den Fremdheitspunkt im System? Im Inertialsystem ist die Division durch 0 (das Äquivalent der Orthogonalität) nicht gleich Unendlich, sondern = c, gleich der Lichtgeschwindigkeit (vgl. hierzu die Erörterungen Derridas über die Beziehungen der Begriffe des Andern, des Fremden und des Unendlichen in seinem Essay über Levinas, in: Die Schrift und die Differenz, S. 121ff, insbes. S. 149ff, 159ff, 174).
    Die 0 (Null) ist der Statthalter der Orthogonalität in der Mathematik. Die Vorstellung der Unendlichkeit des Raumes ist durch ein dreifaches Nichts (durch drei Nullen, die erst durch ihre wechselseitige Reflexion mit einander identisch, zu Nullen, werden: durch eine dreifache Abstraktion) vermittelt. Vorläufer der Null, ihr Statthalter in der Sprache, war das Neutrum, in der Schrift symbolisiert durch die Schlange: „An jenem Tage wird der HERR mit seinem harten, großen und starken Schwerte heimsuchen den Leviathan, die flüchtige Schlange, und den Leviathan, die gewundene Schlange, und wird den Drachen töten, der im Meere haust“ (Jes 271).
    Die Null ist die Narbe an der Stelle, an der Alexander den gordischen Knoten durchschlagen hat, sie ist dann zu einem Instrument im Klassenkampf geworden.
    Redundanz: Der Begriff des Rassismus erklärt die Xenophobie auf der Basis und im Rahmen der Logik der Xenophobie.
    Zur Geschichte des Objektbegriffs: Die Kopenhagener Schule hat die ungelösten Probleme der Äthertheorie in den mikrophysikalischen Objektbegriff mit hereingenommen, sie hat sie zu dinglichen Eigenschaften von Objekten (der „Elementarteilchen“) gemacht. Hierauf bezog sich meine These, daß die Strukturen der Mikrophysik (des gesamten Bereichs, den das Plancksche Wirkungsquantum eröffnet hat) aus der Form des durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit neu definierten Inertialsystems sich müssen herleiten lassen.
    Hat der Faschismus nicht eine sehr christliche Tradition terroristisch zugespitzt, als er den Opfern auch nachträglich noch unauslöschliche Schuldgefühle mitgegeben hat? Der daraus sich herleitende Rechtfertigungszwang läßt sich nur im Kontext der Reflexion der Genesis dieser Schuldgefühle (die gegenstandslos, aber nicht grundlos sind) auflösen. Und nur auf die Auflösung dieses Rechtfertigungszwangs, nicht der Schuldgefühle, kommt es an. Was heute Religion heißt: der vergebliche Versuch, diese Schuldgefühle (unter Hinweis auf ihre Gegenstandslosigkeit) loszuwerden, bleibt in diese Rechtfertigungszwänge verstrickt. Diese Religion ontologisiert das Schuldverschubsystem: Sie macht sich selbst lahm und blind.
    Liegt das ungeheure symbolische Potential des Konflikts um die sogenannte friedliche Nutzung der Atomenergie nicht in ihrer Beziehung zu diesem Schuldverschubsystem? Welch schreckliche symbolische Logik liegt nicht in der Geschichte, daß C. F. von Weizsäcker, der in die Entstehungsgeschichte der angeblich friedlichen Nutzung der Atomenergie involviert war, vor Jahren sich einen privaten Atombunker gebaut haben soll? Und ist die Wirksamkeit des Schuldverschubsystems nicht direkt an seiner Formel für die Energiebilanz der Sonne, die eigentlich auf die Technik der „Uranmaschine“ abzielte, abzulesen (an der kosmologischen Verschiebung eines technischen und erkenntnistheoretischen Problems)? Auch das ein Versuch der Verharmlosung (und Schuldentlastung): die Verschiebung des Problems aus einer ethisch relevanten in eine ethikfreie Zone: ins Kosmologische. War dieses Konstrukt nicht ein Vorläufer der „kosmologischen“ Theorien des Urknalls oder auch des Schwarzen Lochs (der „Kosmologisierung“ technischer Redundanz-Probleme)?
    Entsühnung der Welt: Ersetzen heute nicht Exkulpationsmechanismen, der Trieb, den Komfort des guten Gewissens sich zu erhalten, immer deutlicher und massiver die Arbeit an der Erkenntnis dessen, was hinter dem Vorhang sich abspielt? Heute wollen die Menschen nicht mehr wissen, was sie tun, sie wollen nur noch, was sie tun, ohne Schuldgefühle tun.
    Beim Tod Jesu „(zerriß) der Vorhang im Tempel … von oben bis unten in zwei Stücke, und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Grüfte öffneten sich, und viele Leiber der Entschlafenen wurden auferweckt; und sie kamen nach seiner Auferweckung aus den Grüften hervor, gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen“ (Mt 2751f). Wird hier nicht beschrieben, was „hinter dem Vorhang“ ist?

