Feindbildlogik

  • 5.11.1996

    Heute wurde das Urteil über Birgit Hogefeld gesprochen: Lebenslänglich (Pimental/US-Airbase, Tietmeyer, Weiterstadt <12 Jahre>), Freispruch für „Mord an Newrzella (Bad Kleinen). Im Fall Pimental/US-Airbase wurde eine „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt. Keine der Taten wurde wirklich nachgewiesen, es muß offen bleiben, ob sie es gewesen ist.
    Der Freispruch zu Bad Kleinen weckt den Verdacht, ob nicht die Anklage ohnehin nur erfolgte, um den „Mord an Newrzella“ und mit ihm den toten Wolfgang Grams als „Mörder“ juristisch festzuschreiben, auf diesem Wege eine offizielle Geschichtsschreibung der Vorgänge in Bad Kleinen zu installieren. Das würde heißen, daß an eine Verurteilung von Birgit Hogefeld im Ernst nie gedacht worden ist. Damit war der zusätzliche Vorteil verbunden, das ganze Urteil nach außen als ein differenziertes Urteil zu verkaufen und das Gericht von dem Verdacht zu befreien, es handle nur als Erfüllungsgehilfe der BAW.
    Es gibt außerdem hinreichend Anlaß für die Vermutung, daß Birgit Hogefeld möglicherweise an den eigentlich gravierenden Aktionen Pimental/US-Airbase und Tietmeyer nicht beteiligt war. Das würde zwei Rückschlüssse zwangsläufig nach sich ziehen, der eine in Richtung RAF, und der andere in Richtung BAW/Gericht:
    – Wenn sie an diesen Aktionen, die ihr das Lebenslänglich eingebracht haben, nicht beteiligt war, dann muß es andere in der RAF geben, die das auch wissen. Kann es sein, daß ihre Verurteilung auch innerhalb der RAF aus Gründen der Zwangssolidarität in Kauf genommen wird, daß es einige Leute gibt, die die Tat begangen haben, jetzt aber (um der „höheren“ revolutionären Ziele willen) sich wegducken und Birgit Hogefeld im Knast „verbrennen“? Kann es sein, daß die Ausgrenzung von Birgit Hogefeld schon ein Indiz für dieses böses Spiel war, das anders (ohne präventive Diskriminierung auch innerhalb der RAF) nicht durchzuhalten wäre (wenn sie es schon nicht war, dann wäre schon ihr „Verrat“, den sie nicht begangen hat, Grund für ihre Strafe)? Hätte das nicht sogar Folgen auch für die, die nicht eingeweiht sind und es dann nur aus dem Grunde auch nicht wissen, weil sie es aus „Solidarität“ und wegen der „Ziele“ nicht in ihr Bewußtsein lassen dürfen?
    – Vor dem Hintergrund der einzig möglichen Erklärung der Anklage und des anschließenden Freispruchs im Falle Bad Kleinen, das nach einem strategischen Konzept aussieht, sieht dann allerdings auch das Schuldurteil nicht so unschuldig aus, wie es nach außen gerne erscheinen möchte. Ist der Verdacht so abwegig, daß BAW und Gericht imgrunde genau wissen, daß dieses Urteil kein fundamentum in re hat, daß es ebenso wie der Freispruch zum „Mord an Newrzella“ das Ergebnis eines strategischen Kalküls ist, für das die Angeklagte nur instrumentalisiert worden ist? Wenn BAW und Gericht wissen sollten, daß Birgit Hogefeld in diesen Punkten unschuldig ist, wenn sie davon ausgehen, daß in der Öffentlichkeit schon das Stichwort RAF das genaue Hinsehen auf das Urteil und seine Begründung verhindern wird, ist der Verdacht dann nur abwegig, daß auch das Urteil instrumentalisiert, als Waffe gegen den Rest der RAF benutzt wird, sei es als Mittel der Demoralisierung der RAF, oder sei es, daß die Spekulation auf ein noch bestehendes moralisches Gefühl die Erwartung nährt, daß die wirklichen Täter das Opfer Birgit Hogefelds nicht ertragen und sich outen werden? Diese Instrumentalisierung wäre ebenso erfolgs- und machtorientiert wie zynisch. Aber läßt sie sich nach den Erfahrungen mit der BAW und dem 5. Senat des OLG Frankfurt in diesem Prozeß wirklich restlos ausschließen?
    Urteilsmagie: Das Urteil beendet den Prozeß, es sistiert die Bewegung des Prozesses und stellt einen diese Bewegung abschließenden Zustand her; es löscht den Funken der Hoffnung in den Dingen, in dem es sie gegen die Sprache verschließt und durch die Gewalt der Objektivierung der Barmherzigkeit den Weg versperrt. Das Erstarren des Objekts wird erkauft durch eine Konstellation von Knotenpunkten der Feindbildlogik, die in den astrologischen Namen der Planeten erstmals benannt worden sind. Es gibt nicht nur eine transzendentale Logik, sondern ein System von transzendentalen Logiken.
    Abstraktion: Jedes Urteil impliziert einen Akt der Verdrängung, dessen Stabilisator der Begriff ist.
    Daß Jesus nicht gelacht, dafür aber die Dämonen ausgetrieben hat, hängt mit der Befreiung von der Urteilsmagie zusammen.
    Auch das Feindbild ist ein Kuscheltier, dessen Verlust schmerzhaft ist.
    Weltanschauungskriege sind Vernichtungskriege. Sind RAF-Prozesse Weltanschauungskriege?
    Die Feindbildlogik ist die Sünde der Welt (Joh 129): der die Logik der Welt und ihre Herrschaft über die Dinge konstituierende Akt.
    Die Geschichte des Zuschauers (des Publikums, der Öffentlichkeit) reicht von der Trägödie (und dem Ursprung der Philosophie) über die Circenses (die das Zuschauen unter den Bedingungen des Imperium Romanum eingeübt haben: die Neutralisierung des Schreckens durch ihre Vergesellschaftung), die Kirche (das „Meßopfer“ und die Predigt), sowie die öffentlichen Hinrichtungen bis hin zur Prozeßöffentlichkeit (und der Chance, in ihr das entfaltete Gesetz und die innere Logik der Öffentlichkeit selber zu erfahren). Welche Bedeutung und Funktion hat die Logik der Schrift (die Seele des Drachens) in dieser Geschichte der Öffentlichkeit?
    Ließe nicht anhand der Geschichte des Zuschauers (des Publikums, der Öffentlichkeit) eine Geschichte des Sehens sich entwickeln (die mit dem Satz beginnt: Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren), oder auch eine Geschichte der „Außenwelt“, ihrer Verhärtung, die auch die Herzen ergreift?

  • 4.11.1996

    Zur Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins gehört das Bild des Fahrstuhls, der aus seiner Halterung sich losgerissen hat und in den freien Fall (in den Zustand gleichförmiger Beschleunigung) übergegangen ist. Die Bewegung dieses Fahrstuhls ist in seinem Innern, wenn der Blick nach draußen versperrt ist, nicht mehr wahrnehmbar. Sie ist allein daran zu erkennen, daß nur die reinen Trägheitsgesetze herrschen, während die Schwere aufgehoben zu sein scheint. Dieses Bild läßt sich ins Gesellschaftliche übersetzen, wenn man den Begriff der Schwere durch den der Schulderfahrung ersetzt und zugleich Ursache und Wirkung austauscht: Der Versuch, eine Gesellschaft zu konstruieren, in der es gelingt, die Schulderfahrung und ihre Reflexion (die mit der Fähigkeit, in den andern sich hineinzuversetzen, logisch verknüpft ist) endgültig auszuschließen, wird auf ein Modell hinauslaufen, das dem des fallenden Fahrstuhls aufs Haar gleicht. Nur: Diese Welt, deren Modell eine Welt ist, die von den reinen Marktgesetzen beherrscht ist, wird eine vom Feindbilddenken verhexte Welt sein.
    Ist nicht die Sprache, und in ihr die Kraft, in einen andern sich hineinzuversetzen, die nur in der Sprache gründet, der Beweis für die Idee der Auferstehung der Toten?
    Die Bundesanwälte wie auch die Richter in den RAF-Prozessen werden sicher gut schlafen: es gelingt ihnen, auch noch die Alpträume, von denen sie eigentlich selbst heimgesucht werden müßten, auf andere zu verschieben.
    Dieser Prozeß bringt ein bis oben mit Tränen angefülltes Faß zum Überlaufen.
    Erkenntniskritische Einrede wider den „Rechtsstaat“: Schuld ist kein Gegenstand des Wissens.
    Täterstrafrecht ist Schuldrecht und ein Feindrecht, während das Strafrecht selber seiner eigenen Logik nach eigentlich nur auf Handlungen, auf Taten sich beziehen läßt (der Schuldspruch gilt der Handlung, nicht der Person). Mit der Einbeziehung des Täters ins Strafrecht wird zwangsläufig zugleich die Gemeinheit aus dem Kreis der Straftatbestände ausgeschlossen. Der Begriff und die Gestalt des Angeklagten gehört zu einem Strafrecht, das eigentlich nur auf Handlungen sich bezieht. Im Täterrecht, das auch die Gesinnung zu einem strafrechlichen Tatbestandsmerkmal macht (das apriorische Objekt des Täterrechts ist der Mörder), wird der Angeklagte tendentiell zum Feind: zu einem Objekt, das durch seine Tat sich selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hat, und für das die moralische Hemmung, die der Manifestation von Gemeinheit im Wege steht, eigentlich nicht mehr gilt. Der Antisemitismus ist eine hypertrophe Form des Täterstrafrechts.
    Eine der Interpretationen der letzten Satzes des Buchs Jona wäre, daß am Ende die Barmherzigkeit auch die Unbarmherzigen, die nicht wissen, daß sie es sind, ergreift.
    Spenglers Bemerkung, daß die Musik in der modernen Welt die Stelle einnimmt, die in der alten Welt die Statue eingenommen hat, ließe vielleicht sich so erläutern, daß die Erstarrung, die damals (in der Statue wie im Namen des Heros) die Menschen ergriffen hat, heute die Welt ergreift, und die Musik das Aufbegehren dagegen ausdrückt. Gibt es nicht heute schon eine Musik, die nur noch gegen die Wände antrommelt?
    Hat nicht der Begriff der Liebe, wie er dann (unter Ausschluß der Außenwelt und unter Verdrängung der Idee der Barmherzigkeit) in die christliche Tradition eingegangen ist, etwas von dem – mit der gleichzeitig entstandenen Bekenntnislogik verknüpften – Affekt, der die Menschen unter der Gewalt eines gemeinsamen Feindbildes aneinander bindet, ein Affekt, der heute beginnt, als Begleitaffekt der Komplizenschaft sich zu enthüllen? Steht nicht die Geschichte vom barmherzigen Samariter gegen genau diesen Affekt? Eine Liebe, die nur auf den Nächsten geht, und nicht auch auf die Ausgegrenzten und den Feind (auf die Armen und die Fremden), hat diesen Namen nicht verdient.
    Die jüngste Version der kantischen Antinomien der reinen Vernunft ist die, die im Blick auf die Nazis sich zeigt: Das, was sie getan haben, darf nicht ungesühnt bleiben, aber reproduziert sich in dem Urteil und in der Strafe, die wir über sie verhängen, nicht der Faschismus selber (wie der Raum in der Vorstellung seiner unendlichen Ausdehnung)?
    Das Bekenntnis des Namens Gottes (nicht das Bekenntnis zu Gott: der Tempel war nicht das Haus Gottes, sondern das Seines Namens) würde, wenn wir endlich begreifen, was das heißt, die subjektiven Formen der Anschauung sprengen und der Sprache die Kraft des Sehens zurückgeben. Das hat einmal in den Bildern der prophetischen Utopie sich ausgedrückt (in dem Begriff des Gotterkennens, des Geistes, der die Erde erfüllen wird, und in der Ersetzung des steinernen durch das fleischerne Herz).
    Das letzte Opfer wäre das des transzendentalen Subjekts, aber war das nicht schon in den biblischen Tieropfern eigentlich gemeint? In einer Sprache, die der erkennenden Kraft des Namens mächtig (und deren innere Triebkraft die Barmherzigkeit) wäre, bedürfte es des transzendentalen Subjekts nicht mehr.
    Der Übergang vom confiteri und von der confessio zum Bekennen und zum Bekenntnis ist der Übergang von der Ohnmachtserfahrung zur bewußten und intendierten Identifikation mit dieser Ohnmacht, die, anstatt im Symbolum den Funken der Hoffnung, im Bekenntnis nur noch ihre Rechtfertigung sucht. Hier ist die Erinnerung an die Umkehr getilgt. Der moderne Bekenntnisbegriff ist das Siegel auf den subjektiven Formen der Anschauung (das Siegel der Orthogonalität), das Gegenteil der Siegel, mit denen einer kabbalistischen Tradition zufolge die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind.
    Das Feuerwerk von Ideen, die nicht mehr zum ruhigen Licht der Sonne, die den Tag erhellt, sich zusammenschließen wollen.
    Hören und Sehen: Was haben der Hahn und der Morgenstern gemeinsam? Gibt es nicht im Sohar eine Stelle, wonach der Hahn die Dämonen der Nacht vertreibt?
    Wenn die Gebete der Heiligen in der Apokalypse im Bilde des Rauchs, der zum Himmel aufsteigt – ein angenehmer Geruch für Gott -, symbolisiert werden, verweist das nicht auf die innerste Intention des Gebets, in Gott die Kräfte der Erinnerung wachzurufen, die an den Geruch sich anschließen? Das diffamierende antisemitische Bild der jüdischen Nase diente unter anderem auch dazu, das Eingedenken mit einem wirksamen Tabu zu belegen.
    Wer nicht fähig ist, in einen anderen sich hineinzuversetzen, wird sich selbst nicht begreifen.
    Aufmerksamkeit ist einmal das „natürliche Gebet der Seele“ genannt worden. Ist Aufmerksamkeit nicht die vielfach eingeübte, dann spontan gewordene Fähigkeit, in den Andern sich hineinzuversetzen? Zur Einübung dieser Fähigkeit gehört insbesondere der Widerstand gegen Geschwätz und Gerücht.
    Auch die Erkenntnis der Dinge ist durch die Reflexion des Andern, durch die Fähigkeit, in andere sich hineinzuversetzen, vermittelt. Deshalb ist der der Wissenschaft zugrundeliegende Erkenntnisbegriff, der an der intentio recta sich orientiert, reflexionsbedürftig. Die subjektiven Formen der Anschauung sind das bloße Alibi für diese intentio recta, ein Intrument der Verhinderung der Reflexion.
    Gott ist niemals Objekt, und die theologische Bedeutung des Gottesnamens liegt darin, daß er daran erinnert, daß Gotteserkenntnis des Mediums der Sprachreflexion bedarf.

