Freud

  • 20.09.87

    Die Freudsche Psychoanalyse ist auf andere Weise, als ihr selbst bewußt war, an den Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gebunden: Das Problem, als dessen Lösung die Psychoanalyse sich begreift, ist kein unhistorisches und die Lösung ist nicht für alle Zeit gültig, sondern beide, Problem und Lösung, sind an einen bestimmten Stand der Aufklärung, genauer: der Stellung des Bewußtseins zur Objektivität, gebunden; und dieser Stand der Stellung des Bewußtseins zur Objektivität wird substantiell und entscheidend durch den Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis (durch den Stand der historischen Auseinandersetzung mit der Natur, von der die Naturwissenschaften ein Teil sind) bestimmt und geprägt. Nachzugehen wäre der Vermutung, daß die Psychoanalyse in ähnlicher Weise als eine Grenzbestimmung der Naturwissenschaften sich begreifen läßt wie etwa die spezielle Relativitätstheorie. Das hätte freilich Konsequenzen, die weit über eine Ortsbestimmung der Psychoanalyse hinausgehen.

    Die Physik spaltet die Welt auf in das Produkt theoretischer Konstruktion (= Material und Instrument technischer Naturbeherrschung) und in das Chaos des Gegebenen, das Reich der Qualitäten und Empfindungen, das aus sich selbst nicht mehr verständlich, somit irrational ist. Psychoanalyse und spezielle Relativitätstheorie sind an den Grenzen dieses abgespaltenen Reichs angesiedelt.

  • 08.11.87

    Bezeichnet der Begriff der Existenz bei Heidegger und Jaspers – ähnlich wie der der „Werte“ bei Scheler – nicht doch primär ein Moment des materiellen Daseins, werden nicht die Heideggerschen Analysen durchsichtig, wenn man vom Sprachgebrauch ausgeht, in dem Existenz bedeutet, daß die – vor allem beruflichen – Voraussetzungen für die private Reproduktion des Lebens gegeben sind? Inhaltliche und formale Grundlage der Existenzphilosophie wäre demnach in einem prononcierten Sinne die Ökonomie, und nur durch Ökonomie vermittelt Natur und Geist („Dasein“), die im übrigen nicht zufällig im Kontext der Fundamentalontologie nicht mehr streng sich auseinander halten lassen.

    NB.: Ist der Biologismus Freuds etwa sowohl Biologismus als auch gleichzeitig, ohne metabasis eis allo genos, einer ökonomischen Auslegung fähig und bedürftig? – Verhältnis des durchs Tauschprinzip vermittelten Materialismus zum naturwissenschaftlichen! – Wo ist in der Ökonomie der Bereich, der dem der sinnlichen Wahrnehmung im Verhältnis zu Physik entspricht?

    (später) Adornos „erster und einziger Grundsatz der Sexualethik“ gilt nicht nur für den Spezialfall, sondern für die Ethik insgesamt: Der Ankläger hat immer unrecht. Die moralische Verantwortung für das eigene Handeln und für die Andern läßt sich nicht auf andere Subjekte anwenden (übertragen); die Umkehrung der Handlungsanweisung, die unmittelbar nur für das zum Handeln aufgeforderte Subjekt selbst gilt, in ein Urteil über andere ist nicht erlaubt; sie verwandelt die Ethik in ein Herrschaftsmittel, sie instrumentalisiert sie; sie verletzt das in der Handlungsanweisung aufscheinende Absolute; sie verwandelt ein Gebot in ein Gesetz; sie ist blasphemisch. Das ist gemeint mit dem Satz „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“. Gegen diesen Satz verstößt die Wertethik (die die Ethik in ein System von Urteilen – über vergangenes Handeln, das dann eo ipso zu dinglichen Eigenschaften gerinnt – verwandelt); Folge und Produkt dieses Verstoßes ist die Existenzphilosophie, in der das Subjekt nur noch als Objekt, als Gegenstand des Urteils (das für es – als „Sein“ – das Absolute ist), als gerichtetes vorkommt.

  • 27.02.88

    Kann es sein, daß mit dem Verschwinden der Gottesidee (die im übrigen lange vor dem Verschwinden des manifesten Gottesglaubens einsetzt) etwas in der Struktur des Subjekts derart sich verändert, daß auch die Anwendung der Psychoanalyse davon berührt wird? Verschwindet nicht zugleich auch der Ödipuskomplex; und zwar in der Folge von Änderungen in der Ich-Struktur, die die Relation von Neurose und Psychose im Kern verändert haben? Sind diese Änderungen u.a. Grund dafür, daß in der Schizophrenie-Forschung heute Therapie-Möglichkeiten entdeckt werden können, die es vor achtzig Jahren einfach noch nicht gab? Ist m.a.W. die Normalität heute der Psychose näher als die Neurose? Ist der Faschismus historisch erkennbar geworden? (Vgl. hierzu nochmals Theweleits „Männerphantasien“).

    Die Narzißmus-Diskussion scheint den gleichen Sachverhalt als Anlaß gehabt zu haben: Eine Theorie der Gesellschaft, die aus dem Stand der Naturbeherrschung (dem Erkenntnisstand der Naturwissenschaften) zu entwickeln wäre, müßte das Problem auflösen können. Der Feminismus ist ein ebenso begründeter wie ohnmächtiger Protest gegen diesen gegenwärtigen Weltzustand.

  • 2.5.1997

    Heute schilt man die Reflektierenden rücksichtslos, weil sie auf die Verdrängungen der Andern keine Rücksicht nehmen. Empfindlich ist das zur Schuldreflexion unfähige Gewissen.

    Zur antisemitischen Vorgeschichte der Denunziation: Stefan Wyss berichtet von einem Fall aus der Geschichte der Inquisition, in dem ein Beichtvater einer Beichtenden, die einer marranischen Gruppe angehörte, die Absolution nur unter der Auflage erteilte, daß sie die anderen Mitglieder dieser Gruppe bei der Inquisition denunzierte.

    Aus dem gleichen Umkreis stammt auch der Begriff der „Selbstbezichtigung“, der auf ein Verhalten sich bezog, durch das ein Verdächtiger unter gewissen Bedingungen der Verfolgung sich entziehen konnte. Der Ausdruck war insofern begründet, als mit einer Selbstbezichtigung nur der Verdacht sich bestätigen, nicht aber die Tat sich nachweisen ließ; eine Selbstbezichtigung unterschied sich vom Schuldbekenntnis, vom Eingeständnis der Tat, dadurch, daß sie auch falsch sein konnte. Nach der Inquisition haben erst die stalinistischen Schauprozesse wieder von diesem Mittel Gebrauch gemacht.

    Im Munde der Bundesanwaltschaft gewinnt der Begriff der Selbstbezichtigung die Qualität eines instrumentalisierten Freudschen Versprechers: Hier wird ein begriffliches Merkmal der Anklage, die in der Tat eine bloße Bezichtigung ist, auf das Bekenntnis der Täter verschoben: hier wird das Bekennerschreiben, das eins ist, zum „Selbstbezichtigungsschreiben“, das offen läßt, ob der, der es verfaßt und veröffentlicht hat, auch die Tat begangen hat, deren er sich „bezichtigt“. Imgrunde kann die Anklage in Staatsschutzprozessen nur davon ausgehen, daß die Angeklagten grundsätzlich lügen, Beweismittel manipulieren oder vernichten, daß m.a.W. ein rationaler Diskurs mit den Angeklagten nicht möglich ist; deshalb gibt es zur Isolationshaft keine Alternative. So „bezichtigt“ z.B. die BAW Birgit Hogefeld nur der Taten, von denen sie selbst nicht weiß, ob sie sie auch begangen hat; für das Gericht gelten diese Bezichtigungen so lange, wie sie nicht widerlegt werden, als bewiesen. Und diese „Beweisführung“ wird dadurch erleichtert, daß die Angeklagte durch die Haftbedingungen in ihren Verteidigungsmöglichkeiten behindert wird (apagogische Beweisführung unter Laborbedingungen).

    Zur inneren Differenzierung des Begriffs der Selbstbezichtigung: In der Geschichte der Verfolgung der Marranen ging es darum, die Infamie mit ihren eigene Waffen zu bekämpfen, um sich selbst, das eigene Jüdischsein, zu retten; in den stalinistischen Prozessen dagegen um das Mitspielen in einem Schauspiel, das, um die Idee der Befreiung zu retten, die Öffentlichkeit hinters Licht führen sollte, auch wenn man selbst dabei zum Opfer wurde (wie hängt die Idee der proletarischen Revolution mit Hegels „Weltgericht“ zusammen, und die Selbstbezichtigungen der Angeklagten in den stalinistischen Schauprozessen mit Marx‘ „Veränderung der Welt“?).

    Über das Verfahren des apagogischen Beweises hängt das Marranenproblem mit der Geschichte der Konstituierung der subjektiven Formen der Anschauung zusammen, die in den Staatsschutzprozessen endet.

    „Schweinehund“: Marranen (zwangsgetaufte Juden, die nur äußerlich der christlichen Umwelt sich anpaßten, im Innern aber Juden geblieben waren) waren „Sauhunde“; die Wut, die sie in ihrer Umwelt hervorriefen, gründete darin, daß die zwangsangepaßten Christen in ihnen sich selbst und die Logik des Zwangsbekenntnisses, dem sie sich unterworfen hatte, wiedererkannten. Erweist sich nicht vor diesem Hintergrund Name des Schweinehundes und der „Kampf gegen den inneren Schweinehund“ (heute: die „Dressur des inneren Schweinehundes“) als das missing link in der Geschichte des Übergangs vom Antijudaismus zum Antisemitismus, bezeichnet er (im Bilde des Marranen) nicht den Punkt, an dem der Antijudaismus rassistisch wird?

    Zur Vorgeschichte der Klandestinität gehört das Marranentum (vgl. auch die Geschichte der Schiiten, die „Praxis der Verheimlichung, verbunden mit politischer subversiver Tätigkeit“ im Kontext der „Privatisierung öffentlicher Macht“ bei Kippenberg: Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, S. 459f).

    Die Parabel vom Weizen, der auf den Weg, auf steinigen Grund, unter die Dornen fällt, ist eine Parabel über den Zustand der Welt, in die das Christentum hineingeschickt wird.

    Bis heute haben alle Rachephantasien nur dem Feind genützt, haben ihn stärker werden lassen.

    In der Schrift sind nur männliche Namen theophore Namen, weibliche Namen sind im allgemeinen aus der Pflanzen- und Tierwelt.