  • 16.11.95

    Die These, man müsse den Staat dazu bringen, sein faschistisches Gesicht zu zeigen, weiß nicht nur nicht, was Faschismus heißt, sie ist ebensosehr Ausdruck der Hilflosigkeit des militanten Antifaschismus. Es kommt nicht darauf ein, ein Urteil zu vollstrecken (auch nicht das Urteil des Geschichte, das selber unterm Bann des Faschismus steht), sondern die Erkenntnis wie das Handeln vom Bann des Urteils zu befreien.
    Es gibt zwei Formen der Beziehung der Vergangenheit zur Erkenntnis: Während die Naturwissenschaft die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert, ratifiziert der Historismus die Vergangenheit des Vergangenen. Beide gemeinsam rücken die Gegenwart in das Licht der Vergangenheit (Ursprung der subjektiven Formen der Anschauung, Grund der Ästhetisierung der Wirklichkeit).
    Nur bei Johannes steht die Geschichte mit der Aufschrift am Kreuz, auf die Pilatus schreiben ließ: Jesus der Nazoräer, der König der Juden (1919).
    Wer war der erste Confessor, und wer war die erste Virgo? Während das Martyrium noch auf die unmittelbar bevorstehende Parusie bezogen war, ist der neue Heiligentyp auch eine Konsequenz aus der Enttäuschung der Parusie-Erwartung (der Rezeption des Weltbegriffs). Confessor und Virgo waren gleichsam das erste aus dem Paradies der zukünftigen Welt vertriebene Menschenpaar, und der katholische Himmel eine Verkörperung der gefallenen zukünftigen Welt (zweiter Sündenfall, mit Alexander und seinen caesarischen Nachfolgern als Cherube mit dem Flammenschwert vor der verschlossenen Zukunft. Ist der Katholizismus die Erzeugungsmaschine der Wolken, auf denen der Menschensohn einst kommen wird?
    Verweist der Satz des Paulus, daß die ganze Schöpfung seufzt und in Wehen liegt, und auf die Freiheit der Kinder Gottes wartet, nicht darauf, daß die ganze Schöpfung teilhat an der Passion und am Kreuzestod Jesu? Hat Kopernikus den Kosmos ans Kreuz geschlagen, und war Newton der Paulus dieser neuen Theologie?
    Die Geschichte ist das Produkt der Historisierung, wie die Welt das Produkt der Verweltlichung und die Natur das Produkt des Objektivationsprozesses ist.
    Die Astronomie, die Elektrodynamik und die Mikrophysik sind auch ein Beweis für die Sprengkraft des Inertialsystems, des Herrendenkens, das in diesem System sich verkörpert.
    Antisemitismus, Ketzer- und Hexenverfolgung gehören zur Vorgeschichte der Konstituierung des Inertialsystems. Der Jude, das war der Feind, der Ketzer der zum Verräter gewordene Genosse und Frau war das, was unten ist.
    Nach welchen Prinzipien sind in den Nationalsprachen die Zahlen gebildet worden, und welche Konnationen stecken in diesen Bildungen (im Deutschen mit der Folge Hunderter, Einer, Zehner: Sechshundert sechs und sechzig, im Englischen in der logischeren Folge Hunderter, Zehner, Einer: sixhundred sixty six; was bedeutet die abweichende, auch auf Subtraktionen zurückgreifende Zahlenbildung im Französischen)? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Trennung der (arabischen) Zahlen von der Schrift, der Einführung der Null (aus Indien über die Araber), der Bildung der Dezimalzahlen und der modernen Raumvorstellung, der „subjektiven Form der Anschauung“ (die Null ist das Korrelat der unendlichen Ausdehnung des Raumes), dem Ursprung der analytischen Geometrie und der doppelten Buchführung? Die Null hat (als mathematischer Reflex der Unendlichkeit) die Mathematik von der Sprache getrennt, sie gleichsam auf ihre eigenen Füße gestellt. In der Geometrie repräsentiert die Null den Ursprungspunkt des Raumes: den Repräsentanten des Subjekts und des Objekts zugleich. Die Null hat den Raum zur subjektiven Form der Anschauung gemacht, sie war der Ich-Generator; sie hat die Schöpfungslehre verwandelt. Erst das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit hat die Null widerlegt (oder auch dynamisiert).
    In welcher Beziehung steht die Logik der durch die Null neu begründeten Mathematik zur Logik der symbolischen Zahlen (die ihre eigene Rationalität haben, die nicht widerlegt, nur verdrängt worden ist)?
    Habermas‘ Konzept eines herrschaftsfreien Diskurses wird durch schon durch den Hinweis auf die Deklination (insbesondere auf den Genitiv, das innersprachliche Äquivalent der Herrschafts- und Eigentumsbeziehungen) widerlegt.
    Das Substantiv bindet den Nominativ ans Inertialsystem.

  • 14.11.95

    Kanthers entlarvende Entgleisung: sein Wort von der Hetze (die von Seiten der Hessischen Landesregierung oder des Bundesrates gegen die Asylpolitik des Bundes betrieben werde), über die gestern in der Hessenschau berichtet wurde, wird in der FR von heute nicht erwähnt.
    „Kriegsgräberfürsorge“. Was ist das, was die Deutschen nicht vergessen können; wird nicht mit den „Kriegsgräbern“ nicht etwas ganz anderes gepflegt: ein Rachepotential, das aus einer „Heldenverehrung“ erwächst, aus der Erinnerung an „Opfer“, die eigentlich Täter waren, aber als Opfer erinnert werden, das nicht umsonst gewesen sein darf? Das Selbstmitleid der Täter, die keinen Erfolg hatten, deckt die Schreie der wirklichen Opfer zu, macht sie unhörbar. Und die Erinnerung an die Täter rechtfertigt nachträglich ihre Untaten. Soll es wirklich so weit kommen, daß eines Tages die Täter an den Schreien der Opfer sich rächen?
    Ist der Titel kyrios, Herr, einer, der nur für die Apostel gilt (und für die „apostolische“ Kirche)? Er knüpft an an ein Verständnis der Auferstehung, das der Nachfolge den Weg versperrt.
    Die Verinnerlichung des Opfers und die Spiritualisierung des Martyriums sind zwei Seiten ein und derselben Sache, ihr gemeinsames Produkt ist der Confessor, die Verkörperung der Bekenntnislogik. Zum Confessor gehört die Virgo; beide weisen zurück auf ihren gemeinsamen Ursprung im Martyrium, im Blutzeugnis: Die Virgo ist das Bild des Opfers, das als Opfer, durchs Nichthandeln, unschuldig ist, während der Confessor als Täter zwar in den Schuldzusammenhang sich verstrickt, aber durchs Bekenntnis aus dem Bann der Schuld sich zu lösen vermeint: sich selbst als unschuldig erfährt. Das Bekenntnis des Glaubens (das nicht identisch ist mit dem Bekenntnis des Namens, das zur Nachfolge gehört) ist ein umgekehrtes Schuldbekenntnis, ein bindendes, kein lösendes. Gründet nicht in dieser Konstellation, die am Bild der Unschuld anstatt an der Idee der Befreiung sich orientiert, die Bedeutung und Funktion der Sexualmoral, die als Ersatz für die Reflexion von Herrschaft eintritt, zugleich aber die Reflexion selbst für Herrschaftszwecke instrumentalisiert (das Produkt der für Herrschaftszwecke instrumentalisierten Reflexion ist die transzendentale Ästhetik, sind die „subjektiven Formen der Anschauung“ Kants und deren transzendentallogische Äquivalente: das Geld und die Bekenntnislogik)?
    Der Faschismus ist auch ein sprachlogisches Problem, das nur zu lösen ist im Kontext der Heiligung des Gottesnamens.