  • 3.11.1996

    Wie hängt das Problem des apagogischen Beweises mit der Logik der Instrumentalisierung (des „Seitenblicks“ und der Fähigkeit, rechts und links zu unterscheiden) zusammen? Gründen die Probleme, in deren Zusammenhang für Kant der apagogische Beweis zum Problem wird, in der doppelten Instrumentalisierung (der Instrumentalisierung der instrumentalisierenden Gewalt durch die subjektiven Formen der Anschauung), und hängen sie nicht mit der Konstituierung der drei Totalitätsbegriffe (der Begriffe des Wissens, der Natur und der Welt, die in der kantischen Vernunftkritik erstmals rein hervortreten), mit deren Hilfe sie gegen die Reflexion sich abschirmen, zusammen? Und ist nicht die Reversibilität aller Richtungen im Raum (derzufolge jede Richtung in die gleiche schlechte Unendlichkeit, ins gleiche nihil, führt) das Modell, an dem der apagogische Beweis (und durch ihn hindurch der Hegelsche Begriff der Dialektik) sich orientiert? – In diesem Zusammenhang gewinnt die kantische innere Differenzierung des nihil, des Begriffs des Nichts (in der Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe, Kr.d.r.V., Insel-Ausgabe, S. 267ff), eine hochsignifikante Bedeutung.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum erzeugt den Schein der Gleichheit von Anklage und Verteidigung im Rechtsstreit und verdrängt das Herrschaftsmoment, an das der deutsche Titel Staatsanwalt so deutlich erinnert, und das in Staatsschutzprozessen zu der Situation führt, die Birgit Hogefeld mit dem Satz „die Bank gewinnt immer“ aufs genaueste bezeichnet hat. Aber wird dieser Schein nicht schon durch die Beziehung des Begriffs zum Objekt, in der die herrschaftsmetaphorische Zuordnung von Oben und Unten eindeutig festgelegt ist, widerlegt, während doch zugleich der Materialismus oder das Postulat vom Vorrang des Objekts von der Hoffnung lebt, daß die Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert? Und ist nicht das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum (und damit die subjektive Form der äußeren Anschauung selber, die darin sich ausdrückt) der Grund, aus dem die Feindbildlogik hervorgeht, und das Konstrukt, in dem sie zugleich sich vollendet, sowie die Verkörperung der logischen Struktur, die die Herrschaftsbeziehung von Begriff und Objekt begründet und sie zugleich verstellt, als Herrschaftsbeziehung unkenntlich macht? Löst sich nicht in dieser Konstellation das Problem der kantischen Antinomien und des apagogischen Beweises, damit aber das Problem der Beweislogik überhaupt? Diesen Knoten aufzulösen wäre eine der Hauptaufgaben der Philosphie, die dann aber sich nicht wundern darf, wenn sie in der Theologie sich wiederfindet.
    Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum leugnet den Tod und macht ihn irreversibel zugleich (darin gründet die Logik der Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit). Schließt nicht die Idee der Unsterblichkeit der Seele, die in diesem Prinzip gründet, die Vorstellung mit ein, daß sie für die Toten nicht gilt, und liegt nicht ihr Haupteffekt in der Leugnung der Idee der Auferstehung, die sie nach außen zugleich dementiert? Hier liegt die fast unüberwindbare Hemmung, die der Lösung des Problems der Raumvorstellung sich entgegenstemmt. Das Prinzip der Reversibilität aller Richtungen im Raum ist der fast nicht mehr aufzuhebende Grund der Irreversibilität der Zeit, und die Außengrenze, die der Raum für mich definiert, ist eine Grenze zur Vergangenheit, die nur ich nie überschreiten werde, während alle andern sie bereits überschritten haben, für mich schon tot sind (sic, B.H.). In dieser Konstellation gründet das Problem des apagogischen Beweises und seine Lösung (vgl. hierzu die kabbalistische Tradition, daß die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, auch die Gestalt der Maria Magdalena und die Geschichte von ihrer Befreiung von den sieben unreinen Geistern).
    Das Canettische Bild vom Sieger, der als letzter Überlebender auf einem Riesenleichenberg steht, ist das genaueste Symbol der Logik der subjektiven Formen der Anschauung. Die Form der äußeren Anschauung ratifiziert an den Dingen, was in der Form der inneren Anschauung, in der Vorstellung des Zeitkontinuums, vorgebildet ist: die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit, die Konstituierung des Totenreichs, über das der Anschauende starr, sprach- und empfindungslos als einziger sich erhebt. Durch die Subsumtion der gesamten Zukunft unter die Vergangenheit (die den Begriff des Wissens begründet) mache ich mich selbst zum Sieger, der alle überlebt; und das ist die der Idee der Unsterblichkeit der Seele zugrunde liegende Vorstellung, die als eine ihrer Konstituentien den Widerspruch gegen die Idee der Auferstehung der Toten in sich enthält. Heideggers Hinweis, daß wir den Tod nur als den Tod der anderen erfahren, nie als den eigenen, gründet in dieser Logik, deren Bann allein durch den Levinas’schen Hinweis auf die Asymmetrie, die den Anderen als Medium der Selbsterkenntnis ins Blickfeld rückt, sich auflösen läßt.
    Die subjektiven Formen der Anschauung, in denen die richtende Gewalt, die sie für die gesamte Objektwelt repräsentieren, zugleich gegen das richtende Subjekt sich erstreckt, sind der Beweis des Satzes „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“.
    Die subjektiven Formen der Anschauung sind der blinde Fleck in der Ursprungs-, Entfaltugns- und Durchsetzungegeschichte der Marktgesetze.
    Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten, daß sie nackt waren: Der richtende Blick erfährt sich selbst im richtenden Blick des Andern, und d.h. als nackt.
    Gehört nicht zu dieser Problem-Konstellation aus Logik der Gemeinheit, Beweislogik, Feindbildlogik auch das der Beziehung des Rechts zum Staat, daß insbesondere ein Recht, das sich zum Organ des Staates macht, indem es die Selbstreflexion des Staates, in dessen Logik seine eigene Ursprungsgeschichte beschlossen ist, grundsätzlich ausschließt, damit die Idee der Gerechtigkeit selber tangiert? Die Instrumentalisierung des Rechts, die im Hogefeld-Prozeß am gesamten Beweisverfahren, insbesondere aber an der (Nicht-)Behandlung des Gesamtkomplexes Bad Kleinen sich demonstrieren läßt, läßt keine andere Wahl.
    Wenn die RAF zum Symbol für das grundsätzliche und generelle Verbot, in den Angeklagten sich hineinzuversetzen und damit die Selbstreflexion des Staates in den Prozeß der Urteilsfindung mit hereinzunehmen, wird, dann kann sie nur noch unter der Bedingung zum Objekt des Rechts gemacht werden, daß das Recht auf die Idee der Gerechtigkeit keine Rücksicht mehr nehmen darf, daß es aus dem Bereich, in dem Gerechtigkeit allein möglich wäre, sich verabschiedet. Wenn das Recht, wie im Bereich der „Staatsschutz-Verfahren“, dem Staatsinteresse sich unterordnet (wenn der „Staatsanwalt“ nicht mehr Partei ist, sondern Herr des Verfahrens wird), dann wird es zu einem reinen Machtinstrument, und das ist in RAF-Verfahren geradezu sinnlich wahrnehmbar. Die besonderen Haftbedingungen derer, die Objekte solcher Verfahren sind, – und zu diesen Haftbedingungen gehören nicht nur die physischen Haftbedingungen, die Isolationshaft und die rigorose Einschränkung aller Beziehungen zur Außenwelt, zu Angehörigen und Freunden, sondern auch die damit zusammenhängenden Einschränkungen der Möglichkeiten der Verteidigung und der Verteidigerrechte (Beispiele: der vorenthaltene Text einer Rede Carlchristian von Braunmühls – Begründung: sie sei nicht wegen des Mordes an von Braunmühl angeklagt, der Zusammenhang mit der Anklage wegen Mitglieschaft in der RAF, der in anderem Zusammenhang als Beweismittel mit verwandt wurde, wurde schlicht verdrängt; dazu gehört die Ausgrenzung des Gesamtkomplesxes Bad Kleinen, die Ablehnung unabhängiger Gutachter sowie die – durch den Tenor des Senatsbeschlusses offen diskriminierende und beleidigende – Ablehnung des Antrags eines katholischen Pfarrers auf Genehmigung eines von der Angeklagten gewünschten seelsorglichen Gesprächs; zum Gesamteindruck dieses Prozesses gehört es, daß alles, was nicht in die vorprogrammierte Beweisführung <in das Verfahren der Konstruktion eines synthetischen Urteils apriori> hineinpaßte und zur Entlastung der Angeklagten hätte beitragen können, rigoros ausgegrenzt wurde; der geradezu wütende Verurteilungswille beherrschte den ganzen Verlauf des Verfahrens). Auch wenn vor dem endgültigen, rechtskräftigen Urteil grundsätzlich die generelle Unschuldsvermutung gilt, die realen Folgen, die der Verdacht für den Angeklagten hat, haben die massive und irreversible Qualität einer Vorverurteilung und einer präventiven, das offenbar schon feststehende Urteil vorwegnehmenden Strafe.
    Wie es scheint, waren für die Ablehnung von Anträge der Verteigung drei Gesichtspunkte maßgebend:
    – der ungestörte Ablauf der vorprogrammierten Beweisführung,
    – die Ausgrenzung jeder Reflexion des Selbstverständnisses der Angeklagten und
    – die Eingrenzung des Verfahrens auf das einen reinen Kriminalprozesses.
    Im Hogefeld-Prozeß, in dem jedem, der die Dinge verfolgt hatte, klar war, daß ernsthafte Störungen des Prozesses nicht zu erwarten waren, liefen die Begleitumstände gleichwohl nach den üblichen, ebenso massiven wie diskriminierenden Methoden ab, vom Transport der Gefangenen mit Blaulicht und Martinshorn bis zu den Eingangskontrollen der ProzeßbesucherInnen. Und das nicht nur aufgrund der behördenüblichen Trägheitsgesetze, sondern, wie vermutet werden darf, auch wegen der durchaus beabsichtigten Öffentlichkeitswirkung dieser Verfahrensweisen. Das hat zur Stabilisierung des Klimas beigetragen, in dem dieser Prozeß und sein Verlauf allein möglich war.
    RAF-Prozesse dienen nur noch der Herrschaftssicherung; dazu braucht man zwar Angeklagte, die aber sollten tunlichst nicht durch Reflexion den Zweck des Verfahrens, in dem sie nur Geisel sind, stören. Hier geht es um Wichtigeres: Hier werden Instrumente auf ihre Brauchbarkeit getestet, die eines Tages auch zur Erledigung anderer Aufgaben, die man offensichtlich auf sich zukommen sieht, brauchen wird; dann nämlich, wenn das Umverteilungsprojekt auf die Hilfe der Justiz angewiesen sein wird.
    Nach Hegel ist die bürgerliche Gesellschaft bei all ihrem Reichtum nicht reich genug, der Armut und der Entstehung des Pöbels zu steuern. Nachdem der Westen bisher die Armut in die Dritte Welt hat exportieren können, scheint dieser Markt jetzt gesättigt, und der Reimport der Armut, der mit der weltweiten Ausdehnung der Marktgesetze, dem Zerfall und der Verrottung der politischen (staatlichen) Souveränität, der fortschreitenden Ersetzung politischer Entscheidungskräfte durch Verwaltungseinrichtungen einhergeht, beginnt. War es bisher notwendig, den Reichtum mit dem militärischen Droh- und Vernichtungspotential nach außen zu schützen, wird es möglicherweise schon bald sich als notwendig erweisen, ihn gegen die fehlende Einsichtsfähigkeit der eigenen Bevölkerungen auch nach innen zu verteidigen. Hierzu bedarf es anderer Einrichtungen, deren Brauchbarkeit und Effizienz bisher vor allem in den Auseinandersetzungen um wirtschaftliche und militärische Großprojekte, die gegen den Willen der betroffenen Bevölkerungen durchgesetzt werden mußten, aber auch in der Terrorismus-Bekämpfung, in der die RAF als nützliches Testobjekt sich erwiesen hat, erprobt werden konnten. Jetzt gibt es ein erprobtes und schlagkräftiges Instrument, das man sich durch eine Angeklagte, auch wenn man ihr die Taten, deretwegen sie verurteilt werden soll, partout nicht nachweisen kann, nicht kaputtmachen läßt. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
    Zur Ersetzung der Regierung durch Verwaltung, die mit dem ökonomischen Privatisierungsprojekt (mit der Ersetzung nationalökonomischer Prinzipien und Kriterien durch betriebwirtschaftliche) zusammengeht, gehört auch ein Strukturwandel in der Justiz, der dahin tendiert, dem Verwaltungsrecht, das ein Subsumtionsrecht, ein Recht des bestimmenden, nicht des reflektierenden Urteils ist, sich anzugleichen. Es ist dieses Subsumtionsrecht, für das dort, wo das gerechte Urteilen sich hineinzuversetzen hätte, nichts mehr ist. Hier ist der Staatsschutz ein Vorreiter, der das Selbstverständnis des Angeklagten vom Grunde her ausgrenzen zu müssen glaubt, mit der Folge, daß diese Prozesse unter dem Zwang, als reine Kriminalprozesse geführt zu werden, zu politischen Prozessen werden: Sie sind Teil eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses, der in der Ökonomie wie in der Politik selber auf eine fortschreitende Entpolitisierung, auf eine schleichende Erosion der politischen Logik hinausläuft, auf ein Ausblenden dessen, was als Reflexionsfähigkeit einmal als Grundlage der politischen Freiheit begriffen worden ist.
    Das Faszinierende am Hogefeld-Prozeß war die Wahrnehmung, daß es hier der Angeklagten erstmals gelungen ist, durch eine Reflexion, die auch das Verfahren mit einbezog, aus dem Bann der Logik, die dieses Verfahren beherrscht, auszubrechen, ihn für sich selber zu brechen. Daß dieser Akt auf Seiten des Gerichts nur Abwehrmechanismen wachruft, war zu erwarten, und es ist zu befürchten, daß das auch aufs Urteil sich auswirken wird. Aber könnte es nicht sein, daß dieses Gericht genau dadurch, daß es die Dehnbarkeit der Grenzen des Rechststaats nicht mehr einzuschätzen vermag, den Bogen überspannt, damit aber diesen ganzen Bereich in ein Licht rückt, in dem er nackt dastehen wird, in dem erstmals erkennbar wird, was hier passiert?
    Die RAF hat bisher auf die Probleme, vor die sie sich gestellt sah, nur mechanisch reagiert. So hat sie, ohne es zu wissen oder gar zu wollen, ihrem Widersacher in Hände gearbeitet. Grund war die Feindbildlogik, in deren Netze sie seit ihren Anfängen sich verstrickt hat. Diese Feindbildlogik ist Teil einer Logik, in deren Herrschaftsbereich – nach einer wie ein Blitz einschlagenden Formulierung Birgit Hogefelds – die Bank immer gewinnt. Es wäre nicht nur im ureigensten Interesse der RAF, wenn sie endlich die Reflexionsfähigkeit gewinnen würde, deren erstaunliche Anfänge hier, bei Birgit Hogefeld, wahrzunehmen sind.
    Diese Reflexionsfähigkeit ist im Falle Birgit Hogefelds der Beweis, daß das Urteil, wie es auch ausfallen wird, nur ein Fehlurteil sein kann, daß nicht sein Objekt, das vom Urteil nicht getroffen wird, verurteilt wird, sondern das Gericht, das – wie so viele in diesem Lande – nur seine ihm von den Verhältnissen auferlegte Pflicht tut, dabei aber nicht mehr weiß was es tut, mit diesem Urteil sich selbst verurteilt. Nur wenn es selber reflexionsfähig gewesen wäre, hätte dieses Gericht sich selber durch das einzig gerechte Urteil, das möglich war, freisprechen können.
    Hegels Philosophie beschreibt nicht nur die Stationen auf dem Wege des Weltgeistes, sondern auch das Ende des Weges, an dem der Weltgeist sein Ziel erreicht hat. Was danach kam, läßt sich eigentlich nur noch unter dem Stichwort des Endes des Weltgeistes, seiner Selbstzerstörung, beschreiben. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der Geschichte, die das Weltgericht ist, das hiernach nicht mehr über die Geschichte, sondern erstmals über den Richtenden selber ergeht. Das Ende des Weltgeistes ist das Ende der richtenden Gewalt, die er verkörpert.
    Wer Billardkugeln, die Objekte der Mikrophysik und die Sternenwelt unter ein gemeinsames Gesetz bringt, ist ein Agent Beelzebubs, dessen Reich nur besteht, wenn es nicht mit sich selbst uneins ist. Die Angst vor dem Zerfall der Identität ist die Angst Beelzebus, des Herrn der Fliegen, eine Angst, die zu den Konstituentien des Insektenstaats gehört. Die Einheit des gemeinsamen Gesetzes, das die drei Sphären mit einander verbindet, wäre auf zwei Wegen zu sprengen: durch die Reflexion des Falls und durch die Reflexion des Feuers. Die Ansätze hierzu liegen vor in den beiden Relativitätstheorien Einsteins, in dem Theorem der Identität von träger und schwerer Masse und im Prinzip der Konstanz der Lichgeschwindigkeit. Aber werden die Probleme, die den beiden Reflexionen zugrundeliegen, durch sie zu lösen wären, nicht aufs merkwürdigste rerpäsentiert durch die beiden Seiten, die in den RAF-Prozessen sich gegenüberstehen: durch die Seite der Anklage und des Gerichts, und durch die der Angeklagten und RAF?
    Der Fortschritt gegenüber den Hexenprozessen, mit dem RAF-Prozesse sich durchaus vergleichen lassen, scheint mir, liegt darin, daß die Beziehung sich umgekehrt hat: In den Hexenprozessen bezeichnet der Fall (der Sturz in den Fundamentalismus) den Ausgangspunkt und das Brennen (die Scheiterhaufen) die Folge, RAF-Prozesse spielen mit dem Feuer und eröffnen in ihm den Abgrund, in den sie selber dann hineinstürzen. Das Feuer, in dem das Gericht glaubt, die Angeklagten verbrennen zu können, bevor es sie verurteilt, wird es selbst ergreifen, wenn die Urteile zu Fehlurteilen werden.
    Die erste und die zentrale Manifestation des Feuers, in dem „die Welt untergehen“ wird, war der Antisemitismus. Auch die Juden sind in Deutschland unter der Herrschaft der Judengesetze schon verbrannt worden, bevor man sie dem Abgrund überantwortet hat, dessen Verkörperung Deutschland war.
    Der Urknall steht am Anfang, das schwarze Loch am Ende: Die Realsymbolik dieser Begriffe wird erkennbar, wenn man sie auf die Selbstzerstörung der Moral durchs Urteil bezieht (der verdorrte Feigenbaum).
    Ist nicht der Antisemitismus „genial“ in dem Sinne, in dem Kant diesen Begriff definiert, nämlich als das Handeln der Natur im Subjekt? Wer das begreift, weiß, worauf Adornos Konzept des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ abzielte: durchs Eingedenken den Naturzwang zu brechen. Adorno meinte nicht das Mitleid mit den Tieren, das Habermas im Sinn zu haben schien, als er das Wort Adornos abänderte ins „Eingedenken der gequälten Natur im Subjekt“.
    Hat die kantische Unterscheidung von bestimmendem und reflektierendem Urteil nicht etwas mit der von Wasser und Feuer (oder auch mit der Beziehung des Was zum Wer) im Namen des Himmels zu tun? Und verweist nicht das bestimmende Urteil, auf das die transzendentale Logik sich bezieht, auf die Sintflut, die die Welt überschwemmt hat, das reflektierende Urteil, die Manifestation der Urteilskraft, hingegen auf das reinigende und verwandelnde Feuer, in dem die Welt am Ende vergehen wird?
    Wer den Versuch einer physiognomischen Beschreibung der Vertreter der Anklage und der Mitglieder des Senats unternehmen wollte, hätte mit Sicherheit einige Beleidigungsprozesse zu erwarten.
    Das Zeichen des Jona: Kann es sein, daß die Flucht des Jona nach Tarschisch in der Angst vor den Folgen seines prophetischen Auftrags begründet ist, und ist nicht die ganze Geschichte des Christentums die Geschichte dieser Flucht?
    Grundwerte und Prinzipien: Rückt nicht der Verfassungspatriotismus die Verfassung selber in die Logik des Feindbilddenkens (in die Bekenntnislogik, deren Symbol der Feigenbaum ist, der nur noch Blätter, keine Früchte mehr hervorbringt und am Ende verdorrt)?

