Fernsehen

  • 19.01.91

    Öffentlichkeit und Instrumentalisierung: Die Medien sind an einen Wahrheitsbegriff gebunden, der sich am Tatsachenbegriff orientiert; sie liefern nicht nur Material zur Urteilsbildung (d.h. Material für eine parteiische Sicht der Dinge), sondern formieren die Realität derart, daß eine andere als parteiische, urteilsbezogene Sicht der Dinge nicht mehr möglich ist. Das VIP-Prinzip ist den Medien nicht äußerlich. Letztlich läuft es darauf hinaus zu erkennen, wofür oder wogegen eine Meldung spricht, für welche Seite sie sich im Meinungskampf verwerten läßt; Meinungen aber sind an Personen (reale oder institutionelle, nach Scheler Gesamtpersonen) gebunden; die Personalisierung ist eine logische Konsequenz der Instrumentalisierung. Grundlage und inneres Gesetz der Öffentlichkeit ist das Freund-Feind-Denken, das insbesondere in Krisenzeiten (Ausnahmezustand) hervortritt (Zusammenhang von „Geschlossenheit“ und „Feindbild“). Öffentlichkeit ist zugleich die Voraussetzung und der Nährboden für die Wirksamkeit der Vorurteilsmechanismen; der Antisemitismus erweist sich hierbei als das Paradigma aller Vorurteile.
    Der Personbegriff leugnet das Göttliche, die beiden innerweltlichen Hypostasen der Gottesidee: den Armen, Fremden (im Anderen) und den Helfenden, den Verteidiger (in mir): das Gericht über die Welt (das Gericht über das Weltgericht, das der Arme für die Welt – und für mich – repräsentiert) und das Erbarmen. Der Personbegriff bezeichnet das apriorische Subjekt-Objekt der Welt, des Weltgerichts. Allah ist vor allem Person, die durch Schmeichelei und Unterwerfung vor der Paranoia geschützt werden soll, in die sie dadurch gerade hineingetrieben wird (nominalistischer Gottesbegriff Folge der Rezeption des islamischen Philosophie- und Wissenschaftsbegriffs, wie vorher der realistische eine Folge der Rezeption der griechischen Philosophie; beide vermittelt durch jüdische Verarbeitung: Philo und Maimonides).
    Wahrheit ist eine Kategorie der Praxis, nicht der Theorie:
    – Die reine Theorie, nämlich das Bild, ist das kurzgeschlossene Urteil, eigentlich das Todesurteil (Begründung des Bilderverbots, geschichtsphilosophischer Stellenwert des Porträts, Bedeutung der Gottes-, Welt- und Menschenbilder, Funktion des Fernsehens).
    – Aber die theoretische Kraft der (verändernden, umwälzenden) Praxis ist erst wiederzugewinnen, nachdem die praktische Dechiffrierung der Theorie gelungen ist. Wer an der Vorstellung einer Revolution festhält, ohne gleichzeitig die einer von der Praxis getrennten (unaufgeklärten) Theorie zu kritisieren, verrät beide.
    Theologisches Denken ist Denken mit den Ohren: Hier liegt die Gefahr der Verwechslung mit der Hörigkeit. Theologie ist jedoch hörendes, nicht höriges Denken.
    Mt. 1016: (Ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe, deshalb) seid klug wie die Schlangen (der Drache) und sanft wie die Tauben (der Heilige Geist): Erlösung des Chaos-Drachen durch den über den Wassern schwebenden (das Weltei ausbrütenden) Geist? Beziehung zur Schöpfungslehre?

  • 24.12.90

    Information als Unterhaltung: Fernsehnachrichten und BILD-Zeitung kommen darin überein, daß sie Informationen nicht nach ihrem objektiven Stellenwert, sondern nach ihrem Unterhaltungs- oder Sensationswert (Empörungsreiz) beurteilen. Der Begriff der Sensation erinnert nicht zufällig an den erkenntnistheoretischen Begriff der Empfindung (des sinnlich Gegebenen: nach Kant des chaotischen Materials, aus dem die transzendentale Logik die Urteile fertigt, durch die es Teil der Erfahrung wird). Diese Sensationen (die im Unterhaltungsbereich „Erlebnisse“ heißen) konstituieren sich erst im Kontrast zur transzendentalen Logik, nach Abzug ihres Erfahrungsgehalts, der nur als Kommentar, als Meinung zugelassen ist. Der Begriff der Sensation setzt die Unterscheidung von Tatsache und Meinung voraus und widerlegt sie zugleich. Die Ideologie, die geheimen Zusatzinformationen, die mit transportiert werden, resultieren aus dem ersten Gebot der Unterhaltungsindustrie: der Zuschauer/Leser darf aus der passiven Rolle nicht herausgerissen werden, er darf nicht (jedenfalls nicht politisch) zum Handeln verführt werden: die Fakten müssen so zubereitet werden, daß sie zur Entlastung des Zuschauers/ Lesers von dem moralischen Druck, den jede ungefilterte Information heute erzeugt, beiträgt: d.h. sie muß den Mechanismen der Schuldverschiebung, den Sündenbockmechanismen, mit einem Wort: dem Vorurteil das Feld überlassen. Bezeichnend das Interview mit einem Tagesthemen-Moderator der ARD in einer Unterhaltungssendung zum Jahresende 1990 (in der kritischen Phase der Golfkrise, über die der Interviewte täglich berichtete). Auf die Frage nach seinem zentralen Wunsch für das Neue Jahr: Er hoffe, daß es ihm endlich gelinge, das Rauchen aufzugeben.
    Zusammenhang zwischen zweiter Schuld und dem Verschwinden der Schamgrenze, die das Private, den Intimbereich von der Öffentlichkeit trennt (BILD, Werbung, Fernsehen, Bedeutung der Familienserien, Gestaltung der Wohnungen: die Privatisierung der Politik und die Politisierung des Privaten; das unaufhaltsame Vordringen der Gemeinheit).
    Der deutsche Begriff für Sexualität: das Geschlecht, das Geschlechtliche (auch die Geschlechter, z.B. die Genealogien? Zusammenhang mit der Trinitätslehre, der Zeugung des Sohnes?) scheint vom Ursprung her mit dem der Scham zusammenzuhängen. Das Geschlecht wäre demnach die Hypostase des Schlechten, des Verurteilten, das apriorische Objekt der Scham. Verletzt die Trinitätslehre die Schamgrenze Gottes?
    Zur Trinitätslehre: Umkehrung der Vater-Mutter-Sohn-Beziehung? Der Beistand (das Mütterliche) geht aus dem Vater und dem Sohne hervor und wendet sich nach außen, während im traditionellen Familienkonzept die Mutter dem Mann und den Kindern „Beistand“ ist, der empathische Anwalt, der alles versteht (auch den richtenden Vater).