  • 9.11.95

    Die Lehre von der Erschaffung der Welt, die auf die weltkonstituierende Funktion des Staates zurückweist, läßt sich auch nicht durch das angehängte ex nihilo heilen (das auf den ökonomischen Grund der weltkonstituierenden Funktion des Staates zurückweist). Es sei denn, daß dieses ex nihilo die Vorstellung ausschließen soll, es gäbe eine ursprüngliche Vergangenheit, eine Vergangenheit vor der Schöpfung.
    Die Marxsche Idee einer klassenlosen Gesellschaft und seine Vorstellung vom Absterben des Staates enthalten einen erkenntniskritischen Aspekt, der mit zu entfalten wäre. Bezeichnen nicht die drei evangelischen Räte (Armut, Keuschheit und Hören) genau die Elemente, die die Logik des Absterbens des Staates zu begründen vermögen.
    Wenn die griechische Grammatik das Paradigma einer (in der Trennung des Sehens vom Hören begründeten) Logik der Schrift ist, dann ist die hebräische Grammatik das einer (im Hören begründeten) Logik des Worts.
    Im Credo steht das secundum scripturas nach dem et resurrexit tertia die, nicht nach dem crucifixus etiam pro nobis: sub Pontio Pilato passus et sepultus est.
    Für die Griechen waren die Barbaren die Fremden, für die Christen – bis hin zu Thomas – die Völker, die Heiden; die Neuzeit wird mit dem projektiven Namen der Wilden eröffnet; erst Hegel hat diese ganze Sphäre zusammengefaßt im Objekt des Weltgerichts: in den Opfern der Geschichte. Damit ist die Barbarei endgültig historisiert worden.
    Wayne A. Meeks verweist auf einen archäologischen Fund in Korinth, der auf die Existenz einer hebräischen Synagoge dort verweist (Urchristentum …, S. 107). Demnach war in römischer Zeit der Name der Hebräer noch in Gebrauch.
    Das Argument, daß (im Mörfelder Wald) Wege deshalb nicht gesperrt worden sind, weil erkennbar war, daß sie ohnehin kaum benutzt worden sind, entspringt einer Logik, die das Gefühl genießt, hier auch die letzten drei Spaziergänger noch aus dem Wald ausschließem zu können. Ist dieses Gefühl so weit von dem entfernt, das Skinheads ergreift, wenn sie Behinderte, Ausländer oder Obdachlose angreifen? Im Kontext hierarchischen Verwaltungsdenkens ist die Bevölkerung das, was unten ist und sich nicht wehren kann.
    Wie verträgt sich eigentlich die fortschreitende Privatisierung öffentlicher Dienste und Aufgaben, die den Staat zur Beute der Privatwirtschaft macht, mit der sich zuspitzenden Durchdringung der öffentlichen Verwaltungen durch hoheitlich-hierarchisches Verwaltungsdenken?
    Der Staat ist das Wesen, das kreuzigt, die Welt ist der Ort, die Schädelstätte, an der gekreuzigt wird, während Natur das Deck- und Rätselbild des Opfers vor Augen stellt, ohne das es den Staat und die Welt nicht geben würde (christologischer Naturbegriff).
    Das Gewaltmonopol des Staates, das einmal die Rachelogik durchbrechen sollte, ist inzwischen selbst zu einem Instrument der Rachelogik geworden.
    Gewissenhaft, befähigt und befugt, gesinnt und gesonnen: Hinweis zur Konvergenz der Sprache der Verwaltung mit der Sprache des Nationalismus (die hierarchische Struktur der faschistischen Organisationen war ein genaues Abbild der hierarchischen Verwaltungsstrukturen).
    Die Idee der Heiligung des Gottesnamens, die die Sprache von den Folgen des Sündenfalls, von der Erbsünde, reinigt, entzieht jeder Herrschaftsreligion, jeder Form der Religion für andere, damit aber jeder Religion überhaupt den Grund.