  • 2.11.1996

    „Ich allein bin entronnen …“: Dieser Refrain der „Hiobsbotschaften“ (vgl. Ebach, Hiob, S. 20ff) gilt nicht nur fürs Erzählen (wozu auch an Primo Levi und Jean Amery zu erinnern wäre), sondern auch für die Philosophie: Ohne dieses Motiv sind die Minima Moralia und die Dialektik der Aufklärung nicht zu verstehen. Und Metz Wort, daß man nach Auschwitz nicht mehr Theologie treiben könne, als habe es Auschwitz nicht gegeben, ist ein bis heute uneingelöstes Programm.
    Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand: Gemeinheit ist präventive Rache (und deshalb ein spezielles Polizei- und Knastdelikt). Strafe aber wird zur Rache, wenn der, über den sie verhängt wird, keine Chance hat, in ihr sich wiederzuerkennen.
    Die Vorstellung, es könne, wenn alle nett zueinander wären, eine harmonische, konfliktfreie Welt geben, wurzelt in der Privatsphäre, wo sie auch schon illusionär ist. Sie wird zu einer Quelle der Gewalt, wenn sie übergangslos auf die Politik angewandt wird.
    In reflektierenden Urteil hat das „ist“ keine feststellende Funktion; reflektierende Urteile sind nicht ontologisch, sie sind keine verurteilenden Urteile: Sie widerstehen dem Tod und leben von der Weigerung, seiner Gewalt sich zu unterwerfen. Nur zu Heideggers Fundamentalontologie gehört das „Vorlaufen in den Tod“.
    Ist eigentlich an dem Eindruck etwas dran, daß irgendwann bei Ebach wie auch bei Metz etwas umgekippt ist? Und vorher schon und geradezu paradigmatisch bei Habermas: Führt nicht die Habermas’sche Kommunikationstheorie, zu der sein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ eine Vorstufe war, in den Insektenstaat hinein, in dem Kritik zum folgenlosen Raisonnement wird, das an den versteinerten Verhältnissen abprallt?
    Wenn Weizsäckers Begriff der Philosophie (zusammen mit den Konstruktionen der Kopenhagener Schule in der Physik, aus denen sie hervorgegangen ist) aus der Verdrängung der speziellen Relativitätstheorie sich herleiten läßt, dann der Habermas’sche aus der Verdrängung des Allgemeinen Relativitätsprinzips.
    Ein Beitrag zur Reflexion der Gravitationstheorie: Der vom Objektivierungsprozeß untrennbare Prozeß der Subjektivierung (zunächst der sinnlichen Erfahrung, dann der Kritik und am Ende der Schuld) wird irreversibel, wenn die Kritik des Naturbegriffs aus der Philosophie ausgeschieden wird; jetzt gibt es kein Halten mehr: Dieser Prozeß geht (ähnlich wie die Idee des Rechststaats in den Staatsschutzprozessen) über in den freien Fall, dessen Bahn vorgezeichnet ist durch das Gravitationsfeld der Rechtfertigungszwänge, die mit der Subjektivierung der Schuldgefühle, mit dem Schwinden der Kräfte der Schuldreflexion, unüberwindlich werden.
    In den Staatsschutzprozessen gegen die RAF setzen Anklage und richtender Senat dadurch, daß sie die Identifikation mit den Angeklagten grundsätzlich ausschließen und verwerfen, sich selbst dem Rechtfertigungszwang aus, dem Zwang, das Prinzip „in dubio pro reo“ nur noch auf sich selbst statt auf die Angeklagten anzuwenden. Die Logik dieser Bewegung ist die des freien, von keinen moralischen Hemmungen mehr behinderten Falls. Wenn das Urteil, das am Ende herauskommt, nur noch ein Instrument der Selbstverteidigung der Ankläger und der Richter ist, wenn es den Angeklagten nur noch physisch trifft, wie der Hammer den Nagel, nämlich auf den Kopf, dann gibt’s für den Rechtsstaat keinen Halt mehr.
    Das Urteil, das hier herauskommen wird, ist noch auf eine ganz andere Weise ein Symptom der bewußten und gewollten Reflexionsunfähigkeit dieses Gerichts, das sich zum Hilfsorgan der Bundesanwaltschaft hat machen lassen: Der Satz, daß Gemeinheit kein strafrechtlicher Tatbestand, das sie juristisch nicht zu fassen ist, gewinnt seine volle Bedeutung erst im Zusammenhang mit der weiteren Bemerkung, daß es im Ernstfall diese Gemeinheit ist, die die Grenzen des Rechtsstaats definiert, indem sie sie elastisch macht. Die Aufforderung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidts, „bis an die Grenzen des Rechtsstaats zu gehen“, der man nur zugute halten kann, daß sie von einem Nichtjuristen kam, war eigentlich die Aufforderung, diese Grenzen wenn nicht zu überschreiten, so doch bis Grenze ihrer Belastbarkeit auszudehnen (diese Belastbarkeit des Rechtsstaats ist in den letzten RAF-Prozessen, insbesondere aber im Hogefeld-Prozeß, der einige besondere Anforderungen an dieses Testverfahren gestellt hat, einem Materialtest unterworfen worden: Es waren Versuche, auszutesten, wie weit man gehen kann). Dem entsprach die Prozeßführung im Hogefeld-Prozeß, die Birgit Hogefeld in ihrer Schlußerklärung durchaus zutreffend beschrieben hat. Dieser Prozeß war kein Angriff mehr auf den Rechtsstaat, in diesem Prozeß hat der Rechtsstaat Harakiri begangen.
    Wird man nicht in dem gleichen Maße, in dem man dabei ist, den Sozialstaat abzubauen, die Instrumentarien der Verbrechensbekämpfung und der Vorurteilsproduktion ausweiten müssen? Und wird dieser „Rechtsstaat“ dann nicht fürchterlich sein?
    Während die Reflexionsunfähigkeit auf Seiten der RAF bisher darauf hinauslief, durch blindes Reagieren auf das Unverständliche der Prozesse deren Irrationalität für die Öffentlichkeit zu rechtfertigen, hat im Falle des Hogefeld-Prozesses die Reflexionsfähigkeit der Angeklagten das Gericht gleichsam auf dem linken Bein erwischt; Anklage und Senat waren hierauf nicht vorbereitet und haben stellenweise geradezu hilflos darauf reagiert. Nur, die Öffentlichkeit hat’s unterm dem Bann des Tabus „RAF-Prozeß“, des Trägheitsgesetzes der eigenen Vorurteile, nicht bemerkt.
    Wenn der Bundesanwalt, ohne daß der Senat dazu etwas sagt, in seiner letzten Erklärung der Angeklagten noch einmal das Kronzeugenangebot unterbreitet hat, dann wird man davon ausgehen müssen, daß er dieses Angebot im Einvernehmen mit dem Senat gemacht hat. Und man wird schließlich davon ausgehen müssen, daß die Weigerung der Angeklagten, auf dieses Angebot einzugehen, in die Urteilsfindung mit eingehen wird: Das Urteil, nachdem es als Instrument der Erpressung nicht brauchbar war, wird zu einem Instrument der Rache.
    In den RAF-Prozessen ist der Rechtsstaat zu einem Produkt der Verstaatlichung des gesunden Volksempfindens gemacht worden. Hat nicht der Staat selber in der Geschichte seiner Auseinandersetzung mit der RAF durch eine Reihe von Spezialgesetzen die Instrumente der Reflexionsverweigerung, die der Begriff des „gesunden Volksempfindens“ einmal bezeichnete, so geschmiedet, daß sie beginnen, wirksam zu werden? – Das wäre eines der Themen, die dem Titel „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wirklich angemessen wären.
    Die Gemeinheit produziert selber die Blenden, die sie davor schützen, gesehen, wahrgenommen zu werden.
    Im Gegensatz zur den Vertretern der Bundesanwaltschaft, die wissen, was sie tun, ist der Vertreter der Nebenklage nur dumm; er ist nur ein apokalyptischer Wadenbeißer.
    Das beweislogische Problem, das dem Satz „Gemeinheit ist kein strafrechtlicher Tatbestand“ zugrundeliegt, weist zurück auf den gleichen Sachverhalt, aus dem auch die Feindbildlogik sich herleitet: Jeder Satz läßt sich sowohl inhaltlich verstehen als auch danach abhören, welcher Zweck damit erreicht werden soll. Die Feindbildlogik, die die Sprache vom Verstehen trennt (das dialogische, kommunikative Element aus ihr entfernt), sie auf ihre instrumentalisierte Form reduziert, ist gleichsam die transzendentale Ästhetik zu einer transzendentalen Logik, die auch in der Justiz synthetische Urteile apriori möglich macht, indem sie die Paranoia instrumentalisiert; das Modell und der genaueste Ausdruck dieser Instrumentalisierung, gleicham ihre naturwüchsige Variante, ist der Antisemitismus.
    Die Unfähigkeit, das Selbstverständnis des Angeklagten in die Beweiserhebung mit hereinzunehmen, macht den Angeklagten zum Objekt (was in diesem Kontext heißt: zum Feind) im strengen transzendentallogischen Sinne. In den bisherigen Prozessen hat dieses Verfahren im Verhalten der Angeklagten aus der RAF, die dieser Rolle aufgrund ihres eigenen, von der gleichen Feindbildlogik determinierten Selbstverständnis allzu willig sich überließen, seine „objektive“ Begründung gefunden. Das Verhalten der Angeklagten paßte zur Verhandlungsführung wie das Verhalten von Billardkugeln zu den Gleichungen der Mechanik, die es erklären, nur daß es hier keine Billardkugeln waren, sondern Menschen, die, weil sie nicht als Menschen wahrgenommen wurden, sich wie Objekte verhielten. Es gab gleichsam eine prästabilisierte Harmonie zwischen Prozeßführung und Angeklagten, die ihren Grund in einer beiden Seiten gemeinsamen Logik hatte, einen Feindbild-Clinch, dem keine Seite sich zu entziehen vermochte, weil keiner die Gewalt der Logik, die sie aneinander fesselte, durchschaute. Hierbei stand von vornherein fest, wer gewinnen und wer das Opfer sein würde.
    Was man der RAF politisch vorwerfen kann und muß, ist, daß sie zu den Kräften gehört, die die Gesetze und die Beschleunigungsmechanismen, deren Opfer sie dann selber geworden ist, mit hervorgerufen hat.
    Der Hogefeld-Prozeß unterscheidet sich von allen bisherigen Prozessen eigentlich nur durch das Verhalten der Angeklagten (und durch das ihrer VerteigerInnen), die erstmals versucht, der Objektrolle sich zu entziehen, den Kopf oben zu behalten, indem sie über beides, die Geschichte und das Selbstverständnis der RAF, aber auch die Mechanik der Prozeßführung und des Prozeßverlaufs, durch Reflexion sich Rechenschaft zu geben versucht. Ihre Erklärungen sprechen eine ebenso deutliche wie mutige Sprache. BAW und Gericht haben sich davon nicht beirren lassen, sie führen ihren Krieg weiter gegen einen „Feind“, von dem sie nicht wahrhaben wollen, daß er keiner ist. Sie scheinen die Reflexionskraft der Angeklagten als eine besonders infame Angriffswaffe zu erfahren, die sie zu besonders harten Abwehrmaßnahmen zwingt (die Erklärungen der Angeklagten mußten in pure Heuchelei umdefiniert werden; ein Pfarrer, der auf Wunsch der Angeklagten um Genehmigung eines seelsorglichen Gesprächs gebeten hatte, wurde per Senatsbeschluß zu einem, „der sich selbst als Pfarrer bezeichnet“, in Wahrheit aber nicht nur Sympathisant, sondern Unterstützer der RAF ist). Und es ist zu befürchten, daß das Urteil danach ausfallen wird.