    Die Frage nach dem Naturgrund von Herrschaft ist eins mit der kantischen Frage, warum die subjektiven Formen der Anschauung gleichwohl objektiv sind. Weist sie nicht zurück auf den zweiten Schöpfungstag, die Feste des Himmels, die die oberen von den unteren Wassern trennt?

    Ist das Relativitätsprinzip das naturwissenschaftliche Pendant der „Feste des Himmels“, und ist es nicht – als Instrument der Instrumentalisierung – der Unzuchtsbecher, das Instrument der Dauervergewaltigung?

    Im Feuer manifestiert sich die Beziehung zwischen dem Angesicht und dem Seitenblick: zwischen dem Licht und seiner Abbildung im Inertialsystem, der Elektrodynamik. Das Feuer wird in der Physik selber repräsentiert durchs Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und durch die Planck’sche Strahlungsformel.

    Die Beziehung von Natur und Freiheit bei Kant ist Ausdruck dieser Beziehung des Seitenblicks zum Im Angesicht: des Feuers.

    Der Bann der Anpassung an die Welt (an den objektivierenden Seitenblick) läßt sich nur durch die Theologie im Angesicht Gottes, in dem ich mir selbst durchsichtig werde, lösen.

    Theologie heute: Der Versuch von etwas zu reden, von dem man – wie Franz Rosenzweig von Gott Mensch Welt – nichts weiß. Die Bewegung, die dieses Nichtwissen bei Franz Rosenzweig durchläuft: Ist das nicht die Bewegung, in der Daniel den Traum des Nebukadnezar, den dieser nicht mehr weiß, rekonstruiert?

    Zur Gegenreformation gehört eine Moraltheologie, die als Pornographie im Gewande der Moral sich begreifen läßt. Sie stellt Adornos Satz „Erstes Gebot der Sexualethik: Der Ankläger hat immer Unrecht“ auf den Kopf.

    Hat das Wort „Ich schaffe die Finsternis und bilde das Licht“ etwas mit der Beziehung von Occident und Orient zu tun, mit Westen und Osten (ex oriente lux)?

    Ist nicht der apagogische Beweis, der das heliozentrische System fast unangreifbar macht, der Instrumentalisierungsbeweis (der Beweis durchs Experiment)? Dehalb gehört zum apagogischen Beweis, der insbesondere als Instrument des Staatsschutzes Anwendung findet, die Folter. Die Zwangsbekehrung der Juden (das Marranentum) war ein Instrument der Selbstinstrumentalisierung der Religion, die experimentelle Erprobung der Reichweite der Bekenntnislogik. Der Preis war die Universalisierung der Feindbildlogik und die Außerkraftsetzung des „in dubio pro reo“. Sie hat den Angeklagten zum Feind gemacht, gegen den die Anwendung der Folter zulässig ist. In der Konsequenz dieser Logik wird der Ankläger zum Anwalt des Staates, des Rechts, nicht der Gerechtigkeit (der Gebrauch, der im Titel des Staatsanwalts vom Namen des Staats gemacht wird, setzt an die Stelle der Gerechtigkeit das Recht, trennt das phainomenon vom noumenon).

    Wie hängt der apagogische Beweis mit der Selbstbegründung der Mathematik (mit der Konstruktion des adialogischen synthetischen Urteils apriori) zusammen, der Begründung einer Welt, die sowohl vom Licht wie von der Sprache abstrahiert?

    Das Gravitationsgesetz ist das Bild des Schuldverschubsystems.

    Gibt es einen Zusammenhang der Pluralisierung des tän hamartian tou kosmou zu den peccata mundi mit der Konfessionalisierung des homologein (dem Ursprung der Bekenntnislogik)? Und wie hängt die Konfessionalisierung des symbolon zusammen mit der Geschichte der Confessiones (von Augustinus bis Rousseau)?

    Gehört der Selbstmord des Uriel da Costa (der seiner Confessio, dem Exemplar humanae vitae, folgt) in die Geschichte der Selbstmorde, die mit dem kollektiven Selbstmord in Massada beginnt und mit Jean Amery, Primo Levi und Paul Celan („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“) endet?

    Ist nicht die Amsterdamer Bannformel (gegen Uriel da Costa und dann, veschärft, gegen Spinoza), ein Indiz der Infizierung der Synagoge durch die Bekenntnislogik?

    Das Problem der Beichte verweist auf das der Sündenvergebung, der Bekehrung des einen Sünders, über dessen Bekehrung größere Freude im Himmel sein wird als über 99 Gerechte, der Bekehrung des Sünders von seinen Wegen des Irrtums, und in diesem Zusammenhang auch auf das Problem des Worts vom Binden und Lösen. Nicht die Verurteilung der Wege des Irrtums, sondern ihre Reflexion ist der Beginn dieser „Bekehrung“.

    Emmanuel Levinas zufolge verkörpert das Angesicht des Andern das Gebot: „Du sollst nicht töten“. Zugleich widerlegt das Angesicht des Andern das Konstruktionsprinzip der subjektiven Formen der Anschauung: den Staat.

    Der erste Handel war Fernhandel, die erste Form des Erwerbs der Raub, zu den ersten Waren gehörten die als Sklaven auf dem „Markt“ angebotenen Kriegsgefangenen (zu denen auch die Frauen gehörten: Exogamie, Inzest-Verbot).

  • 19.4.1997

    Müßte das Bild vom Koffer im Stern der Erlösung, das das Moment der Umkehr im Erkenntnisbegriff symbolisiert, nicht auf das durchgreifen, was Kant die subjektiven Formen der Anschauung genannt hat? Die subjektiven Formen der Anschauung sind die Wände der fensterlosen Monade.

    Ist nicht die „militante Linke“ ein Opfer der deutschen Ideologie, ein Reflex des „Vereins“?

    Die Apokalypse bezeichnet einen Fortschritt im Begriff der Prophetie: Sie entspringt an der Stelle, an der das Königtum in Israel ersetzt wird durch die imperiale Herrschaft des Königs von Babel, durch die Fremdherrschaft.

    Mein ist die Rache, spricht der Herr: Wenn der Begriff der Klarheit, der in dem der Aufklärung steckt, auf die Klarheit der „klaren Fronten“ sich bezieht, wäre die Aufgabe der Theologie die der Kritik dieser Fronten: die Reflexion.

    Die Konstellation von Autismus und Geiselhaft ist die Konsequenz eines Theorieverständnisses, das von Zwang der Selbstrechtfertigung nicht mehr sich freimachen kann, darüber aber die Verhältnisse und den Gedanken daran, wie das Ganze sich wenden läßt, aus den Augen verliert.

    Grund des Fundamentalismus ist die Verwechslung von reflektierenden und bestimmenden Urteilen, von regulativen und konstitutiven Ideen. Diese Verwechslung ist unvermeidbar im Kontext der Idee des Absoluten, sie gründet in der Unfähigkeit zur Reflexion, in der Unfähigkeit, die logische Beziehung der Idee des Absoluten zum Staat zu durchschauen. Deshalb ist nicht die Machtübernahme, das Auswechseln des einen Staats durch einen andern (der Machtwechsel), sondern das Absterben, die Selbstauflösung des Staates das Ziel der Revolution.

    Als Produkt, Grundlage und Reflex des Staates erzeugt die Welt aus sich selbst den logischen Zwang, der sie ins Chaos treibt. Und es ist die selbsterzeugte Angst vor diesem Chaos, die die Menschen in den Bann des Staates treibt.

    Seitdem es den Staat gibt, gibt es die Welt.

    Marx, Freud und Einstein: Kritik der Ökonomie, der Psychologie und der Physik unter den Bedingungen und mit den Mitteln der Ökonomie, der Psychologie und der Physik. Was haben das Geld, das Triebleben und die versteinerten Verhältnisse mit einander zu tun?

    „Privatisierung“: Verweist nicht der Begriff der „Lebenswelt“ (Husserl, Blumenberg, Habermas) auf den Versuch, auch das Für-sich-Sein der von der Außenwelt abgetrennte Privatsphäre noch zu objektivieren, und so als Teil der Außenwelt zu begreifen? Und dringt nicht in der Tat die Öffentlichkeit durch alle Poren in die Privatsphäre ein, die in allem (ökonomisch, technisch und informatisch) zu einem Anhängsel gesellschaftlicher Einrichtungen wird und auf diese Weise verfügbar und beherrschbar gemacht und für den Faschismus vorbereitet worden ist. Seitdem die öffentlichen Einrichtungen, die die private Existenz heute durchdringen und beherrschen, selber in wachsendem Maße privatisiert werden, wird die „private“ Existenz der Abhängigen (werden Arbeitslosigkeit, Krankheit, Renten) immer mehr als Kostenfaktor erfahren, wird sie immer „unbezahlbarer“. War der Begriff der „Lebenswelt“ nicht die Grundlage der Kommunikationstheorie (deren Objekt das im Spiegel des Öffentlichen reflektierte und so gegen die Zumutung der Reflexion sich abschirmende Private ist)?