  • 3.11.95

    Aufklärung ist die letzte Chance, nachdem der Determinismus, der in der Entfremdungserfahrung des Proletariats den wirksamen Grund der Revolution zu erkennen glaubte, im Faschismus seine raison d’etre und im Stalinismus seine Unschuld verloren hat.
    Wie hängt die Vorstellung, daß Gott die Thora nicht nur selber geschrieben hat, sondern auch weiterhin studiert, mit der Vorstellung vom Buch des Lebens zusammen, in dem die Taten der Menschen aufgezeichnet sind, und in dem sie am Ende sich selbst erkennen?
    Der Kreuzestod hat die Welt nicht entsühnt, sondern ihren Zustand offengelegt.
    Binden und Lösen: Die Orthodoxie hat die Wahrheit einer Zwangslogik unterworfen. Das mathematische Äquivalent dieser Zwangslogik ist die Orthogonalität. Die Griechen haben die Winkelgeometrie erfunden/entdeckt: Der Satz des Thales, der pythagoreische Lehrsatz und schließlich die euklidische Geometrie sind Stufen der Entfaltung der Logik der Orthogonalität.
    Das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist ein Teil der physikalischen Lösung des Problems der Orthogonalität.
    Was drückt eigentlich in der Beziehung der Köpfe, Hörner und Kronen sich aus, durch die apokalyptischen Tiere sich unterscheiden? Hat die Beziehung von Köpfen, Hörnern und Kronen etwas mit dem Verhältnis von Herrschaft, Macht und Gewalt oder von Ökonomie, Staat und Religion zu tun? Der Drache unterscheidet sich vom Tier aus dem Wasser dadurch, daß er die Kronen auf seinen Köpfen hat, während das Tier aus dem Wasser sie auf seinen Hörnern hat. Ist der Drache die Ökonomie, das Tier aus dem Wasser der Staat und das Tier vom Lande die Religion?
    Zum Ursprung der Ohrenbeichte (der Priester wird Stellvertreter des Opfers, nimmt ihm die Kompetenz der Vergebung und Versöhnung ab) und zur Geschichte des neuen Sündenbegriffs (der das Bewußtsein und den Willen zu sündigen mit einschließt, die Formalisierung der ezechielischen Eigenverantwortung): Hat die Kirche nicht, als sie die Ohrenbeichte einführte, den Satz „Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was zu tun“ in den Indikativ übersetzt (die Bitte generalisiert und als erfüllt angesehen)? Sie hat damit alle, die nicht wissen, was sie tun, für unschuldig erklärt; seitdem aber bleiben alle dumm: die einen angepaßt und „fromm“, die andern rücksichtslos und schlau. Aber sind wirklich, wenn keiner mehr weiß, was er tut, alle unschuldig (ist keiner mehr Täter, verantwortlicher Urheber seiner Handlungen, sind alle nur noch Opfer: Selbstmitleidssyndrom)?
    Wenn die Weltgeschichte das Weltgericht ist, sind alle nur noch Objekt dieses Gerichts, gibt es keinen Ausweg aus der Urteilsmaschine (sind die Pforten der Hölle geschlossen).

  • 19.10.1995

    Greuelmärchen: Der bei den 68ern beliebte Satz „Unsere Kinder sollen uns später nicht vorwerfen können, wir hätten nichts getan“ bezeichnet genau die Falle des hilflosen Antifaschismus der Nachgeborenen. Schrecklich am Faschismus ist nicht der Vorwurf, dem er uns Überlebende aussetzt, sondern das Grauen, das unsere Erinnerung durchherrscht und (mit der Gewalt der Rechtfertigungszwänge und des Pathologieverdachts) verhindert zugleich. Die Verdrängung des Grauens ist der Nährboden des neuen, angepaßten Faschismus, der mit dem alten nicht einfach identisch ist, der sein Erscheinungsbild (sein „Image“) so beherrscht, daß er dem Vorwurf keine Angriffsfläche mehr bietet (er kann es sich nicht nur leisten, er ist vielmehr sogar interessiert daran, die Gewalt zu provozieren, die ihn dann in der Öffentlichkeit rechtfertigt). Die Nazis nannten Berichte über die Greueltaten, die sie verübten, „Greuelmärchen“. Heute ist die Realität selber zum Greuelmärchen geworden; Realität und Öffentlichkeit fallen beziehungslos auseinander, die Realität hat keine Öffentlichkeit mehr. Hier liegt der wirkliche Strukturwandel der Öffentlichkeit, den Habermas nie begriffen hat. Die Medien lassen sich heute als eine Einrichtung zur Verhinderung des Bewußtseins begreifen. Dieser „Fortschritt“ des Bewußtseins entspricht dem Fortschritt vom Rundfunk zum Fernsehen. Schlimmer als die faschistische Hörigkeit ist die durchorganisierte Bilderwelt, die über das Vorstellungsvermögen jeden Ausweg verstopft. Zur Gewalt des Pathologieverdachts: Der angepaßte Faschismus ist die Normalität, an der heute jede Abweichung gemessen wird. So entfaltet sich eine Situation, in der der Verrückte normal und der Normale verrückt ist, nur daß beide es nicht mehr wissen. Die raf hat sich zu einem Instrument des Staates machen lassen, mit dessen Hilfe es ihm gelungen ist, jegliche Kritik zu diskriminieren. Zu den Fallen des angepaßten Neofaschismus gehört – die Selbsthistorisierung oder die präventive Scham (sich selbst im Blick der Nachfahren sehen: unsere Kinder sollen uns später nicht den Vorwurf machen können, …), – die Opferfalle (ich bin Opfer, ergo unschuldig) und – die Gewaltfalle (in die die raf hineingerannt ist; Instrumentalisierung der Methode: Haltet den Dieb). Diese Konstellation gründet in einer Gestalt der Erkenntnis, die zu den Formen der Anschauung und zur Herrschaft der apriorischen Urteilsformen keine Alternative mehr kennt (hat sie nicht einen trinitarischen Hintergrund: Vater-, Sohn- und Geistfalle)? Hat die nachfaschistische Beziehung der Realität zur Öffentlichkeit (zum Bewußtsein) etwas mit der Beziehung des Tieres aus dem Meer zum Tier vom Lande zu tun? Erinnerungsarbeit ist Trauerarbeit, der Kampf gegen die neutralisierende, vergegenständlichende Gewalt der Vergangenheit. Wer den Faschismus als das Grauen, das er war, erfahren hat, dem wird der Satz, daß die Pforten der Hölle sie (die „Kirche“) nicht überwältigen werden, kostbar. Sind die Planeten Brennpunkte einer siebendimensionalen Ellipse? Bezieht sich die Vorstellung aus dem Sohar, nach dem die sechs Richtungen des Raumes auf Gottesnamen versiegelt sind, auf die Planeten, hat diese Vorstellung einen astrologischen Hintergrund? Ist der Tierkreis ein Realsymbol der urzeitlichen Katastrophe, an die der Dialektik der Aufklärung zufolge jedes Tier erinnert, und war diese Katastrophe nicht eine des Verstummens (die Finsternis über dem Abgrund)? Verweist nicht die Astrologie (der Geist über den Wassern) auf die erste Stufe der Rettung: das Sechstagewerk? Die Sonne herrscht über den Tag (das Werk des ersten Tages), der Mond und die Sterne über die Nacht (die im Anfang erschaffene Finsternis über dem Abgrund). Haben die drei ersten Sephirot (die Krone, die Weisheit und die Intelligenz) etwas mit der Schöpfung vor der Schöpfung: mit dem tohu wa bohu, der Finsternis über dem Abgrund und dem Geist über den Wassern, zu tun? Umwelt- und Naturschutz stopfen der Kreatur, die seufzt und in Wehen liegt, den Mund. Die Metamorphosen des Faschismus begreift nur, wer dem Grauen seine Sprache leiht, und das tun u.a. Autoren wie Huidobro und Rosencof. Gibt es eigentlich Unterlagen darüber, in welchem Umfange nach dem Krieg – die Verwaltungen, – der Militärhaushalt, – der Umsatz der Banken, – die Belegung der Knäste, – die Differenz zwischen den Einkommen der Selbständigen und den Einkommen der Lohnabhängigen, – der Anteil der Werbungs- und Vermarktungskosten im Verhältnis zu den Herstellungskosten im „Endverbraucher“-Preis der Waren sich ausgeweitet haben? Versöhnung bezieht sich auf das Verhältnis des Vaters zum Sohn, sie verbleibt innerhalb des Patriarchats. Heute hat sich der Kern des Generationen-Konflikts jedoch auf die Beziehung der Väter zu den Töchtern verschoben. Versöhnung setzte das Opfers voraus, während es nach der Verschiebung des Konflikts zur Barmherzigkeit keine Alternative mehr gibt (der Feminismus rührt an den Grund der Welt, an die Beziehung von Welt und Natur). Barmherzigkeit, nicht Opfer: Dem wird nur noch eine Theologie im Angesicht Gottes gerecht. Ist nicht der Positivismus, die Vereidigung der Wissenschaft auf die intentio recta und die Ausschaltung der Reflexion, letztlich ein Instrument der Verdrängung der Erinnerung des Grauens (das die Gegenwart des Grauens unsichtbar macht und seinen Urhebern das gute Gewissen verleiht): der Trennung von Realität und Öffentlichkeit? Anfrage zu Benajmins Einbahnstraße: Ist der kosmische Rausch nicht barbarisch? Die Physik ist selber das schwarze Loch, und der Urknall wird ihr Ende sein.