    Kann es sein, daß Birgit Hogefeld dafür jetzt wird büßen müssen, daß sie versucht hat, den Bann durch Reflexion aufzulösen, unter dem beide Seiten stehen? Dieses Gericht erträgt es nicht, daß ausgerechnet die Angeklagte das zu benennen versucht, was es (das Gericht) hier tut. Wenn die „Belastungen“, denen ein Gericht, das zum Instrument der Rache sich machen läßt, ausgesetzt ist, ohnehin schon so groß sind, dann sollen sie nicht auch noch durch Schuldgefühle vermehrt und verstärkt werden. Das logische Gesetz der Rache, einmal enthemmt, ist nicht mehr aufzuhalten.
    Parvus error in principio magnus est in fine: Ist nicht der Ursprung der Zivilisation mit dem Ursprung von Mechanismen erkauft, die inzwischen in der Lage sind, diese Zivilisation in den Abgrund zu befördern?
    Wer den Antisemitismus durch den Begriff des Rassismus zu einer Weltanschauung macht, verharmlost ihn nicht nur, er bestätigt ihn damit zugleich. Er trägt zu seinem Überleben bei, indem er ihm die Würde einer logischen Konsistenz verleiht, die er nicht hat. Der Antisemitismus ist der reinste Ausdruck eines in Aggression und Vernichtungsdrang umschlagenden Rechtfertigungszwangs (und damit dann ein machtpolitisches Instrument zur Enthemmung und Entfesselung dieser Aggression und dieses Vernichtungstriebs). Er enthält kein „theoretisches“ Element, das ihn auf der Theorie-Ebene kritikfähig machen könnte, er ist nur durch Reflexion aufzulösen.
    Elefantengedächtnis: Wer Erinnerungen, die ihm unangenehm sind, verdrängt hat, hat dafür andere Dinge, die er nie vergessen wird.

  • 31.10.1996

    Doppelbedeutung von „fit“: Hängt nicht der Kinderspruch „fit, fit, fit“, mit dem sie lernen, mit der Häme umzugehen, mit dem „Fitness-Training“ zusammen?
    Drei Funktionen der Banken, die auch (in variabler Zusammensetzung) unterschiedlichen Formen der Banken zugrundeliegen: Zentralbanken, Depositenbanken, Kreditbanken (haben sie nicht etwas mit der Beziehung von Akkusativ, Genitiv und Dativ zu tun, und mit der Zerstörung des Nomens, seiner Umwandlung zum Substantiv?).
    Betonblock: Die Finanzierungsformen der Wirtschaft, die generell über Kredite laufen (auch Aktien sind Kredite, ebenso wie die Liquiditätskredite der Banken), erzwingen das Rentabilitätsprinzip, das vom subjektiven „Gewinnstreben“ ebenso abgekoppelt ist wie (durch die Schlachthäuser) der Fleischverzehr vom Selberschlachten oder (durch die Justiz) die Strafe von der individuellen Rache. Als Rentabilitätszwang ist das Gewinnstreben zu einer Sache der Verwaltung und damit zu etwas Objektivem geworden. Der Gewinn ist nicht mehr der Gewinn dessen, der ihn „erwirtschaftet“, sondern als Zins oder Rendite (denen ihr Ursprung nicht mehr anzusehen ist) der des Kreditgebers, der „sein Geld arbeiten läßt“. Das verwandelt die Ökonomie in ein Stück Natur, die die ganze lohnabhängige Arbeit unter sich begreift, die so der Reflexion ebenso entzogen zu sein scheint wie das Objekt der Naturwissenschaften. Aber werden durch diesen Prozeß die Kritik der politischen Ökonomie und die Kritik der Naturwissenschaften nicht vom Gang der Dinge selbst in eine Beziehung gerückt, in der sie entweder beide ausgeblendet werden oder nur noch gemeinsam möglich sind?
    Die identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft der Feindbildlogik ist eine gesellschaftliche und eine logische Kraft zugleich: sie begründet auch die Subsumtionsbeziehung des Begriffs zum Objekt, in der die Feindbildlogik als Herrschaftslogik (als Instrument der Naturbeherrschung) sich materialisiert. In dem Augenblick, in dem die Urteilsfindung in einem Prozeß auf die Subsumtionslogik regrediert und die Reflexion (das Sich-Hineinversetzen in den Angeklagten) aus dem Recht ausgetrieben wird, wird der Angeklagte zum Feind und werden die Knäste zu einer sinnlichen Verkörperung des Objektbegriffs und der Subsumtionslogik.
    Max Horkheimers Satz, daß, wer vom Faschismus redet, vom Kapitalismus nicht schweigen darf, bewahrheitet sich heute auch noch darin, daß die Verdrängung der Vergangenheit in der Tat zur Grundlage des ökonomischen Handelns geworden ist.
    Es gibt keine Feindbildlogik, die sich nicht durch Berufung auf den Feind legitimiert, dadurch aber einer tendentiell paranoiden Zwangsreflexion sich unterwirft, die die freie Reflexion verhindert, indem sie ihren Gegenstand mit Hilfe eines Tabus, dessen Instrument die Empörung ist, unsichtbar macht (wie die Fixierung auf das unmoralische „Gewinnstreben“ die gesamtgesellschaftlichen Wirkungen des Rentabilitätsprinzips unsichtbar macht).
    Waren nicht Kopernikus, die Entdeckung der später kolonialisierten Welten und die Anfänge des Kapitalismus Vorankündigungen einer Explosion der Eigentumslogik, die noch bevorsteht?
    In der kantischen Transzendentalphilosophie haben die subjektiven Formen der Anschauung die Funktion, der transzendentalen Logik das apriorische Objekt bereitszustellen, das dann die Konstruktion synthetischer Urteile apriori nicht nur möglich macht, sondern erzwingt. In der Konsequenz dieser Konstruktion lieferte die transzendentale Logik nicht nur den Nachweis, daß, sondern auch die Begründung, weshalb Naturwissenschaft als Wissenschaft möglich ist, vor allem aber eine Kritik ihres Erkenntnisanspruchs. Diese Kritik ist entweder nicht zur Kenntnis genommen worden, oder aber sie war Anlaß für den wütenden Aufschrei aller Orthodoxien, von der Theologie bis zum Diamat, über den angeblichen Agnostizismus Kants. Beide, das Wegsehen wie auch die Empörung, hatten ein herrschaftslogisch determiniertes Interesse daran, die Unterscheidung der (erkennbaren) Erscheinungen von den (nicht erkennbaren) „Dingen, wie sie an sich selber sind“, die die Notwendigkeit der Reflexion begründete, nicht anzuerkennen, sie zu leugnen und mit einem Tabu zu belegen. Dieses herrschaftslogische Interesse gründet in der Beziehung der Identifizierung von Erscheinung und An sich zur identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Kraft der Feindbildlogik.
    Gründet nicht der Zwang, der in der Habermas’schen affirmativen Kommunikationstheorie und in seinem Konstrukt des „Verfassungspatriotismus“ sich manifestiert, in der Zurückweisung einer Wissenschafts- und Erkenntniskritik, die auch vor dem Naturbegriff nicht haltmacht?
    Der Knast war seit je ein Repräsentant des feindlichen Auslandes im Inland (Joseph im Gefängnis des Pharao). War er nicht in seinem Ursprung eine Privatsache, wie die Blutrache, eine Zwischenstufe zur Institution des Sklaverei, die dann vergesellschaftet worden ist in der Gestalt der Lohnarbeit, des Proletariats?
    Ist nicht der Staatsschutz eine Potenzierung des Schutzes des Privateigentums, dem nicht nur das Strafrecht, sondern eigentlich das Recht insgesamt in letzter Instanz dient?
    Ist nicht der Knast ein Zwangskloster, in dem das Armuts-, Keuschheits- und Gehorsams-Gelübde von außen auferlegt werden, und die Isolationshaft die Zwangsform des Eremitentums? Verhält sich nicht der Knast zum Mönchstum wie die Bekehrung zur Umkehr oder die Natur zur Schöpfung? Die neutralisierte Raumvorstellung ist ein Symbol der Mauern, die die Menschen im Knast von den 99 Gerechten draußen trennen.
    Zu Max Webers Kapitalismustheorie: Waren die Heroen des Kapitalismus nicht die Mönche der Mammonsreligion? Und hängt die Begriffsverschiebung, die aus der Umkehr die Buße gemacht, nicht mit dieser Geschichte zusammen?
    Unter dem Begriff des Lebens beten wir heute die Kreisläufe an, in die alles Lebendige eingebunden ist, ohne daraus sich befreien zu können. Der theologische Begriff des Lebens ist kein Naturbegriff, sondern gründet in der Idee der Auferstehung.
    Die Leibnizsche Monade ist das Symbol eines immer noch ungelösten Problems. Daß Leibniz der Ungelöstheit dieses Problems sich bewußt war, beweist seine Wahrnehmung, daß kein Blatt eines Baumes einem anderen Blatt gleicht.
    Hegels Wort, daß die Natur den Begriff nicht halten könne, ist umzukehren: Dort, wo Natur nicht nur Natur ist, sprengt sie den Begriff (es ist die Gewalt des Begriffs, die dem Befreienden die Maske des Chaotischen aufdrückt).
    Wie hält eigentlich der Vers: „Mach unser Herz von Sünden rein, damit wir würdig treten ein zum Opfer deines Sohnes“ die Erinnerung an die Greuel der Konquistadoren, der Entdeckungs- und Kolonialisierungsgeschichte insgesamt, stand?
    Käme es angesichts des Satzes aus dem Jakobusbrief von der Bekehrung des Sünders nicht darauf an, diesen Namen des Sünders aus der Gewalt des definitorischen Blicks der 99 Gerechten (aus der Gewalt der Männerphantasien) endlich zu befreien? Es sind diese Gerechten, die aus der Tatsache, daß Maria Magdalena im katholischen Heiligenkalender als „Büßerin“ geführt wird, immer nur den Schluß gezogen haben, sie müsse es aber schlimm getrieben haben. Auch das folgenlose „wir sind allzumal Sünder“ hilft darüber nicht hinweg.
    Die Feindbildlogik hängt mit der Logik der Reklame zusammen, die der Menschheit einbläut, daß man, wenn man nicht betrogen sein will, Sprache nicht mehr wörtlich nehmen darf, sondern nur noch instrumentell, indem man sie darauf hin abhört, was andere mit ihr im Schilde führen. Der Verdacht, daß einer nicht meint, was er sagt, sondern eben das meint, was er nicht sagt (daß er „durch die Blume redet“), ist eine der Quellen der Paranoia, er begründet und verstärkt das Gefühl der Bedrohung, das erst ein Feindbild rational zu machen scheint.
    Das „Liebhaben“ verwandelt das geliebte Objekt in Eigentum. Wer Feinde, anstatt sie im jesuanischen Sinne zu „lieben“, nur liebhaben möchte, will sie in Wirklichkeit einsperren.
    Rechtsstaat: Wer nicht in der Lage ist, sich in einen andern hineinzuversetzen, wer dessen Selbstverständis rigoros ausblendet, verbietet damit die Empathie und sperrt alle in die Isolationshaft ihres Egoismus und ihrer paranoiden Phantasien ein. Für sie teilt die Welt sich auf in die, die haben und zu denen man gehört, und die, die nicht haben, die man nicht mehr sieht, die ausgegrenzt werden.
    Man kann nicht Haben gegen Sein ausspielen: in dieser Welt ist nur der etwas, der was hat.