  • 8.4.1997

    Ist es nicht das ganze jämmerliche Rechtfertigungsgerede, das Anton-Andreas Guha heute (in seinem Beitrag zur Goldhagen-Debatte) zusammengestellt hat, vom „die andern auch“ über „Versailles“ bis zu den gesellschaftlichen Umständen der 20er und 30er Jahre? So hofft er, den Schrecken, an den Goldhagen erinnerte, neutralisieren zu können (mit der besonderen Infamie, mit der der Kollektivschuld-Vorwurf, den wir aus dem Ausdruck „die Deutschen“ reflexartig heraushören und offensichtlich nur noch rassistisch verstehen können, dann auf den Autor zurückprojizieren: weil der Kollektivschuld-Vorwurf zu den Wurzeln des Rassismus gehört, sind Rassisten gegen ihn immun?).
    Die Verführung der Urteilsmagie liegt in ihrem Rechtfertigungseffekt: Deshalb schlagen die Rechtfertigungszwänge, die Wiederholungszwänge sind, den Takt zu den kunstvollen Eiertänzen, zu denen Goldhagen seine Kritiker gezwungen hat. Die Rechtfertigungsorgie funktioniert nach der Logik „100 Millionen km Schweif! – Was sind wir doch für kleine Würstchen“.
    Steckt nicht in den Rechtfertigungszwängen, die in dem „jämmerlichen Schauspiel“ sich manifestieren, das Bedürfnis und der Trieb nach neuen Objekten der Eliminierung?
    Das Kind der Ehe, die die Gnade der späten Geburt nach dem Krieg mit der Urteilsmagie eingegangen ist, wird der neue Faschismus sein.
    Käme es nicht endlich darauf an, das apokalyptische Bild des „großen Zeichens am Himmel“ (Off 12) ins Sprachlogische zu übersetzen?
    Auch der Naturschutz ist ein Instrument der Ausgrenzung, der Perhorreszierung des Eingedenkens.
    Jede Rechtfertigung beruft sich auf die Natur, wenn sie die Freiheit verleugnet.
    Die Rechtfertigungslehre ist längst an der Hoffnung verzweifelt, daß der Himmel sich zu öffnen vermag.
    Monaden sind fensterlos: War die Leibniz’sche Monadenlehre der Anfang der Selbstreflexion einer anderen Planetentheorie, gehört nicht zu den „Wegen des Irrtums“ der nach außen versperrte Blick? Der aber war das Werk der kopernikanischen Wende.
    Die Hypothese, daß die RAF derzeit in ihre autistische Phase kommt, greift weit über den Bereich der RAF hinaus. Die Angriffe von Vertretern der naturwissenschaftlichen Medizin in den letzten Tagen gegen die psychosomatische Medizin (auch gegen die Homöopathie und andere alternative Methoden) hängt mit der Unfähigkeit zur Reflexion zusammen, die jetzt auf die Objekte und Inhalte der Medizin zurückzuschlagen scheint. Das in die Naturwissenschaften eingebaute Unschuldssyndrom (die mit der kopernikanischen Wende begründeten und dann automatisierte Rechtfertigungszwänge) entfaltet sich als Leugnung des Objekts, wird zu eliminatorischen Gewalt. „Objektiv“ ist nur noch das Innere der Monade.
    Es käme darauf an, an den Punkt heranzukommen, an dem die Reflexion die Kraft gewinnt, die Gewalt der Rechtfertigungszwänge zu sprengen.
    Der Autismus und die Geiselhaft-Logik der RAF sind der ohnmächtige Reflex der zugrundeliegenden Logik des Staatsschutzes.
    Ähnlich wie die RAF-Unterstützer die Gefangenen nehmen heute die Ärzte die Kranken als Geisel. Gibt es zum Korpuskel-Welle-Dualismus, dem Reflex der Verdinglichung in der modernen Physik, eine Entsprechung in der Medizin (sind nicht schon Proton und Elektron Produkte des Korpuskel-Welle-Dualismus, Emanationen der grammatischen Logik des Substantivs)?
    Der Terrorismus der RAF und die Unfähigkeit, den Schrecken des Faschismus zu reflektieren, sind Teile der gleichen Logik. Die RAF hat die Logik der Verurteilung, die die Erinnerung an den Schrecken bannen sollte, nur exekutiert.
    Identitätsprinzip: Im Autismus schlägt der horror vacui, den die philosophischen Idee des Subjekts auf die Welt abzuleiten versucht, aufs Subjekt zurück. Im Autismus erfährt sich das Subjekt selbst als Objekt der Logik, mit deren Hilfe es gegen die Welt sich zu behaupten versucht.
    Die Fensterlosigkeit der Leibniz’schen Monade ist ein sprachlicher Sachverhalt: das Resultat der Tilgung der erkennenden Kraft des Namens.
    War der Hitlerismus nicht ein Reflex des heliozentrischen Systems?
    Das Entscheidende am Werk Einsteins waren nicht seine mathematischen Konstruktionen, die auch von anderen hätten erarbeitet werden können, sondern das, was er damit „beweisen“ wollte: seine „intuitiven“ oder auch „spekulativen“ Einsichten, die im Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und im Postulat der Identität von träger und schwerer Masse sich ausdrücken.
    Marx, Freud und Einstein sind Opfer der gleichen Verblendung, zu deren Kritik sie den Grund gelegt haben.
    Hat der Anfang des Matthäus-Evangeliums, das „Wir haben seinen Stern gesehen“ und die Träume der Magier und Josephs, etwas der Apokalyptik, mit Daniel, zu tun?
    War es Jakob Taubes, Emmanuel Levinas oder Jeshajahu Leibowitz, der die Halsstarrigkeit als metaphysischen Teil der jüdischen Anatomie erkannt hat? Haben nicht das Dogma und die Bekenntnislogik diese Halsstarrigkeit zum kosmologischen Prinzip gemacht?
    Die schärfsten Kritiker Netanjahus (und zuvor des Zionismus) sind die, die ihn immer schon als Alibi ihrer Unfähigkeit zur Reflexion brauchten.
    Thematische Wünsche an eine Theologie, die die Impulse der jüdischen Aufklärung in Deutschland aufnimmt, den durch sie gesetzten Standards genügt:
    – die Verstockung des Herzens Pharaos,
    – Daniel und der Traum Nebukadnezars,
    – das Menetekel und der wie eine Buchrolle sich aufrollende Himmel (Lev 26 und Dt 28),
    – Rezeption des Jakobusbriefs („Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“, „Wer einen Sünder von den Wegen seines Irrtums bekehrt …“),
    – Barbaren und Hebräer (Philosophie und Prophetie),
    – Kritik der kantischen Totalitätsbegriffe und Hegels Hinweis zum Begriff der Geschichte (Rosenzweigs Kritik des Historismus und der Stern der Erlösung),
    – die Logik der Schrift.



  • 25.12.1996

    Sind Venus und Merkur die „unteren“ (privaten), Jupiter und Mars die „oberen“ (politischen) Planeten? Und ist Saturn der Planet der Indifferenz, während Sonne und Mond die Verkörperung des Oberen und Unteren sind? Haben Freud und Marx etwas mit den unteren Planeten (den unteren Irrwegen) zu tun, und ist Einstein ganz unten?
    Es gibt zwei komplementäre Formen, die Ökonomie mißzuverstehen: die technische und die moralische. Das technische Mißverständnis macht die Ökonomie zur Natur, um deren technische Beherrschung es geht, während das moralische Mißverständnis die Ökonomie auf individuelle Entscheidungen, die der moralischen Bewertung fähig sind, zurückführt.
    Das Präsens ist der sprachlogische Grund der Erscheinungen, der alle Tempora durchdringt und affiziert: Die Sprachform der Vergangenheit bezeichnet vergangenes, die der Zukunft zukünftiges Präsens. Im Reich der Erscheinungen aber wird die Offenbarung (das Gesetz und die Prophetie) zur Apokalypse.
    Ägypten und Babylon: „An jenem Tag, spricht der Herr der Heerscharen, da zerbreche ich das Joch, das ihren Nacken drückt, und zerreiße ihre Bande, und Fremden sollen sie nicht mehr dienen“ (Jer 308). In Ägypten (im Sklavenhaus und Eisenschmelzofen) waren die Israeliten Fremde, während Babylon die Fremdherrschaft (das Joch und die Bande) über Israel ist. Wer den Juden anstelle des Ziels der Befreiung das der Weltherrschaft unterstellt, verwechselt Israel mit Babylon (das ihm so als Feind selber dann zur Norm wird).
    Der Weltbegriff leugnet die Schöpfung, der Naturbegriff die Auferstehung: Beide gründen in der das Gesetz der Objektivierung insgesamt beherrschenden Logik der vollendeten Vergangenheit (die zu den Konstituentien des kantischen Reichs der Erscheinungen gehört), in der Ersetzung des moralischen durch das zeitliche Perfekt. Sie verschließen die Zukunft, um sie für die Herrschenden offenzuhalten. Ihr realsymbolisches Modell ist das kopernikanische System, ein Himmel, der zum steinernen Herzen der Welt geworden ist. Aber: Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen (Mt 1618), die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht (Jak 213).

  • 23.11.1996

    Hat nicht das „Besitzstandsdenken“, von dem – im Gefolge der Regierung und zur Absicherung ihrer „Sparprogramme“ – der Bischof Lehmann und die Frau Waschbüsch reden, etwas mit dem „Standort“ Deutschland zu tun. Ist nicht die Kirche selber – und mit ihr jede blind übernommene Tradition – ein reines Produkt des „Besitzstandsdenkens“?
    „Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“: War das nicht ein bei den Nazis beliebter Spruch (aus der Edda)? Zitiert das „erwerben“ nicht die gegenstandskonstituierende Kraft der Werbung, der Reklame?
    „Ihr laßt die Armen schuldig werden“: Ist es nicht merkwürdig, daß man den Besitzlosen heute „Besitzstandsdenken“ nachsagt? Hat nicht das Besitzstandsdenken, das nur noch dem projektiven Gebrauch zur Verfügung zu stehen scheint, etwas mit der Besessenheit zu tun?
    Die Humanität beginnt mit der Fähigkeit zur Schuldreflexion: mit der Fähigkeit, in der Schuld des Andern die eigene zu erkennen.
    Stämme, Völker, Nationen und Sprachen: Diese Wendung, die die ganze Menschheit umreißt, erscheint in der Schrift nur in apokalyptischem Zusammenhang, und in dieser Fassung nur in der Johannes-Apokalypse (bei Daniel fehlen die Stämme).
    Vgl. aber die Nachkommen Japhets, Hams und Sems („nach ihren Ländern/Geschlechtern, ihren Sprachen, ihren Geschlechtern/Ländern, ihren Völkerschaften“, Gen 105,20,31),
    – Übersetzung Buber:
    . Japhet: … Von diesen trennten sich ab die Inseln der Stämme, in ihren Erdländern, jedermann seiner Zunge nach: nach ihren Sippen, in ihren Stämmen.
    . Ham: Das sind die Söhne Chams nach ihren Sippen, nach ihren Zungen, in ihren Erdländern, in ihren Stämmen.
    . Sem: Das sind die Söhne Schems nach ihren Sippen, nach ihren Zungen, in ihren Erdländern, nach ihren Stämmen.
    Kann es sein, daß der an die „12 Stämme in der Zerstreuung“ gerichtete Jakobusbrief den Grund benennt, weshalb in der Johannes-Apokalypse zu den Völkern, Nationen und Sprachen die Stämme mit hinzu genommen werden: die Zerstreuung?
    Nicht Herrschafts-Kritik, sondern Kritik der Gewalt.
    Was würde sich ergeben, wenn man das Wort Vergewaltigung sprachlogisch aufschlüsselt (das Walten mit dem doppelten Präfix und einem doppelten Suffix)? Ist nicht die Subsumtion der Zukunft unter die Vergangenheit (das Perfekt des Waltens) die Quelle der Gewalt?
    Ist die göttliche Gewalt die die Gewalt zerstörende Gewalt (der Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht)?
    Ist die „Bewältigung“ (z.B. der Vergangenheit, die dagegen wehrlos ist) eine Vergewaltigung?
    War nicht die historische Bibelkritik eine Bewältigung der Vergangenheit (der Widerpart der Idee der Auferstehung)? Ist nicht die „Bewältigung“ insgesamt ein Historismus-Projekt, gegen dessen Logik der Stern der Erlösung geschrieben worden ist?
    „… die Zukunft wird geahndet“ (Schelling, Weltalter): Es mag sein, daß das ahnden auf einen Versprecher sich zurückführen läßt, daß das ahnen gemeint war; aber dann war es ein freudscher Versprecher. Läßt sich mit Hilfe des Sündenbocksyndroms aus diesem Ahnden nicht die mythische Grundtendenz der Schellingschen Philosophie, die schon in seiner Naturphilosophie angelegt war, ableiten? Seit den Vorsokratikern ist die Naturphilosophie das Bindeglied, das die Philosophie an ihre mythischen Ursprünge bindet. Es gehört zur Logik des Naturbegriffs, daß jede an ihn sich anschließende Philosophie die Partei der Verfolger und nicht die des Opfers ergreift. Bei Hegel ist es der Weltbegriff, der als Indikator der Logik des Mythos in der christlichen Tradition sich erweist: Deshalb ist Hegels Philosophie zur Staatsphilosophie geworden.
    Hegels Philosophie ist die philosophische Entfaltung des Theologumenons der creatio mundi ex nihilo, in dem das gnostische Erbe über die bloße Verurteilung der Gnosis, die so zur Urhäresie geworden ist, in die Theologie übernommen worden ist (Paradigma der Vertuschung, des Spurenverwischens: die erste Gestalt einer „Bewältigung der Vergangenheit“). Die Verwerfung der Gnosis war der Gründungsakt der Kirche. Der in der creatio mundi ex nihilo zitierte creator ist der Demiurg, der im Staat sich verkörpert und zugleich verbirgt, durch seine Fundierung im Weltbegriff sich unkenntlich macht (mit der Vergöttlichung des Opfers macht sich der Staat zum Gegenstand der Anbetung). Die Gnosis ist der Sündenbock der Theologie hinter dem Rücken Gottes, ihre bloße Verwerfung macht die Gnosis zum Objekt des Gerichts, dessen wirkliches Objekt der Staat ist. Die Gnosis ist die Urhäresie, weil die Theologie nur in ihr den Vorwand findet, der es ihr erlaubt, sich ihrem eigentlichen Auftrag (der Theologie im Angesicht Gottes, in der die Gnosis sich auflösen würde) zu entziehen und nach Tarschisch (in eine Theologie hinter dem Rücken Gottes, zu deren Stabilisierung die Verurteilung der Gnosis wie das Feindbild zur Identitäts- und Gruppenbildung gehört) zu fliehen.