  • 18.10.1995

    Das Realsymbol der Konstellation von Gemeinheit (der Veranderung des Andern), Grauen (des Zum-Andern-Werdens für Andere) und der (in der gegenständlich gewordenen Welt) gegenstandslos gewordenen Barmherzigkeit ist der Raum.
    Ihr seid das Licht der Welt (ICH bilde das Licht und schaffe die Finsternis): Das Gewaltmonopol des Staates ist der Grund des Nominalismus (der Finsternis), der Zerstörung der erkennenden Kraft der Sprache (des Lichts), für die die Gewalt eintritt, die die Realität zusammenhält: das Grauen, das immer neu (und nie ein für allemal) bewußtseinsfähig zu machen ist.
    Der Faschismus ist das „wahre Antlitz“ des Staates, weil die Gemeinheit in seinen Wurzeln (der Dünger, der ihn nährt, der Naturgrund der Gewalt) nicht zu tilgen ist.
    Apriorisches Objekt der Gemeinheit ist der Feind: Mit der Gemeinheit breitet sich auch die Feindschaft aus.
    Wer in der Feindschaft das Moment der Trauer tilgt – und genau das tut die Bekenntnislogik -, macht sie erst vollends böse.
    Der Objektivationsprozeß produziert die Finsternis.
    Der Begriff der Empfindung, der die Wahrnehmung blind und taub gemacht hat, ist ein Reflex der Mechanik. Empfindungen sind das sinnliche Äquivalent des Stoßprozesses; Grundlage ist die Vorstellung einer Berührung, eines Stoßes, eines Schlages; jede andere Beziehung zur „Außenwelt“, insbesondere die der gegenständlichen Erkenntnis, ist getilgt und muß ästhetisch, mit Hilfe der Vorstellungskraft des „Erkennenden“, rekonstruiert werden. Das Problem dieser „Rekonstruktion“ aber besteht darin, daß es das Original nicht mehr gibt. Es gibt Welt-, Gottes- und Menschenbilder, aber nichts, was durch diese Bilder abgebildet wird. War das Bilderverbot nicht eine Hilfe gegen die Hybris: Die Bilder, die an die Stelle des Originals treten, sind in Wahrheit Repräsentanten des Subjekts, das auch Bild eines Originals ist, an dessen Stelle es sich setzt.
    Die Ich-bildende Kraft der Bekenntnislogik.
    Wer davon ausgeht, daß in den Menschen der Trieb gut zu sein, drinsteckt, daß die Menschen nichts lieber möchten als gut sein, muß erklären, weshalb sie anders sind.
    Das Grauen des Faschismus lag nicht darin, daß es die brutalen und gemeinen Schläger- und Mörderbanden gab, sondern daß er real und unter Einsatz von Gewalt und Terror den Menschen den Trieb gut zu sein ausgetrieben hat, daß er eine Welt hervorgebracht hat, in der es zur Gewalt und zum Terror keine Alternative mehr zu geben scheint. Und dieses Grauen ist zur Grunderfahrung der Nachwelt des Faschismus geworden.
    Mein ist die Rache, spricht der HERR. Wer den Gott Israels als Rachegott denunziert, möchte sein eigenes Recht auf Rache nicht aus der Hand geben. Er verhält sich zur Theologie wie der Staat zum Mörder (der ihm das Recht zu töten streitig macht): Er verurteilt sie zur lebenslänglichen Haft.