  • 22.12.90

    Empörung schneidet jedes weitere Argument ab, gibt zu verstehen, daß der Empörte von diesem Punkt an sich selbst (seine Person) in die Waagschale wirft und nicht mehr mit sich reden läßt (vgl. Sartres Portrait eines Antisemiten). Empörung ist vergeistigtes „Martyrium“, zeigt die verzerrten Züge des „Bekenners“: Diese Empörung steht der Frau nicht zu (wird hier als Hysterie diffamiert); ihr bleibt nur der Ausweg der biologischen Unschuld: die Jungfrauenschaft. Empörung ist das säkularisierte Bekenntnis (und zugleich das aktive Bekenntnis zur Welt). So ist der Antisemit der letzte Nachfahre des Bekenners (und Vorbote des Antichrist: sein Bekenntnis drückt sich aus im apokalyptischen Zeichen des Tieres). Die confessio und die virginitas sind komplementäre Formen der christlichen Selbst- und Weltverleugnung, der mißlungenen Umkehr (in der das Selbst und die Welt aufgehoben, erhalten bleiben). Mißlungen deshalb, weil die Selbst- und Weltverleugnung selber bereits Folgen der Anpassung an die Welt (der Identifikation mit der Welt als selbstlosem Aggressor: Vorlaufen in den Tod) sind.
    Empörung instrumentalisiert die Moral und begründet so den modernen Naturbegriff.
    Bekenntnis und Messianismus: Gegenstand des Bekenntnisses ist der Name des Messias (der dann nur noch als quasi Familienname des Jesus Christus verstanden wurde). Der autoritäre Charakter erträgt es nicht, wenn dieser Name nicht sein Name (in notwendiger Verbindung mit einer der weltlichen Derivate des Messianischen: der Nation oder des Markennamens) ist. (Die Befreiung von dieser Säkularisation des Messianischen oder von der Neid-Beziehung auf das Messianische wäre die Entkonfessionalisierung.) Die tiefe Ambivalenz der Rezeption der Lehre vom mystischen Leib Christi, die ohne den Begriff der Nachfolge direkt in die Barbarei regrediert, in der Ära des Faschismus hängt hiermit zusammen.
    Bekenntnis = confessio, homologia.
    Adornos Bemerkungen „zum Ende“ auf die Heideggersche Philosophie anwenden.
    „Auf dem Gebiet der Malerei und Skulptur lautet heute das Credo der Leute von Welt: […] „Ich glaube an die Natur und glaube einzig an die Natur (und das hat seine guten Gründe). Ich glaube, daß die Kunst nichts anderes ist und sein kann, als die genaue Wiedergabe der Natur (eine furchtsame und abtrünnige Sekte will die Dinge widerwärtiger Natur, so einen Nachttopf oder ein Skelett nicht zugelassen wissen). Und so wäre denn die Industrie, die uns ein mit der Natur identisches Resultat geben würde, die absolute Kunst.“Ein rächerischer Gott hat die Stimmen dieser Menge erhört. Daguerre ward sein Messias. Und nunmehr sagt sie sich: „Da uns also die Photographie alle wünschenswerten Garantien für Genauigkeit gibt (das glauben sie, die Unsinnigen!), ist die Photographie die Kunst.“ (Charles Baudelaire, zit. nach Christina von Braun: Nicht ich, Frankfurt 1993, S. 441)
    „Was die Photographie ermöglichte, war die Verwandlung der alten, dem Untergang geweihten Natur in ein Kunstwerk. Sie diente nicht so sehr der Wahrung des Untergehenden; auf ihre Weise trieb sie diesen Untergang auch voran.“ (Christina von Braun, ebd.)
    Das Fernsehen befreit den Faschismus durch Verinnerlichung und Vergesellschaftlichung vom Bilde des Führers. Auschwitz bleibt in verwandelter Form erhalten und allgegenwärtig.
    Zum Begriff des Charakters: „Der kommende deutsche Mensch wird nicht ein Mensch des Buches, sondern ein Mensch des Charakters sein. Und deshalb tut ihr gut daran, zu dieser mitternächtlichen Stunde den Ungeist der Vergangenheit den Flammen anzuvertrauen. Das ist eine große, starke und symbolische Handlung …“ (Goebbels anläßlich der Bücherverbrennung am 10.05.1933 auf dem Berliner Opernplatz, zit. nach Christina von Braun, a.a.O. S. 445). Heute ersetzt das Fernsehen die Bücherverbrennung (und bildet den Charakter; Charakter das caput mortuum des Geistes -seine nature mort, sein Stilleben).
    Geschichte des Scheiterhaufens: Ketzer, Hexen, Bücher, die Vergangenheit – Vergeblichkeit des Opfers und Wiederholungszwang (Fernsehen: das materialisierte Totenreich oder das Absterben, die Vergängnis des Sehens) – Hegels Philosophie lt. Baader das Autodafe der bisherigen Philosophie – Vergegenständlichung des universalen Verdrängungsprozesses (Abstraktion und Verdrängung).
    Bekenntnis und Symbol (Credo und symbolum): Absterben, Verwesung und Vergiftung des Symbols durchs Zwangsbekenntnis (säkularisiertes Bekenntnis) – Verwandlung des Symbols ins Bild (Bedeutung des Bilderverbots!) – Reklame und Propaganda – das Zeichen des Tieres.
    Name und Begriff: Während der Begriff Ausdruck der Herrschaft über das Objekt (Befreiung von Angst durch deren Verdrängung durch Depotenzierung, Entmächtigung des Objekts), ist der Name Ausdruck der Anerkennung des Leidens (der passio, des Selbstgefühls): Befreiung von Angst durch deren empathische, parakletische Aufarbeitung. Voraussetzung ist, daß das Tabu über die Angst (die Gottesfurcht) aufgehoben, ihre Verdrängung nicht mehr notwendig ist.
    Das letzte Bekenntnis wird ein Schuldbekenntnis sein.