  • 22.11.1996

    Wer immer nur ein gutes Gewissen hat, klinkt sich aus der Solidarität aus.
    Der schärfste Einwand gegen den Unschuldtrieb, gegen den Zwang des guten Gewissens, liegt darin, daß die Freiheit von Schuldgefühlen das Gericht definiert (frei von Schuldgefühlen ist der Ankläger, der Satan).
    Die apokalyptischen Tiere: sind das nicht Verkörperungen des Verfolgers?
    Der Punkt ist die vollständig zusammengeschrumpfte Kugel, die kein Inneres mehr hat, die nur nach nach außen blickt, für die das Innere der anderen ebenso wenig existiert wie das eigene Innere, und die dieses Innere nicht nur nicht erkennt, sondern als inexistent setzt. Die Kugel ist Ausdruck der Gewalt der Rückseite über das Angesicht, der Linken über die Rechte und der unteren über die obere Welt. Der Punkt ist die Basis der Zahlen.
    Haben nicht die Babylonier die Arithmetik und die Ägypter die Geometrie entdeckt? Die Griechen haben Arithmetik und Geometrie mit einander verbunden (nicht versöhnt), und zwar durch die Entdeckung des Winkels.
    Die Entdeckung des Punktes ist eine Folge der Entdeckung des Inertialsystems: Der reine Punkt ist der Schwerpunkt. Die „Definition“ des Punktes ist durch das Bild des „ruhenden Inertialsystems“ vermittelt; der Versuch, dieses „ruhende Inertialsystem“ zu bestimmen, führt in die Paradoxien, deren Ausdruck die beiden Relativitätstheorien Einsteins sind, er führt zu den hochsymbolischen Bildern des fahrenden Zugs und des frei fallenden Fahrstuhls.
    Im Bild des Punktes vollendet sich die Abstraktion, deren Wurzel die Winkelgeometrie ist (der Punkt ist der Eckpunkt eines Winkels, auch im Inertialsystem).
    Daß der Punkt ohne dieses Referenzsystem (das „ruhende Inertialsystem“) nicht sich definieren läßt, drückt im Korpuskel-Welle-Dualismus der Mikrophysik sich aus, einer Konsequenz aus dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, die das Inertialsystem selber dynamisiert. Hier werden beide, der Punkt und das ihn definierende Referenzsystem, in eine gemeinsame, wechselseitig sich reflektierende Bewegung hineingezogen. Hier erscheint das Referenzsystem in dreifacher Gestalt: als doppeltes Referenzsystem: nämlich sowohl der Korpuskel- als auch der Wellenbewegung, und in dieser Wellenbewegung zugleich als Objekt, als Erscheinung im System. Diese selbstreferentielle Konstruktion, deren systemische Wurzel das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit bezeichnet, ist der Inhalt der mikrophysikalischen Strukturen, die in dieser Vermittlung überhaupt erst sich konstituieren.
    In den Dingen ist die Beziehung von Verfolgern und Verfolgtem auf die abstrakteste Form zusammengeschnurrt: auf ihre Beziehung zur Zeit. Die Zukunft des einen ist die Vergangenheit des andern. Die Begriffe Natur und Welt sind logische Zwillinge, die wie Zukunft und Vergangenheit als getrennte auf einander sich beziehen. Die Ontologie ist die Hypostasierung dieses Akts der Trennung (sh. Rosenzweigs „verandernde Kraft des ‚ist’“).
    Ist nicht die Pharao (in der Geschichte der zehn ägyptischen Plagen und der Verhärtung seines Herzens) der verfolgte Verfolger, und drückt das nicht in den Pyramiden aufs genaueste sich aus?
    Wie hängt der Satz „Allein den Betern kann es noch gelingen …“ zusammen mit dem andern „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“?
    War das nicht einer der fatalen Effekte des Historikerstreits, daß mit dem Bestehen auf der „Einmaligkeit“ von Auschwitz es danach eigentlich nichts Einmaliges mehr geben kann? Und ist das nicht gerade die Voraussetzung der Metastasen von Auschwitz? Manifestation des Einmaligen ist der Name, und indem dieses Einmalige in die Vergangenheit versetzt wird, wird auch der Name ins Perfektum, in die vollendete Vergangenheit versetzt: Kein Ruf, der ihn noch erreicht. So hängt Auschwitz mit der Theologie zusammen.
    Der Begriff instrumentalisiert den Tod, dem er das Objekt, auf das er sich bezieht, überantwortet. Dagegen steht der Name und die Idee der Auferstehung, ohne die es den Namen nicht geben würde. Wenn einer kabbalistischen Tradition zufolge die sechs Richtungen des Raumes auf göttliche Namen versiegelt sind, so drückt genau darin (in der Beziehung der Dinge zum Raum) die Beziehung der Dinge zum Namen sich aus.
    Von der Idee der Auferstehung kennen wir nur das sprachlogische Symbol, das am Namen haftet (und vom Begriff geleugnet wird).
    Ist nicht Jer 3134, wonach am Ende keiner mehr den andern belehren wird, weil alle Gott erkennen, ein Hinweis darauf, daß die direkte Belehrung (das „Überzeugen“) in der Tat unfruchtbar ist? Es bleibt allein noch die reine Erkenntnis Gottes und die Hoffnung, daß sie die Kraft hat, sich mitzuteilen, die Erkenntnis des Namens, in dem die Kraft der Erweckung der Toten beschlossen ist.
    Wäre nicht die Kritik der Ästhetik eine zentrale Aufgabe der Philosophie, die an der Kritik der reinen Vernunft anzusetzen hätte (was hat die „transzendentale Ästhetik“, was haben die subjektiven Formen der Anschauung mit der Kunst zu tun)? Die Ästhetik ist das Feuer im brennenden Dornbusch: Es brennt, aber es verbrennt den Dornbusch nicht. Und dieses Feuer ist nicht Gott, sondern Gott spricht aus diesem Feuer.
    Zu den Grenzen gehören: die Grenzen der Nation (die die „Völker“ und das Ausland ausschließen); das Schaufenster (und die Reklame), das den Käufer von der Ware trennt; die subjektiven Formen der Anschauung, die das Anschauen vom Angeschauten trennen, die Sprachgemeinschaft mit dem Angeschauten neutralisieren. Die Wurzeln dieser Grenzen sind die Grenze zum Himmel und die Grenze zur Vergangenheit, zum Hades.
    Zu Kanther fällt mir nur noch ein: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.
    Selbstreferentielle Asymmetrie: Wenn wir heute, in unserer politischen Selbstverständnis, das Handeln des „Auslandes“ zur Norm unseres eigenen Handelns machen, dabei merkwürdigerweise das „Urteil des Auslandes“ (als „Heuchelei“: sie treiben es ja auch nicht anders) ausblenden, weil wir es als Angriff erfahren, holen wir dann nicht über die Metastasen von Auschwitz Auschwitz wieder in unser Handeln zurück? Das Feindbild Ausland bleibt uns so auf jeden Fall erhalten.
    Feindbilder haben seit je auch die Funktion, das, was als Handeln des Feindes erfahren wird, zur Rechtfertigung des eigenen Handelns zu mißbrauchen und damit zur Norm des eigenen Handelns zu machen: die gleiche logische Konstruktion liegt dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozeß zugrunde, sie begründet die Logik der „Naturgesetze“ wie auch die Gesetze des Rechts. Diese Logik wird durchbrochen durchs Gebot der Feindesliebe, das sie aus der Starrheit erlöst und reflexionsfähig macht.
    Die Feindbildlogik ist in sich selber atheistisch, und die einzige Gestalt der Theologie, die heute noch möglich ist, wäre die, die dieses Feindbildlogik sprengt (und die Religion aus dem Bann des Fundamentalismus befreit ohne sie zu verraten). In die Feindbildlogik (und seine religiöse Variante, den Fundamentalismus) gerät zwangsläufig hinein, wer zum Herrendenken keine Alternative mehr kennt.
    Wer Horkheimers Begriff der instrumentellen Vernunft als Angriff erfährt, ist ihr bereits verfallen.
    Wie verhält sich der Satz Reinhold Schneiders „Allein den Betern kann es noch gelingen … und diese Welt den richtenden Gewalten durch ein geheiligt Leben abzuringen“ zu den Reflexionen René Girards über das Heilige und die Gewalt? Ist nicht der Säkularisationsprozeß (der Prozeß der „Verweltlichung der Welt“) Teil einer Geschichte, die diese Forderung eines „geheiligten Lebens“ nachgerade erzwingt? Wie verändert sich der Begriff des Heiligen im Säkularisationsprozeß? Der Säkularisationsprozeß, die Geschichte der Aufklärung, ist ein Prozeß, der, indem er die Idee des Heiligen aus der Objektivität vertreibt, sie ins Subjekt zurücknimmt. Jeder Versuch, das Heilige in der Welt zu erhalten, ist fundamentalistisch, und damit ein Produzent von Gewalt. In diesem Kontext löst sich das Problem der Derridaschen Anfrage an Walter Benjamins „Kritik der Gewalt“ und den Begriff der göttlichen Gewalt, die in keinem Punkt mit irgend einer Form der staatlichen Gewalt sich berührt, es sei denn als Element ihrer Auflösung.
    Johann Baptist Metz‘ Konzept der Verweltlichung der Welt, führt in die Irre, wenn sie nicht die Kritik der Gewalt in sich aufnimmt. Die Kritik der Gewalt ist nicht zu verwechseln mit der Forderung nach Gewaltfreiheit: Während die Forderung nach Gewaltfreiheit sich unter das Gewaltmonopol des Staates stellt, zielt die Kritik der Gewalt auf die Auflösung des Gewaltmonopols des Staates: auf die Manifestation der göttlichen Gewalt. Die göttliche Gewalt leitet sich her aus dem Satz „Mein ist die Rache, spricht der Herr“, sie manifestiert sich im „Triumph der Barmherzigkeit über das Gericht“, im Gericht der Barmherzigkeit über das gnadenlose Weltgericht. Dieser Akt ist der einzige Inhalt der Apokalypse.
    Wer glaubt, das Gewaltmonopol des Staates sei verfügbar im Interesse der Verwirklichung der richtigen Gesellschaft, verkennt u.a. auch den Marxschen Hinweis, daß in der richtigen Gesellschaft der Staat sein Ende findet, sich auflöst. Deshalb sind Staatsschutzsenate und ist der Titel Staatsanwalt schon vom Grunde her reaktionär.
    Wenn es dem Staatsschutz wirklich um die Bekämpfung des Terrorismus ginge, müßte er sein Ziel, nachdem die RAF dem Terrorismus abgesagt hat, im wesentlichen erreicht haben. Was er aber jetzt tut, beweist, daß es ihm garnicht um das Ende des Terrorismus, sondern um Rache geht. Verfolgt wird nicht der Terrorismus, sondern verfolgt wird die Reflexion, die schon der Terrorismus selber verraten hatte. Deshalb war dieser Staatsschutzsenat nicht einmal fähig, die Erklärungen Birgit Hogefelds auch nur sich anzuhören; das Urteil lautet so, als hätte es diese Erlärungen überhaupt nicht gegeben.
    Hegels Reflexion über das Problem des Anfangs in der Philosophie läßt an ersten Sätzen in der Philosophie sich demonstrieren, angefangen mit dem ersten Satz der Philosophie überhaupt (Thales: Alles ist Wasser) über den ersten Satz der Dissertation Thomas von Aquins: Parvus error in principio magnum est in fine, bis hin zum Anfang von Schellings Weltalter: … die Zukunft wird geahndet. Auch die ersten Sätze im Stern der Erlösung und in Wittgensteins Logisch-philosophischem Traktat gehören hierher. Außerdem: Seit wann (und aus welchem Grunde) werden zu philosophischen (und wissenschaftlichen) Werken Einleitungen geschrieben (und im Falle der Phänomenologie des Geistes zur Einleitung noch eine Vorrede)? Ist die Furcht, die Werke könnten mißverstanden werden, und damit der Versuch, diese möglichen Mißverständnisse schon im vorhinein durch eine Vorrede oder Einleitung zu zerstreuen, so unbegründet (haben nicht Rosenzweig und Wittgenstein auf eine Einleitung verzichtet)?
    Sind nicht eigentlich alle naturwissenschaftlichen Bücher Einleitungen zu Texten, die keine mehr sind: zu den Formeln, die die Texte dann nur unzulänglich zu erläutern vermögen? Wer vermöchte wirklich Das Gravitationsgesetz, das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit oder die These von der Identität von träger und schwerer Masse in Sprache zu übersetzen?
    Die drei zivilisationskritischen Großprojekte der Aufklärung, Marx, Freud und Einstein, beschreiben sie nicht die Brennpunkte des Aufklärungsprozesses aus der Opferperspektive, Marx aus der des Proletariats, Freud aus der des Unbewußten, und Einstein aus der des materiellen Objekts? Und gehören hierzu nicht die Objekte der Kritik: das Tauschprinzip, das Realitäts- und Lustprinzip und das Trägheitsprinzip?
    Der Unschuldstrieb (das „reine Gewissen“) wird durch die Allgemeine Relativitätstheorie Einsteins symbolisiert und widerlegt.
    Kommt bei René Girard die Geschichte des Stephanus (und des Saulus) vor, und was bedeutet sie für sein Sündenbockkonzept? Ist nicht die Bekehrung des Paulus (die eine Bekehrung und keine Umkehr war) die eines Verfolgers, dessen Opfer „den Himmel offen“ sah?