  • 17.10.1995

    Durch die Historisierung wird die Geschichte zum Objekt und zum Fundus des Urteils. Wer den Faschismus nur als vergangenen kennt, als Objekt vergegenständlichender Erkenntnis, hat das Spezifische der Faschismus-Erfahrung, das Grauen, schon verdrängt; so aber verwandeln sich der Schrecken und die Trauer in Empörung, die ihr Objekt zwar nicht mehr erreicht, dafür aber umso heftiger an Ersatzobjekten sich abreagiert. So wird der Faschismus zum indikativischen Prädikat und Adjektiv, zu einem Instrument des Grauens, in dem er überlebt.
    „Grauen um und um“ (Jer 625, 203, 2010, 465, 4929): Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit, weil sie per definitionem das Grauen nicht verdrängt, sondern es bewußtseinsfähig hält. Der Weltbegriff verhindert die Gottesfurcht (die Theologie im Angesicht Gottes), weil ihren Erfahrungsgrund, das Grauen, systematisch verdrängt, durch diese Verdrängung und als deren Instrument sich definiert. Das Grauen ist das gegenständliche Korrelat der Gemeinheit und definiert sich wie diese durch ihre Beziehung zur Barmherzigkeit.
    Jer 625: Geht nicht hinaus auf das Feld, wandert nicht auf die Straße! Denn da wütet das Schwert des Feindes – Entsetzen ringsum. (Zürcher Bibel)
    Gehet nicht hinaus auf das Feld, und gehet nicht auf dem Wege, denn vom Schwerte des Feindes ist Schrecken ringsum. (Zunz)
    Ziehet nimmer aufs Feld, nimmer geht auf den Weg, denn das feindliche Schwert, ein Grauen, ist ringsum. (Buber-Rosenzweig)
    203: Am andern Morgen sodann entließ Pashur den Jeremias wieder aus dem Block. Da sprach Jeremias zu ihm: Nicht Pashur nennt der Herr deinen Namen, sondern ‚Grauen ringsum‘. (Zürcher Bibel)
    Und es geschah am anderen Tage, da entließ Paschchur den Jirmejahu aus dem Stocke, und Jirmejahu sprach zu ihm: Nicht Paschchur (Fülle an Freiheit), hat der Ewige deinen Namen genannt, sondern Magor (Schrecken) ringsum. (Zunz)
    Am Nachmorgen dann wars, da ließ Paschchur Jirmejahu aus dem Block holen. Jirmejahu aber sprach zu ihm: Nicht Paschchur ruft ER deinen Namen, sondern Magor, Grauen, ringsum. (Buber-Rosenzweig)
    2010: Viele schon hörte ich zischeln – welch ein Grauen ringsum! -: ‚Zeiget ihn an!‘ – ‚So wollen wir ihn anzeigen! Ihr seine Vertrauten alle, belauert ihn! Vielleicht läßt er sich betören, daß wir seiner Herr werden und uns an ihm rächen‘. (Zürcher Bibel)
    Ja, ich höre die Lästerung vieler, Zusammenrottung ringsum: Gebet an, so wollen wir ihn angeben! alles befreundete Männer, die auf seinen Sturz lauern; vielleicht läßt er sich betören, und wir vermögen gegen ihn und nehmen unsere Rache an ihm. (Zunz)
    Ja, ich höre das Flüstern der Vielen, ein Grauen ringsum: Meldets! wir wollens melden! Was an Menschen mir im Friedensbund steht, die passen meinem Ausgleiten auf: Vielleicht wird er betört, dann übermögen wir ihn, nehmen an ihm unsere Rache! (Buber-Rosenzweig)
    465: (Über Ägypten) Warum sind sie bestürzt und weichen zurück? warum sind ihre Helden zerschmettert und fliehen in wilder Flucht, daß keiner hinter sich sieht? O Grauen ringsum! spricht der Herr. (Zürcher Bibel)
    Warum sehe ich sie zag zurückweichend, und ihre Helden sind zerschmettert und stürzen in die Flucht, ohne sich umzusehen? Grauen von allen Seiten, ist der Spruch des Herrn. (Zunz)
    Weshalb muß ichs sehen?! Da sind sie, bestürzt, sie weichen zurück, ihre Helden zerstieben, fliehen in Flucht, wenden sich nicht! Grauen ringsum! ist SEIN Erlauten. (Buber-Rosenzweig)
    4929: (Über Kedar und das Königreich Hazor) Zelte und Schafherden soll man ihnen rauben, die Zeltdecken und alle Geräte; auch ihre Kamele soll man ihnen nehmen und über sie ausrufen: Grauen ringsum. (Zürcher Bibel)
    Ihre Zelte und ihre Schafe werden genommen, ihre Teppiche und all ihr Gerät, und ihre Kamele führen sie sich davon, und man ruft ihnen zu: Schrecken von allen Seiten!
    Ihre Zelte nehme man, ihre Schafe, – ihre Teppichbehänge, all ihr Gerät, ihre Kamele führe man sich hinweg, man rufe über sie: Grauen ringsum! (Buber-Rosenzweig)
    Grauen ringsum, das ist
    – das Schwert des Feindes,
    – der „wahre“ Name Paschchurs (des Priesters, des Oberaufsehers im Haus des HERRN),
    – das Zischen, der Denunziationstrieb, die Rachsucht der Menge,
    – die Niederlage Ägyptens (des Sklavenhauses) und
    – die Ausraubung Kedars und Hazors (die den Frieden hassen – Ps 1205).
    Verweist das nicht insgesamt auf die neue, durch die Herrschaft Babylons definierte Situation?