  • 28.11.90

    Wir sind in einer Situation, in der das Verbot des Gesinnungsstrafrechts, wie es scheint, nur noch die Gemeinheit schützt. Gemeinheit ist eine Funktion der Verweltlichung (oder die subjektlose Welt die Ausrede für Unverantwortlichkeit). Mit der Ausbreitung der Welt vermehren sich auch die Schlupfwinkel, in denen die Gemeinheit heranwächst. Die Anpassung an die Welt ist der Ursprung der Gemeinheit. Es ist der objektive Zynismus, gegen den juristische Mittel nichts mehr helfen, der sich in der Gemeinheit nach außen kehrt. Die Gemeinheit ist ein Teil dessen, was Hegel das Weltgericht genannt hat, das jedoch heute von der BILD-Zeitung bis zum Fernseh-Interview ungehindert öffentlich funktioniert.

    Das proton pseudos der Hegelschen Philosophie ist die Vorstellung, daß der absolute Begriff, die Idee, die Natur „aus sich entläßt“. Wenn, dann gilt dieses Konstrukt nur im Hinblick auf die zweite, nicht auf die erste Natur. In Wahrheit nämlich ist der Begriff das Medium und der Transporteur der zweiten Natur, die rückwirkend die erste ins Bewußtsein hebt, den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß in Bewegung bringt. Vor diesem Hintergrund nochmal Hiob lesen, die Antwort Gottes aus dem Gewitter auf die Anklage Hiobs

    Irgend jemand hat einmal festgestellt, daß mit dem Erscheinen des Protestantismus die Kraft der Häresienbildung erschöpft war. Das verweist darauf, daß hier ein Zustand erreicht war, in dem der Weltbegriff theologisch nicht mehr kritisierbar war, die Säkularisation sozusagen ihr Ziel erreicht hatte. Es gab keine Alternative mehr zur Welt und die Orthodoxie war selbst weltfähig geworden (Protestantismus und Gegenreformation als Gestalten der Verweltlichung der Religion, einer Religion, über die die Welt gesiegt hatte).

    Die Unfähigkeit der Kirchenväter, gegen die Häresien zu argumentieren (die Form der Argumentation, die hier erstmals erscheint, gilt heute noch insbesondere für die katholische Apologetik: sie geht auf den Gegner nicht ein, „widerlegt“ ihn nur von oben bzw. von außen), scheint damit zusammenzuhängen, daß die Orthodoxie in der Häresie, wenn sie sich wirklich darauf einließe, ihre eigenen Fehler und Versäumnisse erkennen würde; deshalb die wütende (in der Geschichte der Inquisition und der Ketzerverfolgung praktisch sich austobende) Reaktion. Schon die Kirchenväter schimpfen nur.

    Was bedeutet eigentlich die zentrale Stelle des Brot- (und Wein-) Symbols im Christentum, von der wunderbaren Brotvermehrung bis zum Brotbrechen, an dem ER erkannt wird (unmittelbar nach der Auferstehung!) und vom Kana-Wunder (Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit) bis zum Abendmahlswort, daß ER von diesem Getränk bis zur Wiederkehr (am Ende der Zeiten!) nicht mehr trinken werde.

    Sind Disteln und Dornen Gegensatzbildungen zu Weizen und Weinstock? Ist der theologische Hinweis darauf, daß das Weizenkorn absterben muß, damit es hundertfältige Frucht bringt, ein Hinweis auf eine (auch) positive Bewertung der Kulturentwicklung? Wird hier etwa versteckt die Jesus-Parabel vom Weizen, der unter die Dornen fällt, zitiert?

    In der alten Christenheit wurden bei das Taufe das Symbolum (Glaubensbekenntnis) und das Herrengebet (Vater unser) übergeben. Beide Handlungen heißen bei Augustinus noch Sakrament. Wer hat wann die Einschränkung auf die sieben Sakramente (und nur auf diese: Taufe, Eucharistie, Firmung, Buße, Priesterweihe, Ehe, letzte Ölung) veranlaßt und vollzogen?

    Ist Haschamajim ein echter Plural, oder ist es eine Parallelbildung zu Elohim, oder sind beide im ersten Satz der Genesis echte Plurale?

    Die Deutschen sitzen schon in Isolationshaft: Ferdinand Ebners „Traum“, aus dessen Bann nur der Aufwachende heraustritt, ist inzwischen – insbesondere durchs Fernsehen – zum allgemeinen komfortablen Kulturgut geworden.

    Nochmal bei Johannes (dem Logos-Theologen) das Verhältnis von Beistand, Welt und Gericht der Welt nachlesen.