  • 17.11.1996

    Steckt nicht in jeder Verdrängung ein Stück Euphorie, Todeslust? Haben die Christen die Idee des seligen Lebens (und die dazugehörige Unsterblichkeitsvorstellung) vielleicht mit dieser Euphorie verwechselt?
    Die Hölle, deren Wahrnehmung und Reflexion in uns selbst wir uns verweigern, fügen wir dann zwangshaft anderen zu. Auch die Hölle steht unter dem Gesetz der Asymmetrie.
    Aus welchem Kontext stammt eigentlich der Begriff der Rasse? Sein Gebrauch verweist eher auf den Bereich des Ackerbaus, der Haustierhaltung, der Züchtung, als den der normalen Biologie, auf die die Begriffe Gattung und Art sich beziehen; m.a.W. er transportiert die Logik der Naturbeherrschung in die Biologie. Sein Ursprung liegt im Bereich der Domestikation; es darf vermutet werden, daß seine Anwendung auf „wilde Tiere“ erst nach deren Aufnahme und Zur-Schau-Stellung in Zoologischen Gärten erfolgte. Der Rassebegriff ist aus dem Kontext der Vererbungslehren nicht herauszulösen; der Begriff der Vererbung ist selbst ein Rassebegriff. Dem entspricht es, daß der Rassenbegriff schon vom Grunde her ein wertendes Element in sich enthält; die eigentliche Rasse ist die „edle Rasse“.
    Die Genforschung ist ein letzter Ausläufer einer Entwicklung, die am Rassebegriff sich orientierte: Bezeichnend der Begriff des „genetischen Materials“ (des biologischen Äquivalents der Mikrophysik), der das Lebendige insgesamt dem gesellschaftlichen Zugriff erschließt.
    Läßt nicht der Charakter der Hegelschen Philosophie an der Stellung des Begriffs der Art in dieser Philosphie, zentral in der Hegelschen Logik, sich demonstrieren? Hegel hat bereits den Begriff der Rasse rezipiert (und auf Menschenrassen bezogen).
    Omne animal post coitum triste: In welcher logischen Beziehung stehen die Begriffe Rasse und Masse? Ist nicht die Rasse das biologische Äquivalent zum physikalischen Massebegriff, wobei der Begriff der Vererbung dem der Gravitation entsprechen dürfte? Hat nicht die Schwangerschaft etwas mit der Schwere (deren sprachliches Umfeld in das der Schwangerschaft hereinreicht)? Und ist nicht die Gebärmutter der Ort der Transsubstantiation von Schwere in Leben (und der Akt der Begattung der biologische Reflex des freien Falls, der zugleich als Bild des Todes sich enthüllt: hat nicht jede Lust etwas von der Euphorie)?
    Der Begriff der Rasse korrespondiert dem des Organischen. Aber ist nicht das Organische Ausdruck des Schuldzusammenhangs: Reflex des Widerstandes, an dem alles Lebendige (von der Botanik bis in die Ökonomie) sich abarbeitet? Der Rassebegriff ist ein Schicksalsbegriff (das moderne Gegenstück der antiken Astrologie).
    Der Begriff der Rasse (der bezeichnenderweise aus dem Bereich der Sprachforschung stammt) entspringt dem Versuch, den Mangel der Natur, die Hegel zufolge den Begriff nicht halten kann (Hegels Beweis: daß es mehr als zwei Arten gibt), zu beheben, den Begriff selber zu naturalisieren: Der Begriff der Rasse indiziert einen herrschaftsgeschichtlichen Sachverhalt, dessen reale politische Entsprechung der Faschismus (und in seinem Kern der Antisemitismus) war. Sind die Hegelschen zwei Arten (die Verkörperungen des Allgemeinen und des Besonderen) eine Vorstufe der faschistischen Polarisierung der Rassen, derzufolge zu der zur Herrschaft berufenen Rasse der Arier die absolute Gegenrasse der Juden gehört?
    War es nicht ein sehr tiefer Gedanke, wenn im Kontext der Astrologie die menschlichen Organe den Planeten zugeordnet worden sind?
    Die ezechielische Individualisierung der Schuld wird mißverstanden, wenn sie der Strafrechtslogik subsumiert wird. Sie zielt nicht darauf ab, den Sohn von den Sünden der Väter zu entlasten, sondern ihn anzuleiten („dixi et salvavi animam meam“), die Sünden der Väter (die in Babylon zur Sünde der Welt geworden sind) als seine eigenen zu erkennen. Diese Individualisierung der Schuld ist der Grund, aus dem Joh 129 sich herleitet. Hier ist der Punkt, an dem die Menschen erwachsen werden.
    Der Abgrund, auf den der Zug zurast, ist einer, den wir selbst hervorbringen, wenn wir glauben, wir könnten ihm entgehen, wenn wir andere hineinstoßen. Das logische Modell, das diesem Bild zugrunde liegt, war eine Unsterblichkeitslehre, die am Zustand der Welt desinteressiert war und deshalb eigentlich nur zur Hölle paßte. Eine dieser Unsterblichkeitslehre angemessene Himmelsvorstellung hat es eigentlich nie gegeben.
    Das pathologisch gute Gewissen ist ein Euphorie-Effekt. Der freudsche Todestrieb und die Weiterentwicklung dieses Konstrukts durch Erich Fromm (in seiner „Anatomie der menschlichen Destruktivität“) läßt sich nicht aufs Psychologische eingrenzen; er wird erst durchsichtig, wenn in seine Konstruktion seine Beziehung zum Zustand der Welt mit hereingenommen wird.
    Die 68er Bewegung hat ihre Wurzeln in der kollektiven Verdrängung nach dem Krieg, an der sie partizipierte und die sie verstärkt hat. An der 68er Bewegung wird zugleich sichtbar, daß es kein deutsches Spezifikum mehr ist (auch wenn es hier in besonderer Schärfe hervorgetreten ist), sondern ein gesamtgesellschaftliches. Dieser Zusammenhang wäre zu demonstrieren an der Geschichte des Ursprungs und der Entfaltung der Naturwissenschaften (an ihrer Beziehung zu ihren ökonomischen Wurzeln).
    Die Beziehung der Naturwissenschaften zur Ökonomie ist das Modell und die Wurzel des Konstrukts der Reversibilität, das in den Naturwissenschaften, in der transzendentalen Logik, die sie beherrscht, sich entfaltet. Diese Reversibilität hat ihre Grenze an der Schwere (Begriff und Objekt; Empörung, Hochmut und Niedertracht; Gemeinheitslogik und die besondere Schwere der Schuld).
    Wie hängt die Gemeinheitslogik („besondere Schwere der Schuld“) mit dem Ursprung des Rassebegriffs zusammen?
    Nach Kluge (Etymologisches Wörterbuch, 22. Aufl., S. 583) wurde das Wort Rasse im 18. Jhdt. aus dem Französischen (race) übernommen (race gehört zusammen mit it. razza, span. raza, port. razo; Herkunft umstritten: lat. ratio – Vernunft, arab. ra’s – Kopf, auch lat. radix – Wurzel, Zusammenhang mit radikal).
    Das „mathematische Symbol“ des Menschen bei Franz Rosenzweig, das B = B, ist der Beweis dafür, daß es zur Reflexion keine Alternative gibt.
    Ist nicht in der christlichen Tradition der Kontext der Herrlichkeits-Theologie (kabod; Ezechiel und die Merkaba-Mystik) durch Ästhetisierung von der Reflexion des Weltzustandes getrennt, damit aber herrschaftslogisch instrumentalisiert und neutralisiert (und d.h. narkotisiert und euphorisiert) worden?
    Die Idee der Barmherzigkeit sprengt die Fesseln der Herrschaftslogik, sie eröffnet das Reich der Freiheit in den Kirchen. Dem entspricht das Wort „Barmherzigkeit, nicht Opfer“, dessen christliche Variante der Jakobus-Satz enthält „die Barmherzigkeit triumphiert über das Gericht“. Sie bezeichnet den Beginn der Gotteserkenntnis. Sie löst das Problem der Theodizee durch Erkenntnis ihrer Gegenstandslosigkeit. Sie ist das Pendant des Kafkaschen Satzes „Es gibt unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns“.
    Wie die christliche Buße die Umkehr von der Erinnerung getrennt (und mit dieser Trennung die Umkehr ins Sadistische transformiert) hat, so hat der Gehorsam sich von dem Hören getrennt, auf das das sch’ma Jisrael verweist.
    Die Transformation der Umkehr in den Sadismus wäre am Beispiel des Antisemitismus (an dem Problem, auf das Daniel Jonah Goldhagen hingewiesen hat: weshalb der Judenmord mit den zusätzlichen Demütigungen, Gemeinheiten und Grausamkeiten einherging) zu demonstrieren.
    Mein ist die Rache, spricht der Herr: das heißt nicht mehr und nicht weniger, als daß wir auf die Erfüllung des Rachetriebs verzichten sollen; wie Seine Rache dann aussieht, ist ein anderes Problem. Rachegott: da gibt’s nur einen, das Absolute, das in dem Staat sich verkörpert, dessen konsequenteste Gestalt der Faschismus ist.
    Zum evangelischen Rat der Armut, „Mein ist dein, dein ist dein“: Der Anspruch, etwas für mich als Eigentum zu reklamieren, ist blasphemisch, und er bleibt es, auch wenn er inzwischen in die Fundemente der Gesellschaft mit eingebaut worden ist. Dieses blasphemische Moment in der gegenwärtigen Konstruktion des Lebens hängt mit dem Problem der Euphorie zusammen (mit den Wurzeln der Ästhetik und mit der Verhärtung der Herzen).