  • 16.10.1995

    Rache des Objekts: Das Wort Faschist läßt sich sowohl als Prädikat als auch als Adjektiv verwenden (X ist ein Faschist; der faschistische Abgeordnete). Er trifft sein Objekt nur von außen, was voraussetzt, daß das Grauen, das er bezeichnet, keine lebendige Erfahrung mehr bezeichnet, weil es vergangen ist. Das Wort Mörder ist nur als Prädikat verwendbar: Es bezeichnet ein Individuum, keine Eigenschaft, oder genauer: eine Eigenschaft, die keine andere neben sich duldet, die unmittelbar individualisierende Wirkung hat. Der Begriff des Mörders hat die gleiche logische Qualität wie der des Objekts: Der Mörder ist das Nicht-Ich, sein Name verdrängt die Subjekteigenschaft dessen, den er bezeichnet. Wenn ich jemanden einen Faschisten nenne, urteile ich über ihn, wenn ich ihn einen Mörder nenne, verurteile ich ihn. Im Falle des Antisemitismus brauche ich „den Juden“ nicht mehr zu verurteilen, er ist von Natur (und nicht durch eine Tat, wie der Mörder) unentrinnbar verurteilt. Das Vorurteil macht im Juden das Nicht-Ich, das Objekt, zum Subjekt. Der adjektivische Gebrauch dieses Namens bezeichnet neben der Zugehörigkeit eines Einzelnen zu dieser Gruppe (zu dieser „Rasse“) ein Ensemble von Eigenschaften, an denen man einen Juden erkennt, von denen aber auch eine Ansteckungsgefahr ausgeht, die auf andere (auf Nicht-Juden) übergreifen kann. Dieses Konstrukt, aus dem das rassenhygienische Ziel der Endlösung zwanglos sich herleiten läßt, unterscheidet den Antisemitismus von jedem anderen Vorurteil. War nicht diese Ansteckungsgefahr die tiefste Angst des Faschismus, der darin die Mechanismen seines eigenen Ursprungs und seiner Ausbreitung und im Juden das Bild seiner selbst wiedererkannte? Nur durch die Projektion auf die Juden war die Wirksamkeit dieser Mechanismen und ihre Legitimation sicherzustellen; sie würden sich selbst auflösen, wenn es gelingen würde, sie ins Bewußtsein zu heben. Hitler, dem in den zwölf Jahren ein ganzes Volk verfallen war, wurde nach dem Krieg nur noch als Popanz, als komische Figur wahrgenommen. Die Anziehungskraft, die diese Figur heute auf die Neue Rechte wieder auszuüben scheint, ist keine unmittelbare, eher eine nostalgische; sie ist, wie es scheint, vermittelt durch die Historisierung des Faschismus, durch ein Bewußtsein, das ihn – dank der „Gnade der späten Geburt“ – nur noch als Vergangenheit kennt.

  • 15.10.1995

    Die Instinktbindung der Tiere gründet in ihrem Objektivismus, den Adam, als er sie benannte, an sie delegiert hat. Adam hat die Tiere benannt, das hat sie verstummen gemacht; es käme heute darauf an, sie von ihrer Stummheit zu befreien, sie zum sprechen zu bringen.
    Gegen die Ankläger hat es die Verteidung immer schwerer. Aber das nicht deshalb, weil die Verteidung die Dinge nicht beim Namen nennt; wenn das tun würde, müßte sie sich auf eine Macht berufen, die sie nicht hat. Die einzige Chance der Verteidigung liegt darin, das, was der Ankläger beim Namen zu nennen versucht, zum Sprechen zu bringen.
    „Mein Gott!“ Gibt es nicht einen gottesfürchtigen Atheismus, einen Atheismus, der das Nichtsein Gottes als Teil der Heiligung Seines Namens begreift, als Unmöglichkeit, Gott in einem Possessivverhältnis zu fassen, als Versuch, Gott von dem dem Sein immanenten Eigentumsanspruch freizuhalten? Die Gottesfurcht beginnt, wenn man begreift, daß der Ausdruck „mein Gott“ blasphemisch ist. Gilt das Gleiche nicht für jede Art von Gottesbeweis?
    Sanctificetur nomen tuum: Welcher Name ist hier gemeint, der des Vaters oder der Gottesname, den auszusprechen verboten ist?
    Der Weltbegriff leugnet die Schöpfung, der Naturbegriff die Auferstehung; leugnet nicht die Bekenntnisreligion die Offenbarung?
    Das Dogma ist die Narbe an der Stelle, an der Alexander den Knoten, der eigentlich hätte gelöst werden müssen, durchschlagen hat, War der Knoten (der Joch und Deichsel des Ochsenkarrens mit einander verband) der Knoten, der die Objektivierung mit der Instrumentalisierung verknüpfte? Seitdem ist es möglich, das Bewußtsein der mit der Objektivierung verknüpften Instrumentalisierung zu verdrängen. Diese Verdrängung, die die Reflexion des Herrschaftszusammenhangs der Objektivierung verhindert (im Objekt die Spuren des herrschaftsgeschichtlichen Ursprungs seines Begriffs tilgt), ist die Grundlage des Begriffs. Der Inbegriff aller Begriffe ist der Weltbegriff. Deshalb mußte das Dogma (zusammen mit der den Objektbegriff begründenden Opfertheologie) eine Lehre von der Erschaffung der Welt (die von der Schöpfung des Himmels und der Erde unterschieden werden muß) enthalten.
    Der Faschismus ist die Rache des Objekts: Deshalb gibt es keine Kritik des Faschismus, die nicht die Kritik des Konkretismus und der Personalisierung mit einschließt. Der Faschismus ist eine Frage der Logik. Zur Faschismus-Kritik gehört heute die Kritik der Naturwissenschaften (Kritik des Weltbegriffs, Reflexion der Beziehung von Philosophie und Prophetie). Alles andere wird heute zusehends ohnmächtiger und hilfloser und am Ende selbst vom Faschismus eingeholt.
    Urknall: Handelt es sich hier nicht um das Produkt einer Verschiebung von der formalen auf die materielle Ebene; wäre der Urknall nicht genauer auf die Konstituierung des Inertialsystems durch Sprengung des Lichts zu beziehen? Die Unterscheidung der primären und sekundären Sinnesqualitäten (die Subjektivierung der Empfindungen, die in der Sprache die Personalpronomina hervorgetrieben hat) ist eine Folge dieser Sprengung.
    Wenn der Urknall auf die „Sprengung des Lichts“, den Ursprung der naturwissenschaftlichen Lichttheorien, sich bezieht, ist dann das „schwarze Loch“, das alle Strahlungen in sich aufsaugt, aber keine mehr herausläßt, nicht das Realsymbol der Gravitationstheorie?
    In welcher Beziehung stehen Verdacht, Unterstellung und Behauptung zur Geschichte der drei Leugnungen?