  • 27.10.1996

    Die Grenzen der Asymmetrie sind die Grenzen der Barmherzigkeit: Für die Barmherzigkeit bin ich niemals Objekt, ist der Andere (für mich) niemals Subjekt. Barmherzigkeit schließt Selbstmitleid prinzipiell aus.
    Die Welt lernt nur verstehen, wer in andere sich hineinversetzen kann: Barmherzigkeit als erkenntnisleitendes Prinzip. Unterscheidet sich das Christentum nicht dadurch von der Prophetie, daß es – außer den Armen und den Fremden – auch die Herrschenden in die Intention der Barmherzigkeit mit einschließt, allerdings im Sinne des Jakobus-Worts: des Triumphs der Barmherzigkeit über das Gericht?
    In der Schrift ist der Name des Geistes der Name der Barmherzigkeit als erkenntnisleitendes Prinzip. Zu diesem Namen gehören die drei Sätze: von der Ersetzung des steinernen durch ein fleischernes Herz, von einer Zeit, in der keiner den andern mehr belehren wird, weil alle Gott erkennen, und vom Geist, der die Erde erfüllen wird, wie die Wasser den Meeresboden bedecken.
    Die Idee der Barmherzigkeit gründet in der Idee des Ewigen und trennt sie vom Überzeitlichen. Gegen die Verwechslung des Ewigen mit dem Überzeitlichen richtet sich Levinas‘ Begriff der Asymmetrie, auch der Satz vom Rind und vom Esel.
    Zur Herauslösung von Joh 129 aus der Opferthologie und zu seiner Einbeziehung ins Nachfolgegebot gibt es keine Alternative mehr.
    Hat nicht auch die Jesaias-Stelle über den Leviatan und die Schlange etwas mit dem Neutrum zu tun? – Ist das Neutrum der Turm, der bis an den Himmel reicht, die sprachlogische Gewalt, die den Namen des Himmels (schamajim) sprengt und die Sprachen verwirrt? Gibt es nicht eine sehr merkwürdige Beziehung des deutschen Namens des Himmels zu dem des Hammers (Nietzsche hat „mit dem Hammer philosophiert“). In welcher Beziehung steht die Geschichte vom Turmbau zu Babel zur Sintflut, und hat der Bogen in den Wolken (an der Stelle, an der einmal der Menschensohn erscheinen wird) etwas mit dem Feuer im hebräischen Namen des Himmels zu tun?
    Hängt der erkenntnistheoretische Begriff des Gegebenen mit dem Dativ zusammen, verweist nicht der Ursprung beider auf die Geschichte des Staates (ist die Verwechslung von Genitiv und Dativ in der Sprachlogik der Medien nicht ein Indiz für zunehmende Privatisierung staatlicher Aufgaben, für die fortschreitende verwüstende Gewalt der Marktkräfte)? Haben Genitiv und Dativ etwas mit der Unterscheidung von Land und Meer im Sinne des § 257 der Hegelschen Grundlinien der Philosophie des Rechts zu tun?
    Was sind das für Sträucher, unter denen Adam sich versteckte, unter den Hagar sich legte, auch Elias legte sich unter einen Strauch sowie Jona; haben die etwas dem Gleichnis vom Senfkorn zu tun (sowie mit der Jotam-Fabel und dem Baum im Buch Daniel)?
    Nach dem Register zur Hegel-Ausgabe von Suhrkamp kommt der Begriff der Anklage in der Hegelschen Philosophie nicht vor. – Vgl. aber die Anmerkung zu § 225 der Rechtsphilosophie, in der Hegel auf die „Charakterisierung einer Handlung nach ihrer bestimmten verbrecherischen Qualität (ob z.B. ein Mord oder Tötung) … im englischen Rechtsverfahren“ verweist, in dem sie „der Einsicht und Willkür des Anklägers überlassen“ sei, während er sonst etwas unserer Strafprozeßordnung Vergleichbares nicht zu kennen und insbesondere die Konstellation Ankläger, Angeklagter, Verteidiger und Richter, nicht für erwähnenswert zu halten scheint (wie zu vermuten ist, aus Gründen, die mit der Konstellation, die seinem Begriff der Dialektik zugrundeliegt, zusammenhängen: nicht nur, daß diese Konstellation mit der prozessualen nicht kompatibel ist, ein Vergleich würde das Moment der Gewalt in Hegels Konstrukt kenntlich machen).
    Ist nicht der Titel Staatsanwalt das Produkt eines logischen Kurzschlusses, ein Stück verhängnisvoll automatisierter Staats- und Rechtslogik (ein systemwidriger Hegelianismus im logisch aus anderen Gründen determinierten Strafrecht)? Der Titel Staatsanwalt instrumentalisiert (und neutralisiert) beide: den öffentlichen Ankläger und den Staat.
    Zu Off 13: „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden, Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende Element, das Meer.“ (Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 247; Hervorhebungen geändert, H.H.) Vgl. hierzu Carl Schmitt: Land und Meer, Stuttgart 19933, in der er in einer Nachbemerkung von 1981 auf diese Hegel-Stelle hinweist.
    Das Lamm, das stumm zur Schlachtbank geführt wird: Liegt die Auf-sich-Nahme der Sünde der Welt nicht darin, daß er der Schmach und der Schande, die die Welt aus ihren eigenen Voraussetzungen erzeugt und deren Objekt er wurde, sich nicht widersetzt, sie widerstandslos auf sich nimmt und eben damit reflexionsfähig macht, ihrer endgültigen Instrumentalisierung die Grundlage entzog? So begründete er den Akt der Befreiung.
    Wer das Opfer instrumentalisiert, landet bei der Heldenverehrung, im Bann des Mythos. So gehört die deutsche Einrichtung der „Kriegsgräberfürsorge“ zur Logik einer Staatsmetaphysik, die immer noch versucht, dem Krieg einen höheren Sinn zu verleihen, indem sie unterstellt, daß diese Opfer nicht umsonst waren, und so die Toten nochmal schändet und verhöhnt.
    Seit wann gibt es Krieger- und Heldendenkmäler? Stammt diese Tradition nicht aus der Geschichte der „Befreiungskriege“, die nur so hießen und keine waren: Befreit wurde nur der Nationalismus als Ideologie, in deren Folge dann der christliche Antijudaismus endgültig zum Rassen-Antisemitismus geworden ist, seine eliminatorische Qualität gewonnen hat.
    Heute gibt es für die Philosophie nur noch die eine Möglichkeit: die der Selbstreflexion, des Übergangs in Prophetie.
    Der Staat wird zum Insektenstaat in dem Augenblick, in dem er glaubt, seine Aufgabe darin zu erkennen, zum Ungeziefer-Vernichtungs-Staat werden zu müssen. Oder: Es gibt kein besseres Mittel, den Staat zum Insektenstaat und Gemeinschaften zu Heuschreckenschwärmen zu machen, als wenn man ihnen die Aufgabe der Ungeziefer-Bekämpfung gibt. Das Böse konstituiert sich in der Pflicht, das Böse zu vernichten.
    Definiert nicht der Satz aus dem Jakobusbrief, daß, wer einen Sünder vom Weg des Irrtums bekehrt, seine eigene Seele rettet, die Idee der Unsterblichkeit der Seele neu (und erstmals in einem vernünftig nachvollziehbaren Sinn)?
    Wie hängt das Ahnden mit dem Ahnen zusammen? Nach dem Eingangssatz von Schellings Weltalter wird die Zukunft „geahndet“ (nicht geahnt). Hängt das Ahnden sprachlich mit Begriffen wie Gemeinde, Behörde zusammen (durch das gleiche abschließende, perfektische -de), damit aber in der Sache mit dem Logik und Bedeutung des Naturbegriffs (als es Inbegriffs aller Objekte von Urteile)? Ist die Konstituierung des Objekts (und damit des Naturbegriffs) nicht in der Tat Produkt einer Konstruktion, in der „die Zukunft geahndet“ wird, und das in einem dem strafrechtlichen Gebrauch des Wortes Ahnden durchaus angemessenen Sinne? Ist nicht der Objektbegriff, und mit ihm der Naturbegriff, der ihn absichert, Produkt einer Konstruktion, in der die Zukunft unter die Vergangenheit subsumiert, zur Vergangenheit verurteilt wird? Im Objekt- und damit im Naturbegriff wird in der Tat „die Zukunft geahndet“. Die Logik des Objektbegriffs ist die Logik des Anklägers (des „Staatsanwalts“). – Wie hängen die RAF-Prozesse mit Schelling zusammen?
    Der „blinde Fleck der Logik“ gründet in ihrem apriorischen Objektbezug, und es gibt keinen Begriff, der diesen blinden Fleck genauer bezeichnet als der der Natur.
    Haben nicht der Ursprung und die Logik der historischen Bibel-Kritik etwas mit der Ursprungsgeschichte des modernen Nationalismus zu tun, zu deren Vorgeschichte auch Spinozas „Pantheismus“ gehört? Jeder Nationalismus ist ein Pantheismus, und der spinozasche dessen allgemeine logische Form.
    Als die Amsterdamer Synagoge den Bann über Spinoza verhängte, hatte sie zwar formal Recht, zugleich aber hatte sie die wirkliche Intention des Denkens Spinozas gröblich verkannt, die nicht mehr durch einen Bann zu verurteilen, sondern allein durch Reflexion aufzulösen gewesen wäre. Gibt es nicht eine sehr merkwürdige Korrespondenz zwischen dieser Spinoza-Geschichte und der Geschichte Sabbatai Zwis?
    Ist nicht Lessings Ring-Fabel insofern unvollständig, als es sich nicht um drei getrennte Ringe handelt, sondern um die ineinander kreisenden Räder der ezechielischen Vision?
    Die Beziehung der Elektrodynamik zum Licht hat etwas mit der Beziehung des Dogmas zum Zentrum der christlichen Tradition, das erst im Kontext einer Theologie im Angesicht Gottes sich enthüllt, zu tun.
    Bezeichnet nicht der Name der Barbaren den Rohstoff, aus dem die ersten Waren genommen worden sind: Sind nicht die Barbaren potentielle Sklaven, der menschliche Rohstoff der ersten Handelsware? Und gehört nicht der Name der Name der Barbaren zur Ursprungsgeschichte des heutigen Weltzustandes, in dem die „dritte Welt“ immer noch in erster Linie Rohstofflieferant ist?
    Sind nicht die subjektiven Formen der Anschauung ein Instrument, das mit der Ursprungsgeschichte der Warenform und mit der des Dingbegriffs zusammenhängt, in dieser Ursprungsgeschichte mit seiner eigenen, die es doch zugleich verdrängt, konfrontiert wird? Sie sind damit ein Instrument der Verdrängung der eigenen Ursprungsgeschichte. So aber sind die Naturwissenschaften zu automatisierten Instrumenten der Selbstlegitimation des Bestehenden und der kollektiven Selbstverblendung zugleich geworden.
    Der Faschismus unterscheidet sich vom Nationalsozialismus insbesondere dadurch, daß der Antisemitismus in ihm nie die Funktion und Bedeutung gehabt hat, die er im Nationalsozialismus hatte. Kann es sein, daß die Verwechslung beider Begriffe auf Seiten der Linken etwas damit zu tun hatte, daß der Marxismus als Herrschaftsinstrument (als Ideologie, wie er dann selbst sich nannte) den Gebrauch des Antisemitismus nicht mehr grundsätzlich auszuschließen vermochte? Wer den Nationalsozialismus als Faschismus bekämpft, blendet damit genau den Grund aus, aus dem er antisemitisch war: das Feindbilddenken als identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft. Die Unterscheidung von Nationalsozialismus und Faschismus rechtfertigt nicht den Faschismus, aber sie vermeidet die Verharmlosung des Nationalsozialismus, die in der Gleichsetzung beider liegt.
    Ist nicht diese Verwechslung des Nationalsozialismus mit dem Faschismus ein Indiz dafür, daß die 68er Linke von der Gefahr eines undialektischen Materialismus, des Konkretismus, des Feindbilddenkens, der Unfähigkeit zu Reflexion (der Verdrängung des Problems des „falschen Bewußtseins“), nie sich hat freimachen können? Genau dieses Apriori, diese Vorentscheidung, die sie nicht mehr zu reflektieren vermochte, hat diese Linke dazu verleitet, im Recht nur ein Machtinstrument (und in der Macht ein neutrales Instrument) zu sehen, mit der Folge, daß sie das Gemeinsame der nationalsozialistischen Konzentrationsläger mit dem Archipel Gulag oder des Volksgerichtshofs mit den stalinistischen Prozessen nicht mehr wahrzunehmen vermochte; sie hat sie unfähig gemacht zur Rechtskritik (zur Kritik des Staates von innen).
    Es sollte heute nicht mehr zulässig sein, die gemeinschaftsstiftende Kraft einer Idee mit ihrer befreienden Kraft zu verwechseln. Identitäts- und gemeinschaftsstiftende Kraft gewinnt eine Idee nur, wenn sie die Wahrheit verrät, sie gegen ein stabiles Feindbild eintauscht und auf die Kraft der Reflexion verzichtet. Zentrum der Reflexion ist die des Objektbegriffs, von dem es in der Dialektik der Aufklärung heißt, daß die Distanz zum Objekt vermittelt sei durch die Distanz, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt. Der Objektbegriff ist von den Herrschaftsstrukturen in der Gesellschaft nicht zu trennen. Herrschaftskritik, die diese Reflexion nicht leistet, sie ausspart, reproduziert die gleichen Herrschaftsstrukturen, die sie zu kritisieren glaubt, wird selber zum Instrument von Herrschaft.
    Der Objektbegriff ist ein Denkmal und ein Repräsentant der Überwindung und Versklavung des Feindes und zugleich des Ursprungs der Geschichte der Zivilisation. Diese Wunde im Kern der Zivilisation gilt es reflexionsfähig zu halten, anstatt sie über Feindbilder immer wieder zu verdrängen.
    Das Ganze reicht zurück in die subjektiven Formen der Anschauung, deren Funktion und Bedeutung anhand der unterschiedlichen Folgen des Anschauens für den Anschauenden und den Angeschauten sich demonstrieren läßt. Zu diesen Folgen gehört es, daß sie, indem sie das Angeschaute zum Objekt machen, seine Wahrnehmung, die sie doch begründen sollen, gerade verhindern, sich als Wahrnehmungsverhinderungsapparat etablieren. Sie liefern die Farbe und den Pinsel, mit denen die Fenster in dem Zug, der in den Abgrund rast, bemalt werden.
    In der RAF bestrafen die Staatsschutzsenate ihr eigenes Prinzip.
    In einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der RAF wird man nicht davon abstrahieren können, daß die RAF der Reaktion den Vorwand geliefert hat, mit dessen Hilfe sie sich rekonstruieren und reetablieren konnte.