    Kosmos und Physis, Welt und Natur sind Kristallisationkerne des Schuldzusammenhangs; sie lassen sich aus diesem Kontext nicht herauslösen.

    Es ist ein aus dem hierarchischen, an Rangordnungen orientierten Denken stammendes Vorurteil, daß Organisches höherrangig sei als Mechanisches; in Wirklichkeit ist jeder Organismus nur ein nach Herrschaftsgrundsätzen organisierter Instrumentalismus. Das Vorurteil stammt aus der Verwechslung des Lebens mit seiner organisch-teleologischen Struktur (der bloßen Beherrschung der organisierten Abläufe, die auch in der Gesellschaft jeweils als höherrangige Tätigkeiten gelten). Dabei ist die organische Ausgestaltung des Lebens Folge und notwendiges Korrelat der Struktur und Beschaffenheit der äußeren, „anorganischen“ Natur, gegen die das Leben sich behaupten muß: Folge des Prinzips der Selbsterhaltung unter bestimmten vorgegebenen Naturbedingungen. Nicht nur sind die von Menschen geschaffenen Werkzeuge primär den „natürlichen“ Organen nachgebildet, die Organe sind selber Instrumente, Folge der von der äußeren Natur aufgezwungenen Instrumentalisierung (mit zwangsläufigen Korrespondenzen zwischen äußerer Natur und den besonderen Formen der organischen Ausgestaltung). Der Freiheitstrieb des Lebendigen, bevor er in den verschiedenen Gestalten der Selbsterhaltung erstarrte, hat gleichsam tastend und experimentierend diese Gestalten durchlaufen müssen und dabei auf bis heute unbegriffene Weise die äußeren Bedingungen, die Struktur der „anorganischen Natur“ reflektiert und abgebildet. – Bezeichnend, daß Augustinus das Leben im Paradies als völlig durchrationalisierten und der Subjektherrschaft unterworfenen Organismus sich vorstellte und zumindest für den Zeugungsakt das Funktionieren subjektfremder autonomer Abläufe (unter der Herrschaft des Lustprinzips) ausschloß.

  • 26.11.90

    Zur Einsteinschen Wende:
    Einsteins Relativitätstheorie hat durch die Verknüpfung des Trägheitsgesetzes mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
    . die innere Grenze des Inertialsystems und damit die innere Grenze der naturwissenschaftlichen Erkenntnis (der Instrumentalisierungs-Logik, des Weltbegriffs)
    sowie
    . durch den selbstreferentiellen Bezug der Lichtgeschwindigkeit aufs Inertialsystem den Quellpunkt der Elektrodynamik, der Mikrophysik und der Chemie und damit deren Stellung und Bedeutung im Kontext der gesellschaftlichen Naturbeherrschung bestimmt. Das verleiht der speziellen Relativitätstheorie eine einzigartige Stellung im System der naturwissenschaftlichen Erkenntnis: im historischen Erkenntnisprozeß überhaupt.
    Die Quantenphysik, die die Instrumentalisierung in die Mikrophysik vortreibt (zweite Instrumentalisierung), steht in einer ähnlichen Beziehung zur Mechanik wie die Intim- und Privatsphäre zur Gesellschaft. Der Einbeziehung der Mikrophysik in das System der Instrumentalisierung und Naturbeherrschung entspricht die Vergesellschaftung der Privatsphäre, ihre Einbeziehung in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß: die neue Stufe der Ausbeutung als Selbstausbeutung (Staatliche Ehegesetzgebung, Schulpflicht; Privateigentum als Quelle, Reklame als Motor der Selbstausbeutung: Instrumentalisierung der Bedürfnisse; chemisch-therapeutische und institutionalisierte Krankheitsbekämpfung, Entwicklung der klinischen Medizin; Vergesellschaftung der Zeugung, der Geburt und des Todes; Energie- und Wasserversorgung, Elektrizität, Hygiene, Radio, Fernsehen: Vergesellschaftung der Privatsphäre, in der am Ende alle nur noch Gäste sind und niemand mehr zu Hause ist). Die Arbeit dient nicht mehr der Selbsterhaltung, sondern der Erhaltung der fremdbestimmten Privatexistenz, die durch Vergegenständlichung, Selbstentfremdung zur öffentlichen Angelegenheit, zum Objekt von Naturbeherrschung geworden ist: zur Sphäre des Medientratsches und des demonstrativen Konsums (der Preis für Selbstausbeutung durch Herrendenken: Vergegenständlichung der traszendentalen Logik im Inertialsystem). – Die Vergesellschaftung des Intimen als Quelle der Gemeinheit (Ursprung und Geschichte der Scham; Schuld und Intimbereich).
    Die Einmaligkeit, Unwiederholbarkeit und Unmitteilbarkeit des Individuellen manifestiert sich u.a. in der Nichtkommunizierbarkeit der Empfindungen, der Sinnesqualitäten, die nicht an sich, sondern – wie die Vergangenheit – nur über ihre Namen (rot, warm, hell u.ä.) sich mitteilen. Zusammenhang mit Sexualität (Lust), Scham und Schuld.

  • 10.10.90

    In seiner Predigt vor der Herbstvollversammlung der deutschen Bischofskonferenz in Fulda vermißte Karl Lehmann die „dankbare Freude“, statt dessen werde „Trübsinn, Vergangenheitsbeschwörung und gottferne Skepsis gepflegt“ (FR vom 26.09.90). Karl Lehmann auf J. Ebachs Interpretation der Geschichte von Lots Weib hinweisen? Der Begriff „Vergangenheitsbeschwörung“ zusammen mit dem Hinweis auf „Trübsinn“ und „gottesferne Skepsis“ macht die Verwirrung, die den deutschen Katholizismus heute beherrscht, (den Verdrängungsprozeß und die Verblendung, unter denen die Kirche heute leidet) mit einem Schlage sichtbar.