  • 10.10.1996

    Das Feindbild subsumiert die praktische Vernunft unter die transzendentale Logik, unter das System synthetischer Urteile apriori.
    In Deutschland ist nun mal das das Recht funktional, ohne inhaltliche Beziehung zur Idee der Gerechtigkeit. Durch den Titel Staatsanwalt ist hier der öffentliche Ankläger eine bloße Funktion: Anwalt des Staates. Nicht er erhebt und vertritt die Anklage, sondern durch ihn hindurch der Staat, der ihn zugleich von der moralischen Verantwortung entlastet, exkulpiert (das Organisationsprinzip der Eigentumsgesellschaft).
    Ist nicht die Kombination Petrus, Jakobus, Johannes wichtiger als die Kombination Petrus, Paulus, Johannes (die zur Konstruktion einer paulinischen Kirche führte, in der Reformation)? Blieb nicht auch der Protestantismus durch eine Art symbiotischer Feindschaft noch an die katholische Kirche gebunden? Etwas anderes ist die Kombination Rom, Jerusalem und Patmos.
    Wenn Jakobus an die zwölf Stämme in der Diaspora schreibt, nimmt er da nicht ausdrücklich Bezug auf die Zerstörung Jerusalems?
    Was haben die Träger gleicher Namen im Neuen Testament mit einander zu tun:
    – Johannes der Evangelist mit dem Täufer, auch mit Johannes Markus;
    – Jakobus der Sohn des Zebedäus mit dem „Herrenbruder“ (der ihm als Leiter der Gemeinde in Jerusalem folgte und dann zu den „drei Säulen“ gehörte);
    – Simon Petrus mit Simon von Cyrene und dem Namensgeber der Simonie;
    – der andere Judas (der Bruder des Jakobus, auch ein Herrenbruder?) mit dem Verräter?
    Haben die sieben Köpfe und zehn Hörner des Drachens und des Tieres etwas mit den siebzig Völkern zu tun?
    Zu dem Satz (auf der Rückseite des Buches von Pablo Richard): „Die Apokalypse entsteht in einer Zeit der Verfolgung“, bleibt zu fragen, ob nicht (und ggf. wie) die Verfolgungen mit dem Ereignis der Zerstörung Jerusalems zusammenhängen.
    Wäre nicht besser als das Beispiel des Lustmörders, auf das Horst-Eberhard Richter hinweist, das der Nazis, deren Taten eine Dimension erreichten, in der es möglich war, jeden öffentlichen Hinweis (auf Dinge, die ohnehin alle wußten) als Greuelpropaganda zu dementieren.
    Kann es sein, daß das Problem Birgit Hogefelds damit zusammenhängt, daß die eliminatorische Gewalt der Ächtung, der sie ausgesetzt ist, auf beiden Seiten aus der gleichen Quelle stammt: aus der „existentiellen“ Abwehr jeder Reflexion der deutschen Vergangenheit? Würde nicht diese Reflexion den symbiotischen Feindbild-Clinch, der für beide Seiten identitätsstiftend ist, von innen sprengen.
    Unterscheidet sich nicht dieser Prozeß von anderen RAF-Prozessen dadurch, daß hier erstmals (allerdings nur auf der Seite der Angeklagten und ihrer VerteidigerInnen) Ansätze zu erkennen sind, den Bann der Logik der Empörung (den Feindbild-Clinch) zu brechen?
    Wer blind und mechanisch den eigenen Rechtfertigungszwängen gehorcht, gleichsam sich selbst zu ihrem Objekt macht, betreibt, ohne es selbst zu merken, das Geschäft des Feindes: nicht nur, daß er unfähig wird, potentielle Verbündete vom wirklichen Feind (den er nicht mehr erkennt, da er ihn an seine reale Ohnmacht gemahnt, auf den er nur noch reagiert) zu unterscheiden. Er ernennt alle, die „gegen ihn“ sind, zu Feinden, um an ihnen dann (vor sich selbst und im Ghetto der Bekenntnisgemeinschaft, als deren Teil er sich begreift) gefahrlos seinen Mut unter Beweis stellen zu können. (Empörung macht blind. Der „Weltanschauungskrieg gegen den Bolschewismus“, der die Kirchen dem Faschismus als Verbündete zugeführt hat, war ein Vernichtungskrieg; er hat zugleich das Empörungs-Klima geschaffen, in dem die „Endlösung der Judenfrage“ in Angriff genommen werden konnte.)
    Das Feindbild begründet den dämonischen Geheimbereich, die zweideutige Beziehung der Politik zur Öffentlichkeit. In diesem Kontext wird das angebliche Nichtwissen der Nachkriegs-Deutschen, die die Nazizeit mit erlebt haben, verständlich. Vor allem: Es läßt sich nicht mehr damit begründen, die Nazis hätten ihre Verbrechen ja selber geheim gehalten. Diese Geheimhaltung war, was die Judenpolitik und die Konzentrationslager betraf, in jeder Hinsicht durchlässig, ein bewußt erzeugtes Klima des Gerüchts, das den doppelten Zweck verfolgte (und erfüllte): ein allgemeines Klima der Bedrohung zu schaffen, in dem jeder wußte, auf welche Seite er sich zu schlagen hatte, und so zugleich den Antisemitismus zu fördern. Es gab Dinge, die alle wußten, von der sie aber auch wußten: darüber darf man öffentlich nicht reden. Das Klima der allgemeinen Bedrohung war zugleich ein Klima der erzwungenen Komplizenschaft. – Hat das nicht die Nazizeit überlebt? Gibt es nicht auch heute wieder Dinge, die alle wissen, über die man aber nicht reden darf?
    Das Feindbild erfüllt diese entlastende Funktion: In den Feind braucht man sich nicht mehr hineinzuversetzen. Genau darin gründet seine identitäts- und gemeinschaftsstiftende Funktion. Es befreit von moralischen Hemmungen (von den Hemmungen des Gewissens), es begründet das pathologisch gute Gewissen, den gemeinsamen Wahn.
    Das identitäts- und gemeinschaftsstiftende Element des Feindbildes ist zugleich Teil einer symbiotischen Bindung an den Feind.
    Ist nicht die RAF zu sehr Ausdruck einer Krise, als daß sie schon als Teil ihrer Lösung sich begreifen ließe? Nur soviel ist wahr: Die Erkenntnis und Reflexion der Krise bedarf des Versuchs, die RAF zu verstehen, und das Feindbild RAF verschärft nur die Krise, anstatt zu ihrer Lösung beizutragen. Jedenfalls gehört der Versuch einer strafrechtlichen Lösung des RAF-Problems zu den Instrumenten der Krisen-Verschärfungs-Strategien.
    Hat nicht die Linke seit der Besetzung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung immer wieder die Neigung bewiesen, an den schwächsten Stellen der „Front“ den eigenen Mut zu erproben? Ist sie nicht freiwillig (oder auch im Bann einer Verblendung durch Empörung, die sie nicht mehr zu reflektieren vermochte) in die Diskriminierungsfallen hineingerannt?
    „Übervater“: Er hätte Freud lesen müssen („Totem und Tabu“): Der Vatermord vermag Brüderhorden zu begründen, Opfer- und Bekenntnisgemeinschaften, denen die blinde und bewußtlose Identifikation mit den verinnerlichten Vätern (Nationalismus als Sinnesimplikat jeder symbiotischen Feindbindung) als ihr Grundgesetz einbeschrieben ist, nicht aber den Akt der Befreiung.
    Skinhead-Logik: Wer aus jeder Kritik „den Feind“ heraushört, macht sich selbst blind, ohnmächtig und dumm und braucht dann zur Selbsterbauung Mutproben.
    „Es gibt nichts tierischeres als ein reines Gewissen“: Dieser Satz (der die Logik aller Opfer- und Bekenntnisgemeinschaften in ihrer Wurzel trifft) bezeugt die Sensibilität und Aktualität der Autorin, die ihn geschrieben hat: Er rechtfertigt nicht nur den Nobel-Preis, der ihr jetzt zuerkannt wurde; er ist ein Schlüssel zur Erkenntnis der Wurzeln des Faschismus.
    War das nicht der Fehler der 68er: daß sie die Schrecken des Faschismus (die Schrecken, die der Versuch, Faschisten zu verstehen, auslöste) mit Hilfe der „unbedingten Verurteilung“ (der Empörung, die dann das „reine Gewissen“ erzeugte) geglaubt hat, verdrängen zu können?
    Rührt nicht die Psychologie-Feindschaft daher, daß die hier geforderte Reflexion die geliebten Feindbilder zersetzt (Reflexion hat mit dem, was die Nazis „Wehrkraftzersetzung“ nannten, zu tun)?