  • 26.10.1996

    Eine Überschrift in der FR von heute: „Grams-Eltern wenden sich an EU-Kommission“. Erst im Text heißt es dann korrekt, daß die Eltern von Wolfgang Grams (die keine „Grams-Eltern“ sind) vor der Europäischen Menschenrechtskommission in Straßburg (die keine „EU-Kommission“ ist) Beschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland erhoben haben. Inzwischen scheinen nicht mehr nur in der BILD-Zeitung Überschriften auch dem Zweck zu dienen, den Text der Meldung, auf den sie hinweisen, zugleich zu vernebeln. Läßt sich nicht am vorauseilenden Gehorsam solcher „Versprecher“ der Zustand der Öffentlichkeit und die Existenz eines durch die Naturkräfte der Bewußtseinindustrie erzeugten und gesteuerten öffentlichen Unbewußten erkennen? Die Nazis hatten den Spruch: „Keiner soll hungern und frieren“, den der Volksmund dann so ergänzte: „Wer’s doch tut, kommt ins KZ“. Ist nicht mit der Verdrängung der Erinnerung an die Nazi-Verbrechen auch die Wahrnehmungsfähigkeit verdrängt worden, die in dieser aufhellenden Ergänzung sich ausdrückte? Das Feindbild ist ein Naturheilmittel, weil es eine Naturkraft ist; es gehört zu den Konstituentien des Naturbegriffs selber, zu dessen sprachlichen Korrelaten der Name der Barbaren und das Neutrum gehören, und deren Logik in der Geschichte des Objektbegriffs und in der Konstituierung und Entfaltung der subjektiven Formen der Anschauung sich vollendet. Zielte nicht hierauf Adornos programmatisches Wort vom „Eingedenken der Natur im Subjekt“? Als das Christentum den Namen des Logos mit dessen griechischer Tradition in eins setzte, hat es sich in seinem Verhältnis zum Kreuzestod auf die Seite der Täter gestellt. Das war der Beginn der zweiten Kreuzigung, der Instrumentalisierung des Kreuzestodes durch die Opferthologie. Läßt das Christentum insgesamt als ein Akt des Tikkun sich begreifen, der Rettung durch Identifizierung mit dem Feind, einer Rettung, die durch den Verrat, den Abfall, hindurchmuß? War nicht die Bubersche „Begegnung“ eine Ersatzhandlung für das, was den Christen eigentlich notgetan hätte: die Reflexion der Naturkräfte, von denen das Christentum sich bis heute nicht hat befreien können? Das Dogma ist die Wahrheit, aber im Stande einer durch die Dogmatisierung (die Bekenntnislogik) verdrängten und ausgegrenzten Reflexion. Durch die Vorstellung einer „Teilhabe am innertrinitarischen Prozeß“, die die Theologie insgesamt verhext, ist der imperative Gehalt der Theologie, der allein eine Theologie im Angesicht Gottes zu begründen vermöchte, ästhetisiert und neutralisiert worden. So wurde aus der Nachfolge die imitatio, aus der Übernahme der Sünde der Welt deren Hinwegnahme, aus der Gottesfurcht die erbaulichen Formen der Frömmigkeit. Diese Vorstellung hat die theologischen Erkenntniskräfte wie die Spinne die in ihren Netzen gefangene Beute gelähmt. Metz‘ Wort, daß man nach Auschwitz nicht mehr so Theologie treiben könne, als habe es Auschwitz nicht gegeben, ist, wie mir scheint, nur durch Reflexion der Verwurzelung der Theologie in der Philosophie, nicht durch Abstraktion von dieser Beziehung, einzulösen. Die Reflexionen Rosenzweigs über das Verhältnis von Theologie und Philosophie im Stern der Erlösung, sind hier hilfreich. Das göttliche Attribut der Barmherzigkeit, das im Imperativ, nicht im Indikativ steht, rührt an das sprachlogische Problem des grammatischen Geschlechts. Die Erinnerung daran ist im hebräischen Namen der Barmherzigkeit, der der Name der Gebärmutter ist, aufbewahrt. Das erinnert zugleich an den sprachlogischen Zusammenhang der Beziehung von Indikativ und Imperativ mit dem des grammatischen Geschlechts: an den genetischen Zusammenhang des Indikativs mit dem Ursprung des Neutrum. Es ist das gleiche Sprachproblem, das auch der Idee einer Theologie im Angesicht Gottes zugrundeliegt, an die Forderung, die dem Begriff der Lehre innewohnt: den imperativen Gehalt der göttlichen Attribute in den Indikativ zu übersetzen (und nicht, wie es das Dogma tut, durch den Indikativ zu neutralisieren, oder ins Ästhetische zu übersetzen). Allein die Schuldreflexion vermag den Bann zu brechen unter dem die Theologie seit der Rezeption der philosophischen Idee der Unsterblichkeit der Seele steht. Verweist nicht die Geschichte vom Sündenfall, wenn man in ihr die Schlange als Symbol des Neutrum, und ihre Geschichte mit Adam und Eva als ein Bild der Neubestimmung des grammatischen Geschlechts, des Männlichen und des Weiblichen, durch das Neutrum, begreift, auf das Problem des grammatischen Geschlechts? Läßt sich dieses Problem des grammatischen Geschlechts nicht an der Sprache Kants demonstrieren, wenn er den Erkenntnisbegriff sowohl in femininer als auch in neutrischer Bedeutung verwendet (die Erkenntnis, das Erkenntnis)? Das, so scheint mir, rührt an eines der tiefsten Probleme der kantischen Philosophie; die Sprachlogik, die darin sich ausdrückt, scheint aus logischen Struktur der Probleme sich herleiten zu lassen, die den Zwang der philosophischen Revolution, deren Ausdruck Kants Werk ist, begründen. Es rührt an eine Schicht in der kantischen Philosophie, die von seinen Nachfolgern dann konsequent verdrängt worden ist: an den Ursprung der drei Totalitätsbegriffe (Wissen, Natur und Welt; zu Natur und Welt vgl. den großartigen Definitionsversuch Kants in der Kritik der reinen Vernunft, im ersten Abschnitt der Antinomie der reinen Venunft). Nicht zufällig standen Fichte, Schelling und Hegel unter dem Systemzwang, diese Begriffe – nach Verdrängung der Reflexion ihres logischen Ursprungs – nacheinander abzuarbeiten.
    Wie wäre die Frage, welcher Teil eines Menschen zum Regieren der wichtigste ist, eigentlich zu beantworten angesichts einer Regierung, die Entscheidungen, die allein von den Interessen ihrer Klientel bestimmt sind, während die Argumente, die sie öffentlich begründen sollen, schmückende Rhetorik und von Waschmittel-Reklame nicht mehr zu unterscheiden sind, nur noch „durchsetzt“ und Probleme, die dieses Verfahren zwangsläufig produziert, nur noch „aussitzt“? Ist nicht die Folge ein Begriff von Öffentlichkeit, der Erfahrungen, Kritik und Reflexionsfähigkeit, das eigentliche Element demokratisch-bürgerlicher Beteiligung, auf ähnliche Weise ausschließt wie RAF-Prozesse, die u.a. die Aufgabe zu haben scheinen, dieser Logik den Charakter einer rechtlichen Norm zu verleihen, das Selbstverständnis der Angeklagten?
    Adorno hat einmal die Situation eines Gesprächs in einem Eisenbahnabteil beschrieben, in der man, um einen Streit zu vermeiden, sich gezwungen sieht, den Anschauungen eines Mitreisenden nicht zu widersprechen, die imgrunde auf einen Mord hinauslaufen. Gehört diese Situation nicht zum Bild des Zuges, der in den Abgrund rast? Und beschreibt sie inzwischen nicht etwas vom Zustand der Öffentlichkeit insgesamt? Die Bundesanwaltschaft als Verkörperung des Inertialsystems (als eines Konstrukts aus Verachtung, Hohn und Zynismus), und das von ihr verkörperte Anklage- und Beweisverfahren als Verfahren der reinen Objektkonstruktion (mit der Idee des Objekts als eines Konstrukts, zu dem es keine kommunikative Beziehung mehr gibt, das nur noch Objekt eines apriorischen Urteils ist: sind nicht die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen der Versuch, dieser Konstruktion die Gewalt einer objektiven, sinnlich erfahrbaren Realität zu verleihen)? Die Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos beschreibt einen objektiven, nicht nur einen moralischen Sachverhalt. Aber gilt das nicht für die Prophetie insgesamt? Ägyptische Finsternis (ist „Finsternis Mizrajims“ nicht deutlicher?): die Entfaltung des blinden Flecks der Logik zur Totalität.