    Die Verwendung des Begriffs „Vergangenheitsbeschwörung“ läßt sich nur durch einen vollständigen Mangel an Gottesfurcht erklären.

    Die Todesstrafe wurde abgeschafft, als die Menschen nicht mehr an die Hölle glaubten. Dafür wurde dann die lebenslängliche Haftstrafe eingeführt und entsprechend ausgestaltet. Die Abschaffung der Todesstrafe war außerdem überdeterminiert, da nach Auschwitz zu viele das Risiko zu fürchten hatten.

    Das Gefängnis ist heute der Ort, an dem Menschen zu qualitätsloser Materie fertiggemacht werden. Es mußte einfach in der Industriegesellschaft einen Ort geben, der noch schlimmer war als die Fabrik. Das wirft ein Licht auf die Argumente der allgemeinen Niedertracht: „Denen geht’s ja viel zu gut“.

    Zu dem Prinzip „man darf alles tun, sich nur nicht erwischen lassen“: Das Prinzip ist erweiterungsfähig: Jede Gemeinheit ist zulässig, solange sie nicht ausdrücklich rechtlich untersagt ist; und Gemeinheit ist nicht justiziabel. Nach diesem Prinzip verfährt heute ein nicht unerheblicher Teil sowohl der Medien (von BILD bis FAZ) als auch unserer Justiz (von den Ermittlungsbehörden über unsere Gerichte bis zu den Aufsichtsorganen in den Strafanstalten).

    Das Gewaltmonopol des Staates drückt sich mittlerweile in den Folgen der Komplizenschaft einer Gemeinheit aus, die bewirkt, daß fast alles erlaubt ist, weil nichts mehr nachweisbar ist. Darin überlebt auf eine perfektionierte und gewitzte Weise Auschwitz.

    Im übrigen wurde Auschwitz vorbereitet in den kirchlichen Höllenpredigten (der Schule der Gemeinheit).

    Zum Problem des Selbstmitleids: Nach Walter Benjamin ist der Kleinbürger Teufel und arme Seele zugleich, arme Seele für sich und Teufel für die andern. Heute gibt es hierzu keine Ausnahme mehr, heute sind alle Kleinbürger. Genau darin liegt die ungeheure Gefahr und die Gewalt des Selbstmitleids. Vgl. hierzu Edgar Morins Antwort auf die Frage, warum die Menschen im Kino weinen.

    Im Übrigen ließe sich die Hölle sehr gut als Kino vorstellen, nur daß in der Hölle die Verdrängung entfällt, das reale Bewußtsein der Situation hinzukommt. Diese Situation ist heute durch das Fernsehen individualisiert und privatisiert worden.

    Naturkonstanten wie z.B. Masse und Ladung des Elektrons verweisen allesamt auf strukturelle Gegebenheiten, nicht auf Dingeigenschaften. Wer das verwechselt, ist potentieller Antisemit.

    Mir scheint, in der Auseinandersetzung mit der Postmoderne in Frankreich wird die mißlungene Auseinandersetzung mit dem Positivismus wie unter einem Wiederholungszwang nochmals mißlingend wiederholt. Die Leute wollen sich einfach die „Dinge“ nicht aus dem Kopf und aus der Hand schlagen lassen, weil sie fürchten, dabei sich selbst zu verlieren.

    Wären Menschen, die vor zweieinhalb Tausend Jahren Propheten wurden, heute vielleicht schizophren? Und säße Ezechiel heute in der Anstalt eines Landeswohlfahrtsverbandes?

    Zum Problem „Insektenforscher“: Der Begriff erweckt den Eindruck, als sollten Probleme der Kirche und der Hierarchie ohne Emotionen untersucht werden. Das ist nicht ganz korrekt: Affekte sind sehr wohl angemessen und notwendig; ich würde sagen: wenn es sein muß mit Zorn, aber ohne Empörung (beide unterscheiden sich durch ihre Richtung: der Zorn geht zur Sache, die Empörung gegen Personen).

    Zum Bruch zwischen der Vätertheologie und der Scholastik: Vätertheologie und Dogmenentwicklung als Anpassung der Theologie an die Welt, als der Versuch, sich als Kirche in der Welt einzurichten; war möglich, weil ihm ein philosophischer Weltbegriff (Begriff des Kosmos) entgegenkam. Dieser Weltbegriff, den Spengler mit dem Begriff der arabischen Kultur zu fassen versucht hat, mußte untergehen, ehe die dann weitergehenden Konsequenzen daraus gezogen werden konnten. Theologie mußte mit einem neuen Weltbegriff verbunden werden, der aus der Theologie zu entwickeln war: Das ist die Leistung der wissenschaftlichen Diskussion seit den Anfängen der Scholastik (Entwicklung des instrumentalisierten Begriffs).

    Theologie als Geschichte der Auseinandersetzung mit der Philosophie (mit dem Herrendenken, dem die Theologie mit der Rezeption der Philosophie dann selbst verfallen ist).

    Karl Thieme hat einmal die Geschichte des Schiffsbruchs vor Malta eschatologisch interpretiert: als Typos der Rettung der Völkerwelt (mit Ausnahme des einen Volkes, dessen Rettung nicht Sache der Kirche ist) bei gleichzeitigem Untergang des Schiffes (der Kirche). Er hat einen Punkt dabei übersehen: das Schiff ist infolge eines Sturms untergegangen (durch den Geist). – Vgl. auch die Geschichte mit der Natter (Paulus wird von der Natter gebissen, stirbt aber nicht, sondern überlebt, nachdem er sie ins Feuer geworfen hat: verniedlichter Höllensturz des Drachen).

    Heidegger war der Sache ganz nahe: Sein „Gestell“ ist in Wirklichkeit das Gericht.