    Es gibt so etwas wie einen logischen Feind-Clinch: Sie kommen (wie das Subjekt vom Objekt) von einander nicht mehr los. (Ist nicht das Identitätsproblem ein Problem der Einheit des Objekts und der Welt wie auch ein Problem des Feindbildes, das diese Einheit garantiert; und lag darin, in seiner gemeinschafts- und identitätsstiftenden und zugleich moralisch enthemmenden Funktion, nicht die zentrale Bedeutung des Antisemitismus für den deutschen Nationalsozialismus?)
    Wer bei H.-E. Richter nicht mehr hinhören kann – und da dürften sich in der Tat alle „Obrigkeiten“ mit den „Starrköpfen aus der RAF“ einig sein – will eigentlich garnicht wissen, was wirklich passiert ist, er wills nur entweder verurteilen oder rechtfertigen. Und genau diese Diskussion, die diese Alternative unterläuft, wäre notwendig. Dazu, scheint mir, liegen erste Ansätze sowohl in dem Beitrag von Birgit Hogefeld als auch in den Anmerkungen Horst-Eberhard Richters vor. Daß diese Diskussion vielleicht sogar zu allererst mit der Vergangenheit, die nicht vergehen will, zu tun hat, damit, daß Auschwitz, je weiter wir uns in der Zeit von ihm entfernen, uns immer näher rückt, …
    Kann es sein, daß die symbiotische Feindbindung einen für beide Seiten gemeinsamen Grund hat: die Vergangenheit nicht an sich heranzulassen?
    Hängt nicht die besondere Verführbarkeit des deutschen Volkes (zu der das Werk Daniel Jonah Goldhagens erneut einschlägiges Beweismaterial vorgelegt hat) mit einem auch hier in diesen Prozeß hineinwirkenden Staatsverständnis zusammen, ein Staatsverständnis, das unter anderem auch die Transformation einer Angeklagten zum Feind (und damit den Rückfall in die Logik des Vorurteils, die die Zumutung, in die Angeklagte sich hineinzuversetzen, apriori abwehrt und diesen grundhumanen Akt mit dem Stichwort Sympathisant grundsätzlich diskriminiert) zu erklären vermag?
    Feind/Sklave/Ausländer/Ware? Ist nicht der Feind (das Objekt der reflexionslosen Verurteilung) das Grundmodell des Objektbegriffs?
    Man muß begreifen, daß die „unbedingte Verurteilung“ (auch die des Faschismus) nicht nur ein Instrument gegen den Faschismus ist, sondern ebensosehr ein Erbe des Faschismus: Sie ist die Basis und der Kristallisationskern der deutschen Staatsmetaphysik.
    Es gibt nicht nur eine Psychologie des Vorurteils, es gibt auch eine Logik des Vorurteils; und wäre deren Analyse nicht vielleicht sogar wichtiger?
    Ein Luxus-Zug, der auf den Abgrund zurast:
    – Die Rechten verriegeln und bewachen die Türen (daß ja niemand hereinkommt) und schmeißen alle raus, die nicht hineingehören,
    – die Politiker und die Medien bemalen die Fenster und geben die Bilder als die Außenwelt aus, die sie unsichtbar machen,
    – die Gerichte leugnen die Bewegung des Zuges, die Außenwelt und den Abgrund und verurteilen jeden, der daran erinnert.
    Aber hat eigentlich wirklich jemand daran geglaubt, daß es helfen würde, in dem mit wachsender Geschwindigkeit dahinrasenden Kapitalismus-Express das Personal zu erschießen; käme es nicht vielmehr darauf an, seine Technik, die Beschleunigungsmechanismen (die nur als gemeinsame Mechanismen des Zuges und seiner Außenwelt sich begreifen lassen) zu studieren, um den Sturz in den Abgrund vielleicht doch im letzten Augenblick noch zu verhindern?
    Weshalb die Paranoia die Welt falsch abbildet: Dient nicht das Feindbild auch dazu, das Handeln des Feindes zur Rechtfertigung des eigenen Handelns zu mißbrauchen, zugleich aber die Folgen dieses Mißbrauchs (ihre Reflexion) auszublenden?

    Eine sprachlogische Anmerkung

    Es fällt auf, daß die Vertreter der Bundesanwaltschaft im Hogefeld-Prozeß den Begriff Bekennerschreiben konsequent vermeiden und durch „Selbstbezichtigungsschreiben“ ersetzen; mittlerweile hat dieser Begriff auch in der Berichterstattung der Presse Eingang gefunden. Es dürfte nicht uninteressant sein, die etwas wirre Logik dieser Sprachkonstruktion ein wenig genauer zu betrachten:
    – Im normalen Sprachgebrauch zeichnet sich der Begriff der Bezichtung durch seinen direkten, nach außen gerichteten Objektbezug aus: Bezichtigt wird immer ein anderer (im Falle der Verdächtigung, der Denunziation, der Anklage); hinzu kommt, daß bei einer bloßen Bezichtigung die Tatbeteiligung noch nicht feststeht, daß sie problematisch und noch nachzuweisen ist. Der reflexive Gebrauch des Begriffs findet sich eigentlich nur im Falle des begründeten Zweifels an der Wahrheit einer solchen „Selbstbezichtigung“ (z.B. wenn jemand sich selbst bezichtigt, um einen anderen zu decken): Bezichtigt wird einer, der die Tat leugnet, und das gilt auch für die „Selbstbezichtigung“, die stellvertretend für den wirklichen Täter dessen Tatbeteiligung leugnet.
    – Sprachlogisch ist der Begriff der Selbstbezichtigung auf den Fall des Bekenntnisses nicht anwendbar, ein „Selbstbezichtigungsschreiben“ ist kein Bekennerschreiben. – Teil der staatsanwaltlichen Logik, eines strategischen, instrumentalisierten Gebrauchs der Logik, erzwungen durch den Kontext des politischen Prozesses (in der Nazizeit reichte die Denunziation, eines Beweises bedurfte es dann nicht mehr)?
    – Adressat eines Bekennerschreibens ist die Öffentlichkeit, Adressat einer Selbstbezichtigung ist die Anklagebehörde; so wird die Tat durch die Sprache entpolitisiert und unter die Strafrechtslogik subsumiert (die Subsumtion unter die Strafrechtslogik wird mit Hilfe des Reflexionsverbots schon ins Vorfeld der Ermittlung und Anklage verlegt);
    – wer sich zu einer Tat bekennt, will die Gründe der Tat öffentlich machen; durch den Begriff der Selbstbezichtigung werden diese Gründe (und d.h. in diesem Falle: der politische Hintergrund und die politischen Motive der Tat) schon im vorhinein ausgeblendet;
    – Selbstbezichtigung ist so etwas wie eine Selbst-Denunziation, der Begriff bezieht den diskriminierenden Ton, der den kriminellen Charakter der Handlung ins Licht rückt, mit ein, er unterstellt als Absicht der Täter, was der Ankläger nur heraushört; die „Selbstbezichtigung“ macht die Tat noch verwerflicher, weil der sich selbst Bezichtigende sich zu etwas Verabscheuungswürdigem bekennt, damit aber sich selbst aus der Gemeinschaft der Verurteilenden ausschließt (nicht die Tat, sondern das Sich-Ausschließen aus dieser Gemeinschaft ist der zu sanktionierende Akt); oder auch: das Bekenntnis zu einer Tat greift die Rechtsordnung an, indem es intendiert, einer kriminellen Handlung den Schein des Normalen, des Erlaubten, einer ungestraft öffentlich zu machenden Handlung zu geben versucht (ein anderer, der nicht der Täter ist, würde dagegen durch die Denunziation ein öffentliches Interesse, deren Grenzen mittlerweile ohnehin die Staatsanwaltschaft definiert, wahrnehmen);
    – liegt es nicht in der Konsequenz dieser Logik, daß am Ende das Konstrukt der „Nestbeschmutzung“ (als ein Akt kollektiver „Selbstbezichtigung“) zu einem Strafrechtstatbestand und damit kriminalisiert wird?
    Ensteht hier nicht so etwas wie eine Schuldautomatik, die in der Logik der Verurteilung gründet? Es kommt nicht darauf an, daß man kein Unrecht tut, sondern allein darauf, daß man sich nicht dazu bekennt, sondern es unbedingt verurteilt und verabscheut; ob die, die es verurteilen, es möglicherweise selber tun, ist fast schon unerheblich.