  • 24.10.1996

    Auch wer Probleme hat, wenn er das politische Selbstverständnis der RAF mit ihren Taten in Zusammenhang bringen will, wird gleichwohl darauf bestehen müssen, daß dieses politische Selbstverständnis auch in der juristischen Aufarbeitung der Taten mit reflektiert wird.
    Wenn Einstein auch die Fallbewegung als Trägheitsbewegung (für die das Relativitätsprinzip gilt, begreift und davon ausgeht, daß im Innern eines frei fallenden (außer Kontrolle geratenen) Fahrstuhls nicht erkennbar ist, ob der Fahrstuhl ruht oder in freiem Fall sich bewegt, abstrahiert er dann nicht von dem Gefühl der Schwere, das in einem (in einem Schwerefeld) „ruhenden“ Fahrstuhl gleichwohl die Schwere fühlbar ist: Es bedarf des „freien Falls“, um dieses Gefühl gegenstandslos zu machen. Verweist dieser Tatbestand nicht auf den Unschuldstrieb, der, wenn er seine Erfüllung sucht, eigentlich den Zustand des „freien Falls“ sucht, den Moment der Katastrophe, die er zu verdrängen sucht? (Ist nicht die Bewegung der Ökonomie, wenn sie nach dem Konzept des Neoliberalismus rein dem eigenen Bewegungsgesetz folgt, eine Bewegung des freien Falls?)
    Wie hängt das Allgemeine Relativitätsprinzip, die Unterscheidung des Leichten und des Schweren, mit dem Satz von Rind und Esel (Joch und Last – auch Wasser und Feuer?) zusammen? Ist nicht das Leichte das Korrelat des Jochs, das man andern auferlegt? Hat der Hinweis auf das Feuer im 1. Petrusbrief etwas mit der Logik des Leichten (mit dem noch Aristoteles das Feuer zusammenbringt) zu tun, ist das Feuer, dem am Ende der Drache, der Satan und der Tod überantwortet werden, die Innenseite des Leichten, eine Folge des Unvermögens, in andere sich hineinzuversetzen, der leere Kern des Herrendenkens?
    Enthält nicht die Allgemeine Relativitätstheorie eine Staatstheorie, verweist sie nicht auf die Sphäre des Politischen, während die Spezielle Relativitätstheorie auf die der Ökonomie, auf die Logik des Tauschs, verweist? Wittgensteins Satz, daß die Welt alles ist, was der Fall ist, rückt die Welt in eine konstitutive Beziehung zum Staat.
    Läßt die Beziehung von Spezieller und Allgemeiner Relativitätstheorie, als die Beziehung von Tauschprinzip und Macht, an der Beziehung von Merkur und Sonne (oder an der von Merkur und Jupiter) sich demonstrieren?
    Wer einer Sache die Grundlage entzieht, überantwortet sie dem freien Fall.
    Haben die Versuche, die Theologie von der Lehre von der Erbsünde zu befreien, nicht doch sehr viel mit den Verhältnissen im Innern von Einsteins Fahrstuhl, der außer Kontrolle geraten ist, zu tun?
    Ist das Konstrukt des Falles nicht in der Geschichte vom Sündenfall aufs genaueste beschrieben?
    Der letzte Satz in der Entgegnung auf Horst-Eberhard Richter, erinnert an eine Bemerkung, die Georg Lukacs zuerst auf Schopenhauer, später dann auf Adorno bezogen hat, das Wort vom „Grand Hotel Abgrund“ (vgl. Lukacs: Theorie des Romans, Neuauflage 1962, S. 17). Ich meine, die Konstellation, die Lukacs damals bezeichnen wollte, wird genauer getroffen, wenn man das Bild vom ortsfesten Hotel und dem Abgrund daneben dynamisiert und durch das eines Luxuszugs, der auf den Abgrund zurast, ersetzt.
    Die Feindbildlogik ist die Folge eines kollektiven Unschuldstriebs, aus dessen Konstruktion die Elemente dieser Logik sich herleiten lassen:
    – Unfähigkeit, Schuldgefühle durch Reflexion aufzulösen, Abwehrmechanismus,
    – Empörung (automatisierte Verurteilungslogik),
    – Schuldentlastung durch Schuldverschiebung, Exkulpation durch Empörung, moralische Enthemmung durchs Feindbild,
    – identitäts- und gemeinschaftsstiftend in einer Welt, die sich immer mehr der Paranoia angleicht, die sie doch zugleich falsch abbildet,
    – Feindbild und Gegenfeindbild, Feindbild-Clinch, symbiotische Feindbindung; so werden beide Seiten zu Symptomen des Problems als dessen Lösung sie sich selbst verstehen,
    – Verwechslung und Austauschbarkeit von Solidarität und Komplizenschaft,
    – Faschismus-Schock, „Kollektivscham“ (Neutralisierung der Schuld durch Verrechtlichung),
    – Exzesse der Gemeinheit.
    Die Feindbildlogik ist die Mutter des Vorurteils, das in diesem Prozeß über die Schwächen der Beweisführung hinweghelfen wird.
    Sind nicht beide Seiten in den RAF-Prozessen Opfer eines schrecklichen Irrtums, und ist es nicht dieser spiegelbildliche Irrtum, die sie wie in einem Clinch an einander fesselt?
    Der Staat, den die Staatsschutzsenate schützen, ist der gleiche Staat, dessen Anwälte die Ankläger sind; deshalb sind beide in Staatsschutzprozessen nur noch schwer zu unterscheiden. Dieser Staat ist der Kern des Unschuldgenerators, der das eigentliche Objekt des Staatsschutzes ist.
    Ist nicht die Konstruktion von Staatsschutzsenaten ebenso pervers wie der Zustand des Staates, der sie hervorgebracht hat.
    Ist nicht der höhnische und zynische Ton, mit dem die Bundesanwaltschaft die VerteidigerInnen, die Mutter der Angeklagten, die Zuschauer und auch einen Zeugen, wenn seine Aussage nicht in ihr Konstrukt paßt, angreift, eigentlich ein Indiz dafür, daß sie mit dem Rücken zur Wand steht? Nur ist zu befürchten, daß das Gericht sich selbst in der gleichen Situation sieht und am Ende ein Solidaritäts-Urteil fällen wird, das dann aber nur noch wenig mit der Angeklagten zu tun haben wird. Der Eindruck ist ohnehin kaum noch abzuweisen, daß die Dauer des Verfahrens kein Indiz der Gründlichkeit des Verfahrens, sondern nur eine Konzession an eine Öffentlichkeit sein wird, die nicht merken soll, daß es eigentlich ein kurzer Prozeß war, daß das Urteil schon im Voraus feststand.
    Auch wer den Terrorismus für einen verhängnisvollen Irrtum hält, wird gleichwohl in den dadurch verhexten Texten der RAF Elemente entdecken können, deren Vedrängung ebenso verhängnisvoll wäre.
    Zur Kritik des Weltbegriffs gehört das Bewußtsein, daß die Grenzen des Bewußtseins, die diese Kritik überschreiten möchte, eins sind mit den Grenzen des Weltbegriffs, um deren Kritik es geht.
    Auch Hegels Begriff des Weltgerichts gründet in einem justitiellen, nicht aber in einem theologischen Gerichtsbegriff.
    Ist nicht die Öffentlichkeit gleichursprünglich mit dem Recht? Waren nicht die Foren, die dann zu Märkten geworden sind, ursprünglich Gerichtsstätten (vgl. auch den Namen der ekklesia und den auf die Versammlung im Tor verweisenden hebräischen Ursprung dieses Namens, auch die Wortgeschichte von Ding)?
    Der Satz, daß Gott ins Herz der Menschen sieht, gehört auch zu den Sätzen, die nicht im Indikativ, sondern im Imperativ stehen.
    Die Sprache, nicht jedoch die Kunst, rührt an den Grund der Schöpfung. Die Kunst rührt an den des Staates und der Welt.
    Wer die apokalyptische Stimmung mit dem Hinweis auf die Atombombe zu begründen versucht, blendet genau die Sphäre aus, in der die Apokalypse in der Lage wäre, sich als Lichtquelle zu erweisen.
    Verschiebt Jürgen Ebach nicht den Grund und die Bedeutung des hebräischen Namens der Barmherzigkeit ins Neutrische, wenn er sie anstatt auf die Gebärmutter auf den Unterleib bezieht?
    Zur Verharmlosung der Unterscheidung von Rechts und Links gehören die Einfügungen in den Text durch Jürgen Ebach, das „noch“ im letzten Satz des Buches Jona und das „nämlich“ in den beiden Wiederholungspassagen, bei der Umkehr Ninives und beim Ärger des Jonas.
    Nach dem Geist der Utopie stand Ernst Bloch vor der Frage, ab er das symbolische und metaphorische Sprachverständnis, in dem der Geist der Utopie geschrieben wurde, ins Realsymbolische hereintreiben oder zur Rhetorik entmächtigen sollte. Er hat sich für die Rhetorik entschieden, und das in der Folge der materialistischen Wendung seiner Philosophie. War nicht Benjamins Hinweis auf den buckligen Zwerg in der ersten seiner Geschichtsphilosophischen Thesen eine Antwort an Ernst Bloch?
    Läßt sich nicht am Kyffhäuser der Unterschied zwischen Sage und Mythos verdeutlichen? Während der Mythos unter offenem Himmel sich entfaltet, gehört zu den Bedingungen der Sage eine caesarisch bestimmte Welt, in der der Himmel durch Herrschaft verdunkelt ist. In Babylon ist der Mythos zur Sage geworden: Gilgamesch war der erste Sagenheld. Und in Babylon ist die Prophetie zur Apokalypse geworden.
    Ist nicht alles Mitleid heute verhext? – Aber gleichwohl darf man es nicht preisgeben.

  • 23.10.1996

    Kyffhäuser: Sitzt nicht der Kaiser, der die Welt regiert, heute tatsächlich im Herzen der versteinerten Verhältnisse, im steinernen Herzen der Welt (und ist das nicht der Stein, der Off 1821 zufolge beim Untergang Babylons ins Meer geworfen wird)?
    Zur lateinischen Trinitätslehre: Person ist ein Rechts-, kein theologischer Begriff.
    Doppelte Buchführung: Die Christen haben den Kreuzestod zu einem buchhalterischen Akt gemacht; mit dem Neuen Testament waren Moses und die Propheten abgegolten und erledigt, sie wurden im Alten Testament archiviert. Haben sie nicht mit dieser Archivierung Jesus selber, das Wort, zum Verstummen gebracht?
    Hat nicht die doppelte Buchführung mit der Logik der Bilanzierung das Zeitverständnis verändert? Ist nicht seitdem die Vergangenheit endgültig vergangen, so daß es keine Bücher mehr gibt, die einmal aufgeschlagen werden? Hier ist das Rentabilitätsprinzip unkritisierbar, zu einem Stück Natur, gemacht worden, das dann in den Naturwissenschaften in der Tat als Natur sich konstituierte.
    Ist nicht die Bekenntnislogik ein Produkt der Subsumtion der Tradition unter das Gesetz der Selbsterhaltung? Die Bekenntnislogik hat die Kirchengeschichte zu einem Teil der Weltgeschichte gemacht, die dem Prinzip der abgeschlossenen Vergangenheit gehorcht (der Sprachlogik des indoeuropäischen Perfekt).
    Theologie als Sprachkritik, ist das nicht die Konsequenz, die aus dem Namen des Logos zu ziehen wäre?
    Das indoeuropäische Perfekt (das Prinzip der abgeschlossenen Vergangenheit) ist die Grundlage des Begriffs, seiner Trennung von dem gegen ihn sich verselbständigenden Objekt.
    Gehört nicht die Konstituierung der Öffentlichkeit, deren Denkmäler in Rom zu sehen sind, zur Ursprungsgeschichte der lateinischen Sprache? Und hat nicht das „klassische Latein“ tatsächlich in dieser Periode, die im Kollosseum und in den Foren ihre Denkmäler hinterlassen hat, sich entfaltet und konsolidiert? Die Entstehung des Publikums ist das Werk Roms, seiner Herrschafts- und Sprachgeschichte.
    War die Trinitätslehre nicht auch ein Hilfsmittel der Zivilisierung der caesarischen Erbfolge (die durch die Militärputsche destabilisiert zu werden und außer Kontrolle zu geraten drohte)?
    Der Caesarismus hat die Solidarität mit den Toten, die in der Lehre von der Auferstehung der Toten einmal gemeint war, aufgekündigt und das Christentum aufs Prinzip der Selbsterhaltung vereidigt. Die Ego-Pomp des päpstlichen Barock in Rom ist ein spätes Echo der Logik des Caesarismus, seiner theologischen Rezeption in der Trinitätslehre. Die Opfertheologie, die den Kreuzestod instrumentalisiert hat, hat die Solidarität mit dem Gekreuzigten aufgekündigt.
    Stellt nicht der Name des Forums, der später den Markt bezeichnet, die Beziehung des Caesarismus zum steinernen Herzen der Welt her?
    Ist nicht die Feindbildlogik, die auf ein symbiotisches System von Verkörperungen (von apriorischen Feindbild-Objekten) verweist, ein Schlüssel zur Lösung des Rätsels der Astrologie (des Rätsels, dessen irdische die himmlische Lösung zur Folge hat)? Sind nicht auch die Planeten Verkörperungen dieser Logik, die sie an das blinde und sinnlose Kreisen auf den Wegen ihres Irrtums fesselt?
    Ist der Objektbegriff der Abgrund, in den der vom Himmel gestürzte Satan (phosphoros, Luzifer, der Morgenstern) eingesperrt ist (Off 201ff), und ist die Reflexion der Feindbildlogik der Schlüssel, der diesen Abgrund zu öffnen vermag?