    Die „Summa contra gentiles“ war der Weg, über den der Islam in das Christentum eingedrungen ist. Nach der Hellenisierung und Islamisierung wäre heute die Judaisierung des Christentums an der Reihe.

    Drückt in der kirchlichen Kampagne gegen die Abtreibung vielleicht doch ein Stück Projektion sich aus. Wird hier nicht etwas angegriffen, dessen man sich selbst schuldig fühlt: der Abtreibung der Wahrheit (durch deren Instrumentalisierung im Interesse des Herrendenkens).

    Eine Philosophie des Namens müßte die ganze Spannbreite des Sprachgebrauchs abdecken: vom „das ist in unserem Namen geschehen“ bis zum „die Dinge beim Namen nennen“.

    – Im Bereich des Namens gibt es keine Subsumtionsbeziehungen.

    – Im Namen ist die Trennung von Begriff und Objekt aufgehoben.

    – Das Sein ist der Annihilationspunkt des Namens, der Punkt, an dem der Name in den Begriff umschlägt, die Subsumtionslogik, das Herrendenken beginnt (Quellpunkt des Begriffs).

    – Rührt das emphatische, das gleichsam theologische Verständnis der Ontologie her vom ontologischen Gottesbeweis?

    – Nicht das Eine oder die Einheit, sondern der Eine ist ein Gottesname.

    Adams Namengebung der Tiere verweist auf den Zusammenhang von Benennung, gegenständlicher Erkenntnis, die „katastrophische“ Genesis der Tiere (DdA) und den Zusammenhang mit den apokalyptischen Tieren (den singulären Chaosmächten: den falschen Umschlag des „Begriffs“ als absoluter Begriff in den Namen). – Hiob nochmal lesen: Behemoth und Leviathan; welche Bedeutung der Hinweis auf diese Tiere an dieser Stelle hat: Begründung der Gottesfurcht? – Zusammenhang mit der Erschaffung Evas (Namengebung der Tiere vorher), der Geschlechtertrennung und dem Auftrag zur Naturbeherrschung, sowie mit dem Baum der Erkenntnis (Erkenntnis des Guten und Bösen).

    Merkwürdige grammatische Beziehung: Die Erhebung in die Allgemeinheit verwandelt ein Maskulinum in ein Femininum. Jede -heit und -keit ist feminin, jeder -ismus ist maskulin. Oder auch: der Logos, aber die Ontologie, Theologie, Geologie etc. – Gattung und Art sind feminin (im Deutschen, aber genus und species?), das Individuum ist neutrum.

    Die Raumkontraktion und die Zeitdilatation beschreiben genau den Punkt, an dem die die sinnliche Welt in die physikalische umkippt: die Grenze zum Objekt. Man muß den prozessualen Vorgang nur rückwärts lesen.

    Das Ätherproblem ist mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit gelöst worden: Es ist das Problem der inneren Grenze des Inertialsystems.

    Die Tatsachenwelt ist in der Tat eine: Die Welt ist ein Produkt des Tuns; in der Konstruktion der Welt steckt das Tun der Menschen, der Gesellschaft: der Staat. Durch dieses Tun sind die Menschen, ist die Gesellschaft mit in den Schuldzusammenhang verflochten. Und auf dieses Tun müßte sich heute die Gewissenserforschung richten, deren Resultat eine neu begründete Theologie wäre. Der Inbegriff dieses Gewissens ist die jüdisch-christliche Tradition, die der Antisemitismus (im Auftrag der Welt) aus der Welt schaffen wollte. Wenn die Beichte heute den wirklichen Problemen in Deutschland (nach Auschwitz) überhaupt nicht mehr angemessen ist, dann hängt das damit zusammen. Der eigentliche Gegenstand der Beichte wäre das Erbe der Philosophie.

    Ist der (kultische) Opferbegriff dem Kreuzestod Jesu angemessen? Wo und von wem wurde zum erstenmal der Opferbegriff hierauf angewandt? Und wie war hier der Opferbegriff gemeint, real oder symbolisch (als Teil der Aufhebung des Opfers)?

    Was bedeutet die „Erhöhung des Herrn“, und zusammen damit das „Sitzen zur Rechten Gottes“: Die Rechte ist die Seite der Gnade, des Erbarmens (aber von hinten ist sie die Linke, die Seite der Strenge, des Gerichts – Bedeutung der Umkehr!). Wie verhält es sich mit dem Wort: „…, der ißt und trinkt sich das Gericht“? Hat nicht die Mysterientheologie durch den Zusammenhang, in den sie die sakramentale, mystische Teilhabe der Gläubigen an der Erhöhung des Herrn rückt, diese Erhöhung zur Hypostase des Gerichts gemacht?

    „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Dieses Wort Jesu verweist darauf, daß die Wahrheit nicht nur gegenständlich ist, sondern auch subjekthaft (wer das Subjekt in der Wahrheit durchstreicht, streicht die Wahrheit durch.)

    Vielleicht stimmt es, daß die Beziehung der Juden zu Gott unmittelbar ist (F. Rosenzweig), die der Christen ist es nicht. Hier bedarf es – auch im Sinne der Mysterientheologie – des Durchgangs durch den Tod. Heideggers „Vorlaufen in den Tod“ hält davon die letzte und allerabstrakteste Erinnerung fest, oder auch die letzte Erinnerung des islamischen Verständnisses des Martyriums als Tod im Heiligen Krieg. Auch bei Heidegger ist ja das „Vorlaufen in den Tod“ Teil des heroischen Gestus seiner Philosophie. (Anzumerken ist: Der Islam hat den Heiligen Krieg gepredigt, das Abendland hat ihn – zuletzt im sogenannten „Weltanschauungskrieg“, der ein Vernichtungskrieg war – aufs fürchterlichste praktiziert.)