  • 12.09.1996

    Ist nicht das Konzil eine Metamorphose der Arena? An die Stelle des Märtyrers tritt der Confessor, und der Herr über beide ist der Caesar. Gehört dieser Prozeß nicht zur Neukonstituierung der Öffentlichkeit, der res publica, unter den Bedingungen des Imperium Romanum, des Caesarismus? Die Transformation des Märtyrers zum Confessor gehört zum Prozeß der Vergeistigung der Gewalt, der Identifikation mit dem Aggressor und dem Formelbekenntnis als Feigenblatt. Instrument dieser Transformation war das Dogma, die Trinitätslehre, die Orthodoxie (mit der Opfertheologie im Kern).
    Beachtenswert ist die merkwürdige Unsicherheit im Prozeß der Dogmenbildung, im Gebrauch der Begriffe Zeugung und Geburt (die zurückweist auf die Differenz im Naturbegriff, den Unterschied zwischen der lateinischen und der griechischen Version dieses Begriffs). Vgl. „gezeugt/geboren, nicht geschaffen“, „hat Fleisch angenommen aus dem Heiligen Geist und der Jungfrau Maria/durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria“, „aus dem Vater gezeugt/geboren vor aller Weltzeit“ (sh. Staats, S. 19ff).
    Nach dem griechischen Text ist der Sohn aus dem Vater vor aller Weltzeit gezeugt, und aus dem Heiligen Geist und Maria der Jungfrau geboren, nach dem lateinischen Text ist der Sohn vor aller Weltzeit aus dem Vater (der ihn auch gezeugt, nicht geschaffen hat) geboren, und durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria geboren.
    Hierzu eine Randbemerkung: Wenn Paulus (in der Apostelgeschichte) sagt, er sei ins römische Bürgerrecht „hineingeboren“, ist er dann nicht in dem gleichen Sinne Römer „von Natur“ wie nach 1 Kor 1114f „die Natur selbst (uns belehrt), daß, wenn ein Mann lange Haare trägt, es eine Schande für ihn ist, wenn aber eine Frau lange Haare trägt, es eine Ehre für sie ist“? Natur ist eine herrschaftsgeschichtlich definierte Kategorie.
    Hängt nicht auch das „filioque“ mit der Differenz der lateinischen gegenüber der griechischen Sprachlogik zusammen? Im Griechischen geht der Geist aus dem Vater hervor, während der Sohn (den der Vater gezeugt hat) aus dem Geist (und aus der Jungfrau Maria) geboren wird; im Lateinischen hat der Vater den Sohn gezeugt, geht der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohne hervor, wird der Sohn durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria geboren. Hat die lateinische Version den Heiligen Geist (der dem Sohn ebenso folgt, wie er ihm vorausgeht) endgültig vom Mutterschoß (vom Ort der Barmherzigkeit, aus dem die Propheten berufen und hervorgegangen sind) getrennt? Und erinnert nicht die lateinische Version eher noch (und auch logisch genauer) als der Mythos, auf den Freud sich bezieht, an den „Ödipus-Komplex“? Löst sich damit nicht die verwirrende Logik der lateinischen Version, in der Grund und Ursache ununterscheidbar werden, in der die zeitliche und die logische Folge nicht mehr sich auseinanderhalten lassen?
    Ist die Trinitätslehre der durchschlagene Knoten, und ist die Stelle, an der er durchschlagen wurde, nicht rekonstruierbar?
    Peri physeos: Steckt in diesem Generaltitel der vorsokratischen Philosophie nicht noch das Bewußtsein der männlichen Zeugung, des aktiven Hervorbringens im Ursprung des Objektivationsprozesses: Ist die Natur der Inhalt des Unzuchtsbechers?
    Wenn das Meer die Völkerwelt symbolisiert, welche Folgen hat das für das Verständnis der signifikanten Stellen, an denen das Meer erscheint?
    – Während es sonst heißt, daß Gott den Himmel und die Erde erschaffen (den Himmel aufgespannt, die Erde gegründet) hat, gibt es einige Stellen an denen es heißt, daß Gott den Himmel, die Erde und das Meer erschaffen hat. Und Jonas gibt sich (auf dem Schiff nach Tarschisch) als Hebräer zu erkennen, der „den Herrn (verehrt), den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht“ hat (haben dieses „Meer und das Trockene“ etwas mit der Völkerwelt und dem Petrus zu tun?).
    – Und was hat es mit dem Stein, der, einem großen Mühlstein gleich, ins Meer geworfen wird (Apk 1821) auf sich? Ist es der gleiche Stein, der nach Mt 186 denen, die „einen dieser Kleinen, die an mich glauben, zu Sünde verführen“, um den Hals gehängt und mit ihm in die Tiefe des Meeres versenkt werden sollte; und ist das Meer das gleiche, das am Ende nicht mehr sein wird (Apk 211)?
    Zur Goldhagen-Diskussion: Sollte man nicht ein Buch an seiner eigenen Intention messen, und nicht an dem, was einer von ihm erwartet? Sind nicht von außen herangetragene Erwartungen (wie auch das von außen an eine Sache herangetragene Maß, insbesondere der Inbegriff dieser Maße, das Inertialsystem) hinterhältig?
    Franz Rosenzweigs gelegentliche Bemerkung, daß seine Arbeit erst posthum Anerkennung finden werde, bezieht sich nicht nur auf seinen eigenen Tod, sondern nach Auschwitz auf den Untergang der Judenheit in Deutschland überhaupt. Und verstärkt sich nicht zusehends der Eindruck, daß Auschwitz, je weiter es in die Vergangenheit zurücksinkt, uns immer näher auf den Leib rückt?
    Nochmal zur Sprache der Medien („diesen Jahres“): Wie hängt die Adjektivierung des Demonstrativpronomens zusammen mit der Vertauschung von Genitiv und Dativ nach trotz, wegen, entsprechend? Und wie hängen beide damit zusammen, daß der Nominativ immer deutlicher als durch den Akkusativ vermittelt sich erweist (Grund der Umwandlung des Nomens ins Substantiv)? Läßt das Ganze aus der Neudefinition des Wahrheitsbegriffs (aus der Formel: Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand) sich ableiten, die der Konstituierung der subjektiven Formen der Anschauung (des Inertialsystems) sich verdankt, aus der neuen Urteilsform, die an den Objektbegriff sich anschließt?
    Wegen müßte den Genitiv, trotz und entsprechend müßten den Dativ nach sich ziehen. Die Vertauschung von Genitiv und Dativ verschiebt die Sprache ins Autoritäre. Gehorsam wird zum Dank gegen die höhere Einsicht der Welt, während der Eigenwille seiner Sprache beraubt wird. Die Medien-Grammatik ist die präventive, vorauseilende Einübung in die Grammatik des autoritären Denkens. Sie treibt den Menschen den Widerspruch aus und macht die Sprache zur Sprache der Unterwerfung, der im Voraus kapitulierenden Ohnmacht, der mit Hilfe dieser Grammatik eingebläut wird, daß sie gegen das, was ist, nichts mehr auszurichten vermag.
    Das Fernsehen ist das zum Leben erweckte Menetekel, das Zeichen an der Wand: Gezählt, gewogen und zu leicht befunden (anschaulich vor Augen geführt in dem vorgestern gesendeten Gespräch Bioleks mit Kohl).
    Ist nicht Kohl der lebendige Beweis dafür, daß der A…. keine Ohren hat? Ein überdeutlicher Hinweis zur Ortsbestimmung des Weltgeistes, der autistisch geworden ist und nicht mehr auf dem Pferde sitzt (ja, wo reiten sie denn, oder: wohin ist der Weltgeist gerutscht?).
    Das Subjekt war noch das dem Allgemeinbegriff (dem Prädikat) Unterworfene; beim Objekt liegt diese Unterwerfung dem Urteil voraus, sie wird schon durch die subjektiven Formen der Anschauung, die damit in die Urteilsform hineinregieren (und die Begriffe depotenzieren), geleistet.
    Im Kontext der polis wird die Natur von den Bürgern erzeugt; im Kontext des Imperium Romanum ist die Erzeugung der Natur abgeschlossen, wird die Natur zum Geborenen.
    Die heutige Astrologie ist deshalb so unsäglich, weil sie dem System, das zu negieren sie vorgibt, verhaftet bleibt: dem System der Selbsterhaltung, das im kopernikanischen System kosmische Qualität gewonnen hat.
    Der Begriff der Verurteilung markiert den Übergang von der Urteilslogik zum moralischen Urteil. Und dieser Übergang trägt alle Züge einer Katastrophe (die in der Geschichte vom Sündenfall im Wort von der Erkenntnis des Guten und Bösen sich anzeigt). Natur ist gefallene Natur, es gibt keine andere.

Adorno Aktueller Bezug Antijudaismus Antisemitismus Astrologie Auschwitz Banken Bekenntnislogik Benjamin Blut Buber Christentum Drewermann Einstein Empörung Faschismus Feindbildlogik Fernsehen Freud Geld Gemeinheit Gesellschaft Habermas Hegel Heidegger Heinsohn Hitler Hogefeld Horkheimer Inquisition Islam Justiz Kabbala Kant Kapitalismus Kohl Kopernikus Lachen Levinas Marx Mathematik Naturwissenschaft Newton Paranoia Patriarchat Philosophie Planck Rassismus Rosenzweig Selbstmitleid Sexismus Sexualmoral Sprache Theologie Tiere Verwaltung Wasser Wittgenstein Ästhetik Ökonomie