  • 21.10.96

    Das Verwaltungsrecht ist ein Subsumtionsrecht (mit interner Beweisführung durch Belege: Dokumente, Urkunden, Akten), während das Strafrecht ein Reflexionsrecht ist (Beweis durch externe Zeugen, Indizien, Geständnis).
    Der Angeklagte wird zum Feind, wenn sein Selbstverständnis als Angriff erfahren und deshalb ausgegrenzt und unterdrückt wird. Gegen einen Angeklagten, in den das Gericht sich nicht hineinversetzen kann, kann eigentlich kein Prozeß mehr geführt, er kann nur noch bekämpft werden.
    Ist nicht die Kälte und die vergiftete Atmosphäre in RAF-Prozessen nur ein konzentrierter Ausdruck dessen, was den Weltzustand heute insgesamt kennzeichnet?
    Natürlich ist das Ziel politischer Prozesse Herrschaftssicherung und nicht Gerechtigkeit.
    Löst sich nicht das Problem, weshalb die Judenvernichtung mit den zusätzlichen Exzessen der Gemeinheit, der Brutalität und der Demütigungen erfolgte, in einem Strafrecht, das auch die mehrfache lebenslängliche Strafe kennt: in dem ein Leben nicht ausreicht, um den rechtsstaatlichen Rachetrieb zu befriedigen? Exzessive Strafen sagen nichts mehr über den, über den sie verhängt werden, sondern nur noch über die, die sie fordern oder verhängen.
    Hat nicht jedes Bekenntnis einen Empörungskern, den es dann über Opferkonstrukte abarbeiten muß; und liegt darin nicht ihre Kraft der „Sündenvergebung“?
    Der neutestamentliche Gottesname Vater hat die Kritik an den irdischen Vätern zur Grundlage und thematisiert und benennt sie. Die Kirche hat die irdischen Väter zum Modell des Vatergottes gemacht und damit den Gottesnamen (durch den Seiten- und Herrenblick auf den Namen) in einen Begriff transformiert. Diese Transformation erscheint in den Evangelien bereits in dem Gebrauch des Namens des Gottessohns durch die Dämonen und den römischen Hauptmann.
    Die kopernikanische Wende, deren Vorgeschichte bis in die antiken Kosmologien hineinreicht, hat die Erfahrungsgrundlage dessen, was in der Unterscheidung von Himmel und Erde sich ausdrückte, zerstört. Der Akt dieser Zerstörung (den die kantischen subjektiven Formen der Anschauung besiegeln) ist rekonstruierbar: Seine Grundlage ist der Seiten- und Herrenblick auf die Dinge.
    Der Seiten- oder Herrenblick ist nicht irreal, er ist nicht ohne fundamentum in re; aber im Kontext seiner Kritik läßt sich zwingend begründen, weshalb zur Prophetie das Votum für die Armen und die Fremden gehört.
    Als Feindbildgenerator ist der Staat nicht zu übertreffen; wer glaubt, dem Staat im Rahmen der Feindbild-Logik widerstehen zu können, ist schon gefangen. Diese Lehre ist zwanglos aus dem Versuch der Rekonstruktion und des Verständnisses des Antisemitismus (in dem der Schatten, den der Staat auf die Menschen wirft, zur Finsternis sich kontrahiert) zu gewinnen. – Kam nicht nach der Finsternis die Tötung der Erstgeburt?
    Sollte man nicht endlich begreifen, insbesondere im Anblick des Prozesses gegen Monika Haas, daß es auch die Möglichkeit der instrumentellen Nutzung der Paranoia gibt; sind nicht hier (wenn der Triumph sie leichtsinnig macht) die Urheber und Anwender der Paranoia angreifbar und verletzbar?
    Es gibt so etwas wie die „idealistische“ Selbsterzeugung des Rachetriebs. Dessen Paradigma ist der Antisemitismus, der in dem Augenblick seines Ursprungs, seiner Selbsterzeugung, für die von ihm Befallenen undurchschaubar wird (deshalb sind Antisemiten unbelehrbar – aber sind sie’s wirklich? Jak 520).
    Ohne Öffentlichkeit gibt es keinen Weg ins Freie.

  • 19.10.96

    Es kommt nicht darauf an, Schuldgefühle zu vermeiden oder loszuwerden, sondern sie reflexionsfähig zu machen, und es kommt nicht auf die Bewahrung der Identität, sondern auf die der Lernfähigkeit an. Wer, um seine Identität zu wahren, Schuldgefühle nur abwehrt, anstatt sie zu reflektieren, wird lernunfähig.
    Wer Schuldgefühle nur abwehrt, für den wird jeder, der Schuldgefühle weckt, zum Feind (Logik des Antisemitismus; Tötung des Urvaters).
    Als Habermas den Verfassungspatriotismus erfunden hat, hat er das Gewissen (und mit ihm den Quell seiner philosophischen Inspiration) an die Verfassung delegiert.
    War nicht die kantische Unterscheidung eines femininen von einem neutrischen Erkenntnisbegriff (die/das Erkenntnis) ein Versuch, Erkenntnis vom Bann der Reversibilität freizuhalten?
    Der Feind meines Feindes ist nicht in jedem Falle mein Freund; aber er ist nicht schon deshalb, weil er nicht mein Freund ist, mein Feind. Diese eindeutige Reversibilität gibt es nur auf der Grundlage der Logik des Feindbildes.
    Die schwindelerregende Logik, die den gegenwärtigen Weltzustand beherrscht, läßt sich nur durch ein Feindbild auf einfachere Strukturen bringen, aber nur um den Preis der Selbstverblendung.
    Die Bekenntnislogik gründet in dem gemeinsamen Nenner eines gemeinsamen Feindbildes. Die Selbstghettoisierung durch ein gemeinsames Feindbild ist das logische Modell der subjektiven Formen der Anschauung und der Isolationshaft.
    Zum Projekt Selbstaufklärung gibt es keine Alternative mehr.
    Wer heute im Ernst Kritik der politischen Ökonomie zu treiben versucht, kann sich nicht auf die Kritik der Ökonomie beschränken in der Erwartung, daß die politischen Konsequenzen sich daraus von selbst ergeben, sondern er muß die Kritik der politischen Ursprünge der Ökonomie (Ursprung der Ware in Raub und Eroberung: die Sklaven und die Frauen sind die ersten Waren) in die Reflexion mit einbeziehen. Ihr gegenwärtiger Ansatzpunkt wäre die heute epidemisch sich ausbreitende Xenophobie.
    Der Geschichte der Verhärtung des Herzens Pharaos geht die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation, der Aneignung des Eigentums an Grund und Boden und der Grundlegung des Sklavenhauses Ägypten durch Joseph voraus. So dialektisch ist die Bibel. Nur das Sklavenhaus Ägypten konstituiert sich als Sklavenhaus in dem Augenblick, als ein Pharao kommt, der sich Josephs nicht mehr erinnert: der die Ursprungsgeschichte des Sklavenhauses verdrängt. Diesen Pharao, der auch JHWH nicht kennt, und zu dem Moses dann im Namen des Gottes der Hebräer spricht, trifft die Geschichte der zehn Plagen und der Verhärtung des Herzens. Für ihn wird Moses zum Gott und Aaron zu seinem Propheten.
    Ist nicht Mizrajim ein sprechender Name, dessen Verstummen im Griechischen (schon in der LXX) und dann in der christlichen Tradition Buber in seiner Bibelübersetzung ratifiziert.
    Enthält der Name der Hebräer, in dem die Fremdheit und der Blick der andern Völker reflektiert wird, nicht die Forderung, diesen Blick auszuhalten und die Schuld, das Korrelat dieses Blicks, reflexionsfähig zu halten? Schon Abraham war ein Hebräer. Ebenso bekennt sich Jona vor den Schiffsleuten als Hebräer, und ebenfalls Judith im Lager des Holofernes. Jona verkündet Ninive den Untergang, Judith tötet den Holofernes.
    Die giftige Atmosphäre im Hogefeld-Prozeß gehört zu den Naturqualitäten eines RAF-Prozesses.
    Zum Zug, der in den Abgrund rast: Unsere Gerichte halten sich ans allgemeine Relativitätsprinzip Einsteins, wenn sie die beschleunigte Bewegung als einen der Ruhe äquivalenten Zustand ansehen (wenn sie die Bewegung des Zuges, die Außenwelt und den Abgrund leugnen): Ist der Zug ein Fahrstuhl, der außer Kontrolle geraten ist? Das allgemeine Relativitätsprinzip gründet in dem Theorem der Identität von träger und schwerer Masse, und es ist die Grundlage der Theorien vom Urknall und von den schwarzen Löchern. Verkörpert nicht das allgemeine Relativitätsprinzip das Gesetz der Katastrophe im Zentrum der Physik? Und ist die Logik dieses Prinzips nicht die gleiche Logik, die auch dem Schuldbegriff zugrunde liegt (der Konstellation von Feindbild-Symbiose, Abwehrmechanismen und Projektion)?
    Verhält sich die spezielle Relativitätstheorie zur allgemeinen wie die Barmherzigkeit zum Gericht?
    Das Feindbild konstituiert das Bild von der Schwere der Schuld (um die es im Kampf gegen die RAF jetzt allein noch zu gehen scheint).
    Läßt der Jakobus-Satz, daß, wer einen Sünder vom Weg des Irrtums befreit, seine Seele rettet, nicht auf das Werk Horheimers und Adornos anwenden?
    Wer das Böse nur verurteilt, gewinnt zwar für sich den Schein der Unangreifbarkeit, er trägt aber nichts mehr bei zur Auflösung des Banns des Bösen.
    Sed libera nos a malo: Das Übel ist etwas, das uns zustößt, während wir im Namen des Bösen mitgemeint sind. Die Strafe befreit nicht vom Bösen, sie verewigt es (das Ideal der Strafe ist die Strafe für eine unendlich schwere Schuld). Dem Konzept der „Endlösung der Judenfrage“ lag die Vorstellung einer Erlösung der Welt durch Bestrafung derer, auf die die Antisemiten ihre eigenen Schuldgefühle projiziert hatten, zugrunde.
    Die Fähigkeit in einen Angeklagten sich hineinzuversetzen, hängt im Falle der RAF von der Fähigkeit zur Reflexion der deutschen Vergangenheit ab: Sind nicht die Urteile in den RAF-Prozessen allesamt auch Versuche, auf diesem Wege die Vergangenheit endlich loszuwerden?
    Die „kleine Verschiebung“, die die messianische Zeit von der Vorgeschichte trennt, ist die Verschiebung der Logik der Verurteilung von der Vergangenheit in die Gegenwart: Es ist die gleiche Verschiebung, die aus dem Weltgericht das Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht macht: der Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht.
    Schmerz und Schrecken: Nicht der Schrecken lähmt, sondern der Schmerz, der den unaufgelösten Schrecken noch in sich enthält. Nur wer dem Schrecken standhält, entwickelt die Kräfte des Widerstands (die Kräfte, die in den Mechanismen der Empörung und Verurteilung bloß verpuffen; Empörung und Verurteilung führen auch dort noch zum Einverständnis mit dem Bestehenden. wo man glaubt, es zu bekämpfen).

  • 18.10.1996

    Wenn Schuld ein Moment der Selbstreflexion in den Augen der Andern ist, dann ist der Weltbegriff ein Produkt des Schuldbegriffs und die Entsühnung der Welt durchs Opfer ein Instrument der Schuldverdrängung. Der Schuldbegriff bezeichnet die innere Grenze der Levinas’schen Asymmetrie, die Grenze zwischen Rind und Esel.
    Wenn der Kreuzestod Jesu die Bedeutung hat, die die christliche Theologie ihm zuschreibt, dann war er ein kosmischer Akt, und dann ist auch die Erinnerung des Kreuzestodes, das Meßopfer, ein kosmischer Akt.
    Versperrt nicht die RAF, wenn sie die Reflexion abwehrt und verdrängt, den einzigen Weg, über den sie ihre Sache wieder öffentlich machen kann?
    Eine Sache ist nicht deshalb schon erlaubt, weil andere sie auch tun: Dieser Satz begründet die genaueste Kritik des Feindbilds.
    Zur Bekenntnislogik gehört nicht die Aufspaltung des Frauenbilds in Heilige und Hure.
    In der Bemerkung „Hubertus Janssen, der sich selbst als Pfarrer bezeichnet“ spiegelt sich die ungeheuerliche Arroganz des richterlichen Bewußtseins, seine Definitionsgewalt, die im richterlichen Urteil sich manifestiert: Ein Pfarrer ist erst dann Pfarrer, wenn dieser Sachverhalt durch richterliches Urteil festgestellt worden ist.
    Es gibt den Schrecken der Opfer, den das Mitleid noch verrät. Erst wer in diesem Schrecken nicht nur den subjektiven Schmerz des Opfers, sondern darin auch das Grauen erfährt, den Schrecken über die Tat, dem wird das Mitleid zum Gedenken.
    Wer die RAF verstehen will, muß auch die Abwehr begreifen, mit dem die veröffentlichte Meinung in Deutschland auf das Buch von Goldhagen reagierte.
    Das Strafrecht kennt keine Versöhnung, nur die kontrollierte Befriedigung des Rachetriebs. So nährt es den Rachetrieb.
    Es hat mehr mit der Kritik der Naturwissenschaften als mit der Theologie zu tun, wenn ich an die Auferstehung der Toten glaube (die zusammenhängt mit dem Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht).

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