    Der Zusanmmenhang von Objektivation und Instrumentalisierung (Vorhandenheit und Zuhandenheit bei Heidegger) verweist auf einen absoluten Vorrang des dreidimensionalen Raumes.

    Hegels Offenbarungsbegriff bezieht sich auf die Konstantinische Wende (das Ergebnis des Dogmatisierungsprozesses: das Christentum als Staatsreligion), nicht auf das Leben und die Taten und Leiden Jesu. Nicht zuletzt deshalb erscheinen auch bei Hegel die antijüdischen Vorurteile, die zu den Voraussetzungen und Folgen der Konstantinischen Wende gehören.

    Die Wirkung des Bekenntnissyndroms auf den Bekenntnisinhalt kann man daran erkennen, daß das Symbolum das Leben und die Lehre Jesu nicht erwähnt. Jesus ist nur geboren, gestorben und auferstanden; was dazwischen liegt, wird verschwiegen und ist auch im Rahmen des Bekenntnisses wohl nicht faßbar. Die Hegelsche Philosophie hingegen bezieht ihre ganze Stringenz aus diesem Bekenntnissystem; das Bekenntnis ist sozusagen die nicht mehr reflektierte Grundlage der Hegelschen Philosophie. Und die Bekenntnis-Theologie ist zum Inbegriff eines verworfenen, hoffnungslosen Glaubens geworden.

    Zu Dezisionismus und Bekenntnis: Die Ontologie ist nicht nur dezisionistisch, sondern auch Bekenntnis-Ontologie. Durch das Bekenntnis ist mit der Philosophie das dezisionistische Moment in die Theologie hereingekommen, und das war die Grundlage der Trinitätslehre und der Lehre von der Göttlichkeit Jesu im Sinne einer (nicht ewigen, sondern) überzeitlichen Göttlichkeit. Dieser Dezisionismus oder das Bekenntnis haben die Verwechslung des Ewigen mit dem Überzeitlichen ermöglicht. (Zum Begriff des Ewigen vgl. auch Rosenzweigs Aufsatz.) Überzeitlich ist der Staat (der Begriff), ewig ist der Gegenstand der Theologie (der Name).

    Wer sich mit dem Staat befaßt, wird den Staatsanwalt nicht vermeiden können.

    Jede Architektur ist ontologische und Bekenntnisarchitektur.

    Die Terroristen sind der Nachfolge Christi näher als die elitären Mysterientheologen.

    Zum Eckstein, den die Bauleute verworfen haben: Heute geht es nicht mehr nur um den Eckstein; sondern die Materialien, aus denen die Theologie zu erbauen wäre, bestehen nur noch aus den verworfenen Materialien, aus Ruinen. Zuerst ist die Betondecke zu zertrümmern, die die Ruinen der Geschichte zudeckt.

    Zu den Ursprungsbedingungen des pathologisch guten Gewissens gehören auch die historischen Verdrängungsprozesse, insbesondere jene die mit der Ursprungsgeschichte der modernen Aufklärung, vor allem der modernen Naturwissenschaften zusammenhängen. Erst wenn es gelingt, die Tathandlung, die die Naturwissenschaften ins Leben gerufen hat, und deren Folgen in der Welt selbst zu begreifen, erst dann gelingt es auch, jene Verdrängungsblockade aufzuheben.

    Modell für die Neutralisierung durch Erkenntnis ist das „pecunia non olet“. Deshalb wird man nicht umhin können, in der Vergangenheit „herumzuschnüffeln“.

    Es gibt zwei Formen der Entstehung von Vergangenheit. Die eine ist die historische: Mit jedem Tag vermehrt sich die Vergangenheit (die dann hinter uns liegt). Die zweite ist die natürliche (die auf uns lastet): sie ist gegenläufig zur historischen.

    Gefühl des Schwindels, wenn der Boden des Herrendenkens unter den Füßen weggezogen wird (Adorno): Die Kritik des Dings trifft auch das Subjekt zentral (in seinem blinden Fleck).

    Die Wahrheit ist antisystematisch, systemkritisch. Wenn sie trotzdem selbst systematische Züge trägt, rührt das her aus der Kritik des Herrschaftssystems, dessen Strukturen sich verkehrt in der Wahrheit abbilden. Darin liegt die unermeßliche Bedeutung der Hegelschen Philosophie.

  • 12./13.05.90

    „Überzeugen ist unfruchtbar“: und zwar aus sprachlichen Gründen. Zusammenhang mit Rechtfertigung (Ich-Stütze in der vom Schuldzusammenhang bestimmten Gesellschaft, wird vom Adressaten als Angriff, als Schuldvorwurf erfahren) und mit dem Rechtsurteil (das seine Überzeugungskraft aus dem Gewaltmonopol des Staates, das ihm zugrundeliegt, gewinnt; Grund der Remythisierung). Folgen für die Konstruktion einer Lehre, die keine Dogmen und keine Sprechblasen produziert und nicht an den demütigenden Bekenntniszwang gebunden ist: die Lehre einer entkonfessionalisierten Politik und Religion.

    „Nie wieder Deutschland“: Bezeichnend die Medienreaktion; falsche Teilnehmerzahlen, verwischende und falsche Angaben über die „gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei“. Apriorisches Feindbild der Polizei, die offensichtlich (nach entsprechender Vorbereitung in den Medien vor der Demo und Realisierung des eigenen strategischen Konzepts während der Demo) ihren Fernsehauftritt gesucht (und am Ende auf dem Römerberg auch herbeigeführt) hat. Die Politik hat die Bearbeitung ihrer eigenen Widersprüche der Polizei übertragen: Das ist genau der Ursprung des Polizeistaats. der nachträglich das „Nie wieder Deutschland“ begründet und rechtfertigt, wie unangemessen, unausgegoren und unreif die Beiträge der Initiatoren der Demo dann auch immer waren.