  • 8.10.1995

    Die Wendung, daß eine Sache gegenstandslos (geworden) sei, ist aufschlußreich: Entsteht das steinerne Herz nicht genau dort, wo die Barmherzigkeit gegenstandslos wird? Die Logik, die die Barmherzigkeit gegenstandslos macht, ist erstmals in der Kritik der reinen Vernunft zum Gegenstand der Untersuchung geworden.
    Der Begriff der Erkenntnis ist heute auf einem Felde angesiedelt, auf dem die Theologie nur verlieren kann. Da hilft keine Apologetik mehr. Nicht auf die Verteidigung der Theologie kommt es an, sondern auf verteidigendes (parakletisches) Denken als Organ der Theologie.
    Die Hoffnung, daß das Problem des Faschismus auf biologischem Wege, durch Aussterben der Nazis, sich löst, trügt nicht nur, sondern ist selbst ein faschistisches Konstrukt. Es gibt keine Gnade der späten Geburt. Und das Grauen, das der Faschismus benennt, ist eins, das erst in zweiter Linie von Personen ausgeht. Der Faschismus pflanzt sich über Strukturen fort.
    Der alte deutsche Rechtsgrundsatz „mitgefangen, mitgehangen“ lebt in den Terrorismusprozessen wieder auf. Es erübrigt sich, Birgit Hogefeld auch nur eine der Taten, deretwegen sie angeklagt ist, nachzuweisen, sie ist schon durch ihr Bekenntnis zur raf überführt. Die Kritik des Begriffs der Kollektivschuld und seine Ersetzung durch den der Kollektivscham hat das zugrundeliegende Problem nur verdrängt, nicht gelöst. Die verdrängte Kollektivschuld kehrt hier in veränderter Konstellation (in instrumentalisierter Gestalt) wieder (und wie wirkt sich diese veränderte Konstellation auf die Kollektivscham, die Zwillingsschwester der Kollektivschuld, aus?).
    Hitler als Generalprobe: zum historischen Faschismus gehört das Radio, mit dem Fernsehen hat er sich nicht in der Substanz, wohl aber in seinen Erscheinungsformen verändert; Hinweis auf eine Geschichtsphilosophie des Hörens und Sehens?
    Drei Formen der transzendentalen Ästhetik:
    – Raum und Zeit: die Naturwissenschaften subsumieren das Vorn unter das Hinten,
    – das Geld: der Kapitalismus subsumiert die rechte unter die linke Seite, und
    – die Bekenntnislogik: das Dogma und die Opfertheologie subsumieren die obere unter die untere Welt.
    In jedem Falle wird die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert.
    Die Vorstellung des unendlichen Raumes lebt davon, daß es Unterstellungen und Formen des Verdachts gibt, die sich nicht widerlegen lassen. Das heißt nicht, daß sie wahr sind. Die Materie ist der apriorische Gegenstand des Verdachts, der Raum die hypostasierte Form der Unterstellung.
    Das Dogma hat die Idee der Ewigkeit in den Begriff des Überzeitlichen transformiert. Zu den Rahmenbedingungen dieser Transformation gehören das Urschisma, die Bekenntnisform der Orthodoxie und die Verurteilung der Häresien. So ist es zur Ursprungsgestalt des Inertialsystems geworden. Das Inertialsystem ist eine Metamorphose des Dogmas. Die innere Beziehung des Dogmas zur Zeit ist ein Teil seiner weltkonstituierenden Funktion.
    Gutachten: Die Wahrnehmung, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand ist, reicht weit über den Bereich des Strafrechts hinaus; sie bindet den Wahrheitsbegriff an die Prinzipien der Beweislogik und an die Urteilsform, sie ist die Grundlage der indikativischen Fassung des Wahrheitsbegriffs und gehört so zu den gemeinsamen Prämissen sowohl der dogmatischen Theologie, des Begriffs der Orthodoxie, als auch des Begriffs wissenschaftlicher Erkenntnis und Objektivität. Gemeinheit aber ist allein in theologischem Kontext bestimmbar, im Bereich der Gotteserkenntnis: sie trennt das strenge Gericht von der Barmherzigkeit. Wer die Gemeinheit ins Unerkennbare verschiebt – und das ist die Existenzbedingung des Staates -, macht die Barmherzigkeit gegenstandslos („Beweis“: die Verhältnisse in den Knästen, aber auch vor Gericht, insbesondere im Staatsschutzbereich). Der logische Kern des Dogmas ist nicht zufällig die Opfertheologie. Aber auch gegen das Dogma gilt der prophetische (und prophetische Erkenntnis begründende) Satz: Barmherzigkeit, nicht Opfer.
    Was heißt und woher kommt der Begriff „infam“? Nach Kluge stammt es aus der gleichen Wurzel wie „diffamieren“ (verunglimpfen; von fama, ‚Gerede, Gerücht‘). Das Präfix in- bezeichnet (bei Adjektiven) sowohl die Negation (indiskret) als auch das ‚hinein‘ (instituieren). Infam ist der als wahr unterstellte Verdacht (der das Angesicht Gottes gegenstandslos macht: es gibt kein Herz, in das nur Gott sieht, kein An-sich der Dinge).

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