    Esther und Judith prophetische Bücher (aber antiimperialistische)? Kritik und Ergänzung der – patriarchalischen – apokalyptischen Tradition (nach dem Einbruch des babylonisch-römischen Imperialismus und dem Ende jüdischer Nationalpolitik, jüdischer Königsgeschichte)? – Bedeutung feministischer Theologie (Magdalena und Messias-Salbung)?

    Die Siebener-Perioden binden die Apokalypse an die Schöpfung? Was würde eine Synopse der 7er-Perioden bringen (Gemeinden, Engel, Posaunen, Plagen, Schalen des Zorns, Siegel)?

    Der moderne Nationalismus (insbesondere der deutsche) ist der demokratisierte alte (römische) Kaiserkult. Der nationalsozialistische Arier-Rassismus (und die Ausländerfeindschaft von heute) bringen das auf den zeitgenössischen Begriff; Grundlage und zwangslogischer Kontext ist das pathologisch gute Gewissen (in dem das falsche Bewußtsein zu sich selbst gebracht, auf seinen eigenen Grund zurückgeführt wird), Reflex der realen Komplizenschaft. Sartre hat die Person des Antisemiten genau gezeichnet. Vgl. auch W.B.: Der Kleinbürger ist Teufel und arme Seele zugleich (d.h. er ist Teufel als arme Seele, durch Selbstmitleid).

    „Die radikale Linke“: Genügt eigentlich noch der Nachweis der Notwendigkeit linker Politik (Rosa Luxemburgs Theorie der Selbstzerstörung des Kapitalismus durch den zwangsläufig, aus seiner eigenen Entwicklungstendenz folgenden Imperialismus), wäre nicht zumindest ebenso wichtig die Reflexion auf die Notwendigkeit des Scheiterns des real existierenden Sozialismus (die nicht nur Folge der Unzulänglichkeit von Personen ist, sondern vor allem der Unvereinbarkeit von Sozialismus und Herrschaftssystem)?

  • 15.01.90

    Die Subjekte als Verblendungszentren: Jeder hat seine Privat-Empörungsmechanismen, auf denen sein Selbstbewußtsein aufruht (und mit denen es seine Verdrängungen unter Kontrolle hält): Urteile über andere sind nicht selten Projektionen zur Selbstentlastung („Der Ankläger hat immer Unrecht“), Es-Strategien, um peinliche, der Verdrängung unterliegende Fakten der Wahrnehmung und der Diskussion zu entziehen. Der Schuldzusammenhang ist eigentlich ein Schuldverschubsystem; darin gründet der Verblendungszusammenhang.

    Ästhetisierung: Das Fernsehen übt in die Rolle des Zuschauers ein. Der Preis dafür, daß der Zuschauer dem Schuldzusammenhang der vor ihm ablaufenden Handlung enthoben ist, nicht real teilhat an dem Geschehen, außer als Voyeur (gleichsam in einer universalen kleinbürgerlichen Nachbarschaftsbeziehung), ist seine Ohnmacht: Er kann in die Handlung nicht eingreifen, er kann nichts ändern. Als Voyeur weiß er alles, mehr noch: er weiß alles besser. Es ist die gleiche (quis ut deus- oder Teufel-/arme Seele-)Rolle, die der Forscher bei einem Experiment einnimmt, die ebenfalls darauf hinausläuft, daß alle Schuld in die Materie projiziert wird, darin sich vergegenständlicht, den zuschauenden Forscher dagegen freispricht: Einübung in und Stabilisierung, Habitualisierung von „Empörung“, die den Schuldzusammenhang konstituiert und in ihn hineinführt (Theorie der Empörung als Teil der Erkenntnistheorie und Teil einer Theorie der Materie; Zusammenhang mit allem, was der Fall ist; Genese des „pathologisch guten Gewissens“?).

  • 09.12.89

    Die Diskussion der Ereignisse in der DDR hat etwas Gespenstisches. Unterschlagen werden generell die äußeren Bedingungen (Glasnost und Perestroika, die Entwicklung in Polen und Ungarn, die Verstärkerwirkung der westlichen Medien-Berichterstattung auf die ansteigende Republikflucht in den letzten Wochen, nicht zuletzt die – wenn auch bisher im einzelnen nicht nachweisbare, so doch zu vermutende – direkte Einflußnahme aus der BRD: BND, nationalistisch gestimmte Jugendverbände von JU bis Wikingerjugend, offenkundige Absprachen zwischen Oppositionsgruppen in der DDR und westdeutschen Fernsehteams über Demonstrationen …). Das alles schließt die Anerkennung der Emanzipationsleistung der DDR-Bevölkerung nicht aus, rückt sie nur in eine realistischere Perspektive, macht aber vor allem die propagandistische Verwertung der Ereignisse im Sinne des hier epidemisch sich ausbreitenden Nationalismus schwerer, wenn nicht unmöglich. Die Angst ist nicht unbegründet, daß dieser Nationalismus von der Erwartung lebt, eine „Wiedervereinigung“ könne, indem sie die offene Wunde der Spaltung schließt, den Zwang zu Erinnerung an die unerträgliche Schuld auflösen. Die Gefahr der Auflösung der VVN gewinnt unmittelbaren Symbolwert: daß mit der SED und ihrem Markenzeichen Antifaschismus die Aufarbeitung der Vergangenheit insgesamt diskriminiert wird. Der Untergang des Kommunismus in Osteuropa scheint der Nazi-Invasion in Rußland, dem Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg im Osten nachträglich recht zu geben und so den Faschismus freizusprechen. Das alles könnte das ohnehin wahnhafte Klima der zweiten Schuld in Deutschland stabilisieren und der Angst einen endgültigen Grund geben